Syngenta in Pakistan: Wer klagt, wird entlassen

Nr. 41 –

«Wir haben noch nie gegen ein Arbeitsgesetz verstossen», sagt die Syngenta-Personalverantwortliche in Pakistan. Die Gerichtsakten und die Arbeiter in Karachi erzählen eine andere Geschichte.

  • Für den wachsenden pakistanischen Agrarmarkt produziert Syngenta in Karachi chemische Pflanzenschutzmittel: Abends kurz vor halb sechs Uhr verlassen die ersten Arbeiter die Fabrik.
  • Syngenta fühlt sich gemäss eigener Aussage «höchsten Standards im Bereich Ethik und Integrität verpflichtet». Arbeiter fahren der Mauer des Fabrikareals entlang nach Hause.
  • Syngenta hat in Pakistan noch nie einen Produktions­arbeiter freiwillig regulär angestellt: Im Gewerkschaftsbüro versammeln sich (noch) angestellte und entlassene Arbeiter.
  • Gewerkschafter Imran Ali: «Die Leute vom ­Arbeitsdepartement sind total korrupt.»
  • Leiharbeiter Waqas Khan wurde entlassen, als er seine Rechte einforderte.
  • Shahzad Aslam: «Wir arbeiten hart, aber Syngenta versucht, versprochene Leistungen zu drücken.»

Der letzte Abend: Einladung zu Hause bei Imran Ali. Vom Gewerkschaftsbüro im Stadtzentrum aus fahren wir im klapprigen Kleinwagen über eine Stunde durch das eindunkelnde Karachi. In Pakistans Megacity mit zwanzig Millionen Menschen, einer der grössten Städte der Welt, kommt man zu dieser Zeit nicht sehr weit. Die Strassen werden zwar nach und nach kleiner und ruhiger. Doch als das schwarze Auto vor einem unscheinbaren Wohngebäude hält, sind wir noch immer mitten in der Stadt.

Alis Frau hat fast ein Dutzend Gerichte gekocht. Sie und die beiden Töchter werden sich erst nach dem Essen zu uns in den Vorraum ihrer Zweizimmerwohnung setzen. Der ältere Sohn, ein Softwareentwickler, ist noch immer bei der Arbeit, der jüngere Sohn serviert. Im eigenen Haus wirkt Imran Ali plötzlich verlegen. Die drei Tage zuvor, an denen wir von früh bis spät im Umfeld seiner Gewerkschaftsbewegung unterwegs waren, strahlte der 55-Jährige mit dem weissen Bart, dem verschmitzten Lächeln und dem funkelnden Blick ein ganz anderes Selbstbewusstsein aus – und vor allem viel Klassenbewusstsein. Nun entschuldigt er sich dafür, dass die Familie in dieser kleinen Mietwohnung lebt. Dann sitzt er müde in seinem Sessel und schweigt.

Fragt er sich vielleicht, ob der Preis, den er für seinen Arbeitskampf bezahlt hat, nicht doch zu hoch ist?

Syngenta setzt auf Leiharbeiter

Imran Ali hätte wohl leicht ins Management der Pestizidfabrik in Karachi aufsteigen können, die ursprünglich dem Basler Konzern Ciba-Geigy gehörte, dann kurz Novartis und seit 2000 Syngenta. Die Grossunternehmen wandelten sich, fusionierten und spalteten Teile wieder ab. Nur Ali blieb, und er blieb bewusst ein Arbeiter. Nach seiner Anstellung 1982 arbeitete er zuerst als Maschinenschreiber, dann im Finanzwesen und schliesslich in der IT-Abteilung. «Ich habe immer gerne für die Schweizer gearbeitet», sagt er. Eine Zeit lang wurde auch seine gewerkschaftliche Arbeit respektiert.

In Pakistan sind Gewerkschaften nur auf Unternehmensebene erlaubt. Ab 1992 handelte Ali als gewählter Generalsekretär der Angestelltengewerkschaft alle zwei Jahre den Lohn und weitere Leistungen aus. Er ist ein guter Verhandler. Für 2009 erreichte er eine Steigerung des Grundlohns um achtzehn Prozent, zudem einen bedeutenden Produktionsbonus.

Aber davon profitierten immer nur die «permanenten Arbeiter». Das sind die mit einem ordentlichen Arbeitsvertrag. Das Problem: 2009 gab es lediglich noch 45 davon. Ihnen standen rund 200 Leih- und Temporärarbeiter gegenüber. Auch wenn diese oftmals schon jahrelang Vollzeit in der Fabrik gearbeitet hatten und dieselben Arbeiten verrichteten, verdienten sie immer nur den gesetzlichen Mindestlohn und mussten dafür 66 Stunden pro Woche in die Fabrik. Der Mindestlohn beträgt heute umgerechnet knapp 130 Franken pro Monat; ein regulärer Arbeiter erhält für eine Vierzigstundenwoche mit Zulagen und Boni rund doppelt so viel, mit den üblicherweise geleisteten Überstunden rund 500 Franken.

Die Syngenta-Fabrik steht mitten im ältesten und grössten Industriegebiet Pakistans. Auf den neunzehn Quadratkilometern der S.I.T.E. Industrial Area im Westen Karachis produzieren rund 2400 Fabriken so ziemlich alles, von Textilien über Stahl bis hin zu Medikamenten. Im Fall von Syngenta eben chemische Pflanzenschutzmittel für den wachsenden pakistanischen Agrarmarkt. Obwohl es mit einer Fläche von zwei bis drei Fussballfeldern eines der grössten Gelände des Industriegebiets belegt, deutet von aussen nichts auf Syngenta hin. Hinter den hohen, von Rasiermesserdraht gekrönten Mauern sind nur die Dächer der Produktions- und Lagerhallen sichtbar und in einer Ecke ein höheres, modernes, aber langsam zerfallendes Gebäude.

Kurz vor halb sechs Uhr abends kommen die ersten Arbeiter durch das hellblaue Tor nach draussen. Frauen arbeiten nicht in der Produktion: Zu gefährlich, heisst es. Die Arbeiter erkennen ihren Gewerkschaftssekretär, der das Fabrikgelände nicht mehr betreten darf. Bald ist Imran Ali umringt von vielleicht dreissig frisch geduschten Männern. Darunter ist Shahzad Aslam, dunkle, kurze Haare, glatt rasiert, 35 Jahre, Anlagenbediener. «Wir mögen unsere Arbeit eigentlich», sagt er. Seine Kollegen um ihn herum nicken. «Aber das Management nimmt unsere Anliegen nicht ernst», fährt er fort. «Die Produktionsmenge steigt von Tag zu Tag, unser Lohn aber nicht. Wir arbeiten hart, aber Syngenta versucht immer wieder, versprochene Leistungen zu drücken, etwa bei der Übernahme von Krankheitskosten.»

Aslam begann 1999, als Tagelöhner in der Fabrik zu arbeiten, zum damaligen Mindestlohn von knapp achtzig Franken im Monat. Jahrelang bediente er die Anlagen, die die verschiedenen Giftstoffe zum verkaufsfertigen Pestizid zusammenmischen – ohne irgendein offizielles Dokument, ohne reguläres Sicherheitstraining. Seit November 2013 ist Aslam ein «permanenter» Syngenta-Angestellter. «Ich bekomme jetzt einen besseren Lohn und andere Leistungen», sagt er. «Aber einige der vereinbarten Nachzahlungen stehen immer noch aus, genauso wie der Vertrag.»

Syngenta hat in Pakistan noch nie einen Produktionsarbeiter freiwillig regulär angestellt. Die letzte Festanstellung in der Fabrik soll es 1986 unter Ciba-Geigy gegeben haben. Dass Aslam und 51 weitere Arbeiter heute als Angestellte anerkannt sind, ist die Folge eines zermürbenden Arbeitskampfs und langwieriger Gerichtsverfahren, die sich über vier Jahre hinzogen und zu drei positiven Gerichtsurteilen führten. Imran Ali hat den Kampf geführt und gewonnen.

Am 22. Dezember 2010 kündigte Syngenta dem langjährigen Mitarbeiter Imran Ali. Das war vier Tage nach dem ersten der drei Gerichtsurteile, die Syngenta zur Festanstellung der 52 Kollegen brachten. Der Entlassungsbrief gibt als Grund an, dass im November ein neues «Zielbetriebsmodell» eingeführt und deswegen Alis Stelle aufgelöst worden sei. Was am Brief auffällt, ist nicht nur das Fehlen jeglicher Floskeln des Bedauerns oder der Dankbarkeit nach immerhin 28 Jahren tadelloser Arbeit. Merkwürdig ist auch, dass Syngenta eine fristlose Entlassung aussprach und diese am folgenden Tag in Zeitungsannoncen publik machte.

So kam das zuständige Arbeitsgericht, die National Industrial Relations Commission (NIRC), nach zweieinhalbjährigem Verfahren zum «klaren Schluss», dass Ali wegen seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit entlassen worden sei. Die Kündigung sei deshalb nicht rechtsgültig. Syngenta müsse Ali weiterhin als Angestellten und als Gewerkschaftssekretär akzeptieren, auch wenn das Unternehmen gegen das Urteil Berufung einlegt. Tatsächlich zog Syngenta den Fall in alter Manier weiter. Und der Basler Multi kommt bis heute der Verfügung nicht nach: Ali erhielt nach seiner Kündigung nur noch acht Monatslöhne ausbezahlt.

Darum der Umzug in die kleine Mietwohnung, die Alis ältester Sohn finanziert. Darum die Momente des Zweifels, ob das Geld reicht, um die Schulen seiner Kinder zu finanzieren. Denn eine staatliche soziale Absicherung gibt es in Pakistan nicht.

Terrorbekämpfung auf dem Fabrikgelände

Eines aber hat Syngenta trotz grosser Anstrengung bis heute nicht geschafft, nämlich Ali von seinem Gewerkschaftsposten zu entfernen. Trotz Einschüchterungsversuchen: Nach der Entlassung kamen eine Woche lang fast jeden Tag rund zwanzig Kämpfer der Rangers, einer paramilitärischen Terrorbekämpfungseinheit des Innenministeriums, auf das Fabrikgelände, um mögliche Proteste im Keim zu ersticken. Trotz des Versuchs, die Arbeiterschaft zu spalten und eine konkurrierende, dank finanzieller Zuwendungen dem Management hörige «gelbe Gewerkschaft» zu etablieren. Trotz des Anbietens einer Abfindung, wenn Ali die Klagen fallen lässt, und trotz Drohungen, wenn er sie nicht fallen lässt.

Ali liess sich nicht beirren. Im Juni 2014 reichte er bei der NIRC eine weitere Regularisierungsklage ein, diesmal für 25 Leiharbeiter, die seit 2012 ununterbrochen in der Fabrik arbeiteten. Wenige Tage später entliess Syngenta praktisch alle Leiharbeiter, um weitere Klagen zu verhindern. Es traf mindestens hundert Menschen, darunter die Kläger. Statt die Produktion direkt durch rechtlose Billigarbeiter erledigen zu lassen, lagerte Syngenta sie zu einem grossen Teil an andere Unternehmen aus, wo wiederum rechtlose Billigarbeiter beschäftigt sind.

Waqas Khan ist einer der 25 Kläger und einer von 9, die Ende Juni dieses Jahres ein positives Urteil entgegennehmen konnten (die andern 16 Fälle sind immer noch hängig). Demnach muss Syngenta die Arbeiter regularisieren und vor allem auch wieder bezahlen. Doch das nützt dem 22-jährigen Khan wenig: Syngenta ignoriert das Urteil; der wie ein Student wirkende Produktionsarbeiter, der mit dem Syngenta-Job Eltern und Geschwister unterstützte, ist weiterhin ohne Einkommen. «Es ist für uns nun auch extrem schwierig, eine andere Stelle zu finden», sagt Khan. «Denn alle Arbeitgeber wissen, dass wir vor Gericht gegangen sind.»

Das höhere moderne und zerfallende Gebäude in der Ecke des Fabrikgeländes wurde extra für das Syngenta-Management gebaut. Nach der Fertigstellung beschloss dieses, die Büros nun doch – je nach Verkehr – eine halbe bis ganze Stunde entfernt an bester Adresse im Stadtzentrum anzusiedeln.

Dort, auf einem mittleren Stockwerk eines glänzenden Hochhauses, scheint die Mühsal der Produktion weit weg zu sein. Smarte Marketing- und VerkaufsexpertInnen konzentrieren sich auf den Absatz von Saatgut und Pflanzenschutzmitteln, die zum Teil in Karachi produziert, zum Teil aus den Syngenta-Fabriken Indiens importiert werden, etwa das hochgiftige Pestizid Gramoxone (Paraquat), das in Europa und den USA seit Jahren verboten ist.

Der Chef von Syngenta Pakistan Limited sitzt in seinem Büro und strahlt übers ganze Gesicht. «In den letzten zehn Jahren sind wir jedes Jahr etwa fünfzehn Prozent gewachsen», sagt Moazzam Sheik. «Im Pflanzenschutz sind wir die Nummer eins, beim Saatgut die Nummer drei.» Letztes Jahr betrug der Umsatz 100 Millionen US-Dollar. Das Ziel bis 2020 lautet: 300 Millionen. Das weiss und erzählt auch jeder Arbeiter. Im Managementbüro wurde die magische Zahl riesig und bunt auf eine Wand gemalt.

Sheiks Strahlen erlischt, als die Arbeitsrechte zur Sprache kommen. Er gibt das Wort an die Personalchefin Rizwana Mujeeb weiter, und diese sagt, ohne mit der Wimper zu zucken: «Wir haben noch nie gegen ein Arbeitsgesetz verstossen.»

Das Arbeitsgesetz scheint recht klar zu sein: Wer 90 Tage am Stück oder 180 Tage innerhalb eines Jahres bei einem Unternehmen beschäftigt ist, muss regularisiert werden. Der oberste Gerichtshof Pakistans äusserte sich vor zwei Jahren in einem Grundsatzurteil noch klarer: Alle LeiharbeiterInnen, die auf dem Gelände eines Unternehmens arbeiten und direkt von diesem Unternehmen Instruktionen erhalten, gälten als Angestellte dieses Unternehmens. Die Syngenta-Personalchefin aber meint: «Das Gesetz ist nicht so klar. Deswegen gehen wir vor Gericht. Die Gerichte wissen am besten, wie das Gesetz zu interpretieren ist.»

Kurz vor halb zehn Uhr morgens stehen viele ArbeiterInnen vor dem Arbeitsgericht NIRC und warten auf die Verhandlung ihres Falls. Drinnen sitzt im hinteren Teil eines von Neonröhren kühl erhellten weissen Raums ein kleines Publikum. An den Seiten bringen sich die Anwälte in Bereitschaft. Schuhe, Anzug, Haargelmenge verraten meist schon, ob ein Anwalt von einer Gewerkschaft oder einem Unternehmen bezahlt wird. Der bärtige Richter betritt den Raum, setzt sich an den zentralen, mit Türmen von Gerichtsakten verstellten Schreibtisch und legt los. Seine Worte dringen kaum durch die Gerichtsakten und das Surren der auf Hochtouren laufenden Ventilatoren.

Richter Qammaruddin Bohra wird innerhalb von zwei Stunden vierzig Fälle behandeln. Für jeden Fall stellt sich auf der einen Seite des Schreibtischs der Unternehmensanwalt auf, auf der anderen der Gewerkschaftsanwalt, zuweilen sekundiert von Arbeitern. Nur ein Fall betrifft ein ausländisches Unternehmen: Es geht um die Regularisierung von 72 LeiharbeiterInnen bei Chevron. Ein junger Anwalt der vom US-Ölkonzern beauftragten Kanzlei erklärt, dass der Anwalt, der den Fall eigentlich betreut, gerade in einem anderen Gericht auftreten müsse. Der Richter rügt den Anwalt und vertagt den Fall, der bereits 2009 eingereicht worden war, um über drei Wochen.

An diesem Morgen wird nur ein Urteil gesprochen, die 39 anderen Fälle werden vertagt. Für viele ArbeiterInnen bedeutet das, dass sie noch länger keinen Lohn erhalten. Für die Unternehmen ist es hingegen ein Vorteil, wenn die Fälle möglichst lange im Dickicht des überforderten Gerichtssystems hängen bleiben.

Mittags nach der Verhandlung sitzt Richter Borah in seinem Büro gleich neben dem Gerichtsraum, bestellt Tee und sagt: «An normalen Tagen sind es nicht nur vierzig, sondern siebzig, manchmal hundert Fälle.» Früher habe das Gericht pro Tag ein, zwei neue Fälle erhalten, heute seien es über zehn. «Ich allein habe derzeit über 3000 unerledigte Fälle auf dem Tisch.»

«Wir haben das beste Arbeitsgesetz der Welt»

Unweit des Gerichts stehen die Gebäude des Arbeitsdepartements. Dieses ist für die Einhaltung der Arbeitsgesetze in der Provinz Sindh zuständig, von der Karachi die Hauptstadt ist. Für etwa vierzig Millionen EinwohnerInnen, offiziell 8564 Fabriken sowie 17 311 Läden und Dienstleistungsbetriebe gibt es gerade einmal 120 ArbeitsinspektorInnen. Die einstöckigen Gebäude sind in einem erbärmlichen Zustand, die Blechdächer durchgerostet. Eine Ausnahme ist das Büro von Kodirektor Gulfam Nabi. Er ist nicht nur für die Inspektionen in Südkarachi zuständig, sondern auch für die Umsetzung von ein paar Programmen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Diese hat ihm dafür zwei Computer hingestellt – die einzigen im ganzen Departement. «Wir haben das beste Arbeitsgesetz der Welt», sagt Nabi. Das ist kein Witz – selbst kritischere Geister bestätigten, dass Pakistan gute Gesetze hat. «Aber die Implementierung ist ein Problem», räumt auch Nabi ein. «Es gibt zu wenige und kaum ausgebildete Inspektoren.» Denn oftmals werde der Job an Verwandte von MinisterInnen vergeben.

Für Gewerkschafter Imran Ali ist das Bekenntnis des Beamten nicht einmal die halbe Wahrheit. «Die Leute vom Arbeitsdepartement sind total korrupt», sagt er, als wir im schwarzen Auto zum Gewerkschaftsbüro fahren. «Es ist bekannt, dass sie nie in die Fabriken gehen, dass sie Geschenke erhalten, bevor sie die Formulare unterschreiben.»

Das Büro der Syngenta-Angestelltengewerkschaft befindet sich in einem von zwei Räumen eines Anwaltsbüros. Dieses gehört Abdul Ghaffar, der all die Syngenta-Arbeiter, auch Ali, vor den Gerichten vertritt. Abends, nach Arbeitsende bis in die Nacht hinein, ist das kahle, neonbeleuchtete Zimmer ein Treffpunkt verschiedenster aktueller, pensionierter und entlassener Arbeiter aus ganz Karachi. Manche kommen auf einen Schwatz und einen Tee vorbei, andere mit konkreten Anliegen. Hier tauscht sich Ali regelmässig mit Gewerkschaftsvertretern anderer Unternehmen aus. Denn erstens ist er auch noch Präsident des Gewerkschaftsverbands Federation of Chemical, Energy, Mines and General Workers Union (PCEM). Und zweitens gibt es in den meisten Grossunternehmen ähnliche Probleme, etwa dass seit Jahrzehnten niemand mehr regulär angestellt wird. Deshalb begann Ali, seine Erfahrung zur Regularisierung langjähriger Leiharbeiter zu teilen. Seit seiner Entlassung nutzt er die freie Zeit, um diese Beratung zu intensivieren.

Heute Abend ist Muhammad Osman, der Gewerkschaftssekretär von K-Electric, anwesend. Das riesige Unternehmen ist für die Produktion und Verteilung des Stroms für die Millionen von Haushalten und Unternehmen in Karachi zuständig. Nach der Privatisierung 2005 wurden die damals 12 000 Angestellten rasch auf 4000 reduziert. Dafür greift das Unternehmen nun auf 7000 LeiharbeiterInnen zurück. «Wir waren bei staatlichen Stellen und etlichen Gewerkschaftsföderationen, um Hilfe gegen diese Entwicklung zu erhalten», sagt Osman. «Aber niemand interessierte sich für die Leiharbeiter.» Osman stiess erst bei Alis PCEM auf offene Ohren; dieser begleitet nun die K-Electric-Gewerkschaft beim Versuch, die LeiharbeiterInnen zu regularisieren. Nun hat das Arbeitsgericht 7000 neue Fälle auf dem Tisch.

Später taucht der Gewerkschaftssekretär von Chevron auf. Der Ölkonzern beschäftigt in Karachi 400 ArbeiterInnen – aber nur gerade 4 seien regulär angestellt. Die Regularisierungsklage von 72 LeiharbeiterInnen wurde an diesem Morgen wie erwähnt wieder einmal vertagt. Von ähnlichen Erfahrungen berichten die Vertreter anderer Unternehmensgewerkschaften – Shell, Pfizer, Sanofi.

Die Erfahrungen decken sich mit der Einschätzung des namhaften Wissenschaftlers und Aktivisten Karamat Ali. «Es findet eine Informalisierung des formalen Sektors statt», sagt der Direktor des Pakistan Institute of Labour Education and Research (Piler). Seit den achtziger Jahren sei ein staatlich gefördertes «System von Leiharbeitern» entstanden: Besonders die Militärregierungen hätten ein Interesse daran gehabt, die potenziell oppositionelle Gewerkschaftsbewegung zu schwächen. Hinzu kamen die Kredite des Internationalen Währungsfonds, die es nur zum Preis von Deregulierungen und Privatisierungen gab. Dabei sei die Arbeiterschaft schon immer nur schwach organisiert gewesen, vor allem ausserhalb der Staatsbetriebe.

Hoffnung auf Besserung sieht Piler-Direktor Ali – wie im Übrigen auch ILO-Landesdirektor Francesco d’Ovidio – im Schema allgemeiner Zollpräferenzen der EU: Seit Januar 2014 ist Pakistan von Einfuhrzöllen in Europa befreit, wovon der Exportsektor stark profitiert. Mittelfristig muss Pakistan dafür allerdings die wichtigsten Uno- und ILO-Konventionen umsetzen, was die Regierung Anfang 2016 zu belegen hat.

Dass multinationale Unternehmen auch eine positive Rolle spielen können, beweist die Walt Disney Company: Seit April 2014 verzichtet der US-Unterhaltungskonzern auf Textilimporte aus Pakistan. In der Begründung an die Regierung hiess es, der Konzern würde seine Entscheidung überdenken, wenn Pakistan an einem ILO-Programm zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen teilnähme.

Syngenta ist nicht Disney, auch wenn sich der Konzern gemäss einer Stellungnahme aus Basel «höchsten Standards im Bereich Ethik und Integrität verpflichtet» fühlt. Zur Entlassung von Imran Ali heisst es dort: «Syngenta Pakistan hat gegen keine Anweisung des Gerichts verstossen. Die Gehaltszahlungen an Imran Ali wurden eingestellt, nachdem der Beschluss der NIRC, die die Wiedereinstellung von Herrn Imran Ali forderte, durch den Obersten Gerichtshof ausgesetzt worden war.»

Nun war der Fall zwar erst beim Obergericht der Provinz Sindh, doch dieses hat das Gegenteil von dem entschieden, was Syngenta behauptet: In der Verfügung vom 17. Mai 2011 steht, dass das Gericht die Einschätzung der NIRC teilt und Syngenta auffordert, den ausstehenden Lohn innerhalb einer Woche zu bezahlen.

Trotzdem: Imran Ali hat im Kampf für die Arbeiterrechte und die Einigung der Gewerkschaftsbewegung einiges erreicht – auch wenn man ihm das am letzten Abend in seiner Wohnung nicht ansieht. Nach dem Essen ist der älteste Sohn noch immer nicht hier. «Überstunden sind gut bezahlt», murmelt Ali. Dann setzen sich seine Frau und die Kinder zu uns, und langsam blüht er wieder auf. Die ältere Tochter berichtet vom Schock, als der Vater in der besonders stressigen Zeit nach seiner Entlassung einen Herzinfarkt erlitt; wie er sich dagegen wehrte, ein Elektrokardiogramm anfertigen zu lassen, weil er die Familie finanziell nicht noch mehr belasten wollte. Schliesslich sagt sie, sie rechne dem Vater hoch an, dass er trotz der finanziellen Sorgen immer wollte, dass sie ihr Studium der Medizintechnik fortführe. Sie verdient nun selbst etwas, indem sie StudienanfängerInnen Nachhilfestunden erteilt.

Imran Alis Zweifel scheinen auf einmal verflogen. Sein verschmitztes Lachen und der funkelnde Blick sind zurück. Gleich ist es Mitternacht. Morgen gibt es wieder viel zu tun.

Nachtrag vom 14. Januar 2016 : Syngenta Pakistan weiterhin gegen Arbeitsrechte

Der Basler Pflanzenschutz- und Saatgutkonzern Syngenta ist zwar angeschlagen und könnte gar an ein chinesisches Staatsunternehmen verscherbelt werden. Aber der Tochtergesellschaft in Pakistan geht es überaus gut; im letzten Jahr konnte sie den Umsatz erneut steigern. Trotzdem weigert sich Syngenta in Karachi weiterhin, langjährige Leiharbeiter fest anzustellen, obwohl Arbeitsgesetze und mehrere Gerichtsurteile dies fordern.

Besonders viel Aufwand treibt Syngenta im Fall des langjährigen Mitarbeiters Imran Ali. Als Generalsekretär der Syngenta-Angestelltengewerkschaft hatte Ali über ein Dutzend Gerichtsverfahren wegen Verletzung von Arbeitsrechten gegen das Unternehmen auf den Weg gebracht – und immer recht bekommen. Doch im Dezember 2010 entliess Syngenta Ali fristlos. Dieser klagte erfolgreich dagegen, worauf Syngenta das Urteil anfocht. Im Oktober 2015 bestätigte das höchste Arbeitsgericht, dass die Entlassung wegen Alis gewerkschaftlicher Tätigkeit geschehen und deshalb rechtswidrig sei. Syngenta zieht den Fall erneut weiter.

So kann sich das Management Zeit kaufen und darauf hoffen, dass Ali und seine Gewerkschaft die Verfahrenskosten irgendwann nicht mehr tragen können. Diese schlagen in der Tat immer mehr zu Buche: Da es im nun anstehenden Prozess vor dem Obergericht der Provinz Sindh auch um komplexe Verfassungsfragen gehen wird, muss sich Imran Ali von einem Verfassungsanwalt vertreten lassen. Ein solcher Spezialist dürfte in diesem Fall rund 20 000 Franken kosten. Weil die pakistanischen Gewerkschaften notorisch unterfinanziert sind, ist Ali auf internationale Solidarität angewiesen – nicht zuletzt durch den schweizerischen Solifonds. Ein regulärer Syngenta-Arbeiter erhält bestenfalls 500 Franken pro Monat. Und Syngenta weigert sich weiterhin, gerichtlichen Verfügungen nachzukommen, nach denen Ali zwingend den Lohn erhalten müsste.

Markus Spörndli