Alain Badiou: «Politik ist dasjenige, was ausserhalb des Staates stattfindet»

Nr. 42 –

Der französische Philosoph Alain Badiou glaubt an einen neuen, leidenschaftlichen Kommunismus, der eine egalitäre Weltgemeinschaft anstrebt. Er spricht über die Sehnsucht nach Ruhe und über die Revolution – und er erklärt, warum er nicht wählt.

«Es ist wichtig, eine Treue zu den grossen Ideen zu beweisen. Die Emanzipation im Sinn des Kommunismus ist ein konkreter, aber letztlich ­unabschliessbarer Prozess»: Alain Badiou auf Besuch in Zürich.

WOZ: Alain Badiou, Sie sind überzeugter Marxist. Haben Sie nie am Kommunismus gezweifelt? Auch nicht nach 1989?
Alain Badiou: Krisen in meinem Leben gab es nur bis zum Mai 1968. Zu diesem Zeitpunkt war ich 31 Jahre alt und hatte durchaus Momente des Zögerns, des Zweifelns und der Leidenschaftslosigkeit erlebt. Aber dann kam der Mai 1968.

Und änderte alles?
So ist es. Mit der 68er-Bewegung eröffnete sich für mich die Möglichkeit, die Politik mit Menschen zu diskutieren und zu organisieren, die komplett anders als ich waren: Fabrikarbeiter aus Marokko und Afrika, von denen viele weder lesen noch schreiben konnten. Menschen also, die völlig fern von mir waren, der ich eine Eliteuni absolviert hatte und einem bildungsbürgerlichen Elternhaus entstammte. Und dennoch konnte ich zusammen mit diesen Menschen, die ganz anders als ich sozialisiert worden waren, etwas organisieren. Der Mai 1968 war für mich eine Erweckung. Seither bin ich überzeugt, dass Universalität möglich ist – gerade angesichts der Unterschiedlichkeit der Menschen. Eine egalitäre Weltgemeinschaft muss also möglich sein.

Auch im heutigen Europa, das vor gewaltigen Herausforderungen steht – nicht zuletzt angesichts der Flüchtlingskrise?
Ich bin immer wieder schockiert, wenn Europäer von einer Flüchtlingskrise sprechen. Die Menschen, die gegenwärtig zu uns kommen, die sind in der Krise, nicht wir Europäer. Und wenn man die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak als gewaltiges Problem beschreibt, dann muss man sich die globale Situation vor Augen halten: Wir leben in einer Welt, in der das Proletariat nomadisch geworden ist. In Frankreich hatten wir bereits eine Million Portugiesen und wohl ebenso viele Algerier, die auf der Suche nach Arbeit waren. Seit einigen Jahren kommen nun Menschen aus Eritrea und anderen afrikanischen Ländern zu uns. Wenn man angesichts dieser Migrationsbewegungen bei einer Zahl von vielleicht 400 000 Flüchtlingen von einem Problem spricht, dann ist das reine Ideologie. Nicht zuletzt muss man sich immer vor Augen führen, dass der Westen wesentlich mitverantwortlich für die Situation im Nahen Osten ist. Man denke nur an die Zerstörung des Irak durch die Amerikaner.

Aber letztlich ist es doch so, dass Europa heute nur dann Verantwortung übernimmt und Zugeständnisse macht, wenn damit die eigenen Privilegien nicht gefährdet werden.
Das ist zurzeit so. Man kann aber schon heute etwas tun, etwa dafür sorgen, dass die Flüchtlinge einen minimalen Schutz erhalten. Das ist unsere Pflicht. Zudem kann man den Europäern die Realitäten der Menschen aufzeigen, die zu uns kommen. Das hilft immer im Kampf gegen ideologische Phantasmen. Nicht zuletzt muss man gegen den Nationalismus kämpfen, der jedwede Universalität verhindert. Selbstverständlich haben Sie aber recht, wenn Sie sagen, dass wir in einem Kontext leben, der nicht gerade zuträglich ist für ein Ereignis, wie ich es im Mai 1968 miterlebte – als es eine Öffnung gab und ein fundamentaler Wandel im Sinn des Universalismus möglich wurde.

Unsere Welt ist global, aber geprägt von Abschottung und Segregation.
Heute gibt es einen starken Kult der Privatinteressen, eine Sehnsucht nach dem ruhigen Leben und eine übertriebene Angst vor jeglichen Risiken. Wir leben in einer konservativen Welt – auch wenn man nicht genau weiss, was eigentlich konserviert werden soll. Ausser dem Kapitalismus und den kleinen Errungenschaften des angenehmen Lebens. Letztlich ist es gerade der Wunsch nach Ruhe, Sicherheit und Wohlstand, der schwerwiegende Folgen für die Politik hat, die meiner Meinung nach einen starken Bruch nötig hätte.

Die Erfahrungen der vergangenen 25 Jahre sprechen gegen einen solchen Bruch.
Das stimmt. Wenn es keine echten Ereignisse wie den Mai 1968 gibt, die man nicht vorhersehen und auch nicht erzwingen kann, ist es sehr schwierig, eine politische Subjektivität im Sinn des Kommunismus salonfähig zu machen. Dennoch gibt es mindestens zwei Dinge, die man heute tun kann. Es gibt einerseits die Ebene der Ideen: Man kann sich an einer Rehabilitierung des Kommunismus beteiligen und politische Ziele im Sinn des Marxismus neu formulieren.

Das wäre die Ebene der Theorie.
Genau. Und dann gibt es die Praxis. Heute gibt es zahlreiche Organisationen, die sich für Migrantinnen, die Sans-Papiers oder für die Ziele des Feminismus einsetzen. Solche Organisationen sind sehr wichtig, aber sie betreiben noch nicht das, was ich Politik nenne. Zurzeit gibt es eine Praxis, die noch nicht Politik ist, und eine Theorie, die gegenwärtig über der Politik steht. Was es also bräuchte, wäre eine Annäherung zwischen Theorie und Praxis, indem man die Vermittlung der kommunistischen Idee organisiert – und so Politik möglich macht.

Was ist für Sie Politik?
Politik ist dasjenige, was ausserhalb des Staates stattfindet, der für mich nichts anderes als ein technokratisches Konstrukt ist. Deshalb bin ich auch ganz entschieden dafür, nicht an Wahlen teilzunehmen. Wahlen sind etwas für die anderen. Einen schlagenden Beweis dafür, wie überflüssig Wahlen sind, hat man zuletzt in Griechenland erlebt: Die Neuwahlen in diesem September haben zu keiner wirklichen Änderung geführt. Ich will damit nicht sagen, dass Alexis Tsipras ein schlechter Politiker ist. Das Problem ist strukturell: In der gegenwärtigen Form der Demokratie gibt es keine Möglichkeit zur radikalen Veränderung, die angesichts der sogenannten Schuldenkrise nötig wäre.

Das ist aber kein exklusives Problem von Griechenland.
Nein, die Unmöglichkeit einer tatsächlichen Veränderung können wir in allen Demokratien beobachten. Auch in Frankreich, wo jede sozialistische Regierung genau das tut, was eine reaktionäre auch machen würde.

Was also tun, um dieser Malaise zu entkommen?
Für einen Ausweg müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Wir brauchen den Staat, die Massenbewegungen und politische Subjektivität. Ein Beispiel, was ich damit meine: Wenn wir etwas für die Sans-Papiers tun wollen, dann müssen wir die Beziehung zum Staat radikal verändern. Wir müssen eine wirkliche Diskussion mit dem Staat führen. Aber eine solche Diskussion ist nicht möglich, wenn wir dem Staat angehören. Wir müssen ausserhalb bleiben. Dies gelingt mithilfe von Massenbewegungen, die Druck ausüben und es möglich machen, eine Diskussion mit dem Staat zu führen.

Wie führt man eine Diskussion mit dem Staat?
Damit habe ich zahlreiche Erfahrungen im Rahmen der «Organisation politique» gemacht, die 1985 aus einer marxistisch-leninistischen Gruppierung hervorgegangen war und sich für papierlose Fabrikarbeiter starkmachte: Immer wenn wir von der Organisation politique zu einer Regierungsstelle gingen, um uns für die papierlosen Arbeiter einzusetzen, fragten uns die staatlichen Vertreter, wer wir seien. Wir sagten: «Wir sind eine Organisation für Menschen.» Damit konnten die Regierungsvertreter aber nichts anfangen.

Weil die Organisation politique keine Partei war, die sich an Wahlen beteiligte, aber auch keine staatliche Organisation?
Genau. Für die staatlichen Vertreter waren wir niemand. Irgendwann wechselten wir daher unsere Strategie und sagten: «Wir sind niemand.» Und trotzdem waren wir da. Wenn man es theoretisch formuliert, könnte man sagen, dass wir unsere Existenz ausserhalb des Staates mit einer konkreten Negation affirmierten. Wir waren niemand, aber wir waren da. Und genau damit erschufen wir eine reale Diskussion mit dem Staat, weil wir deutlich machten, dass wir ausserhalb stehen und uns für einen radikalen Wandel einsetzen wollen – ohne Politiker zu sein. Das ist denn auch die entscheidende Forderung für jede politische Aktion: Ausserhalb des Staates bleiben. Die beste Strategie, kein Politiker zu werden, ist übrigens zu akzeptieren, dass man niemand ist (lacht).

Zwischen diesen Beispielen für konkrete Praxis und Ihrer Idee einer universellen Weltordnung im Sinn des Kommunismus gibt es einen Graben, der sich nicht ohne weiteres überwinden lässt.
Das ist richtig. In den letzten beiden Jahrhunderten war Revolution der Name für das, was man für eine neue Ordnung braucht. Heute ist Revolution ein seltsamer Name und zudem ein negatives Konzept, weil es sich in einer Rebellion und einem Kampf gegen etwas erschöpft, also rein negativ ist. Deshalb lehne ich sie in dieser Form ab. Ich bin davon überzeugt, dass der konkreten Negation als wichtigem Motor des politischen Wandels eine Affirmation vorausgehen muss. Für eine wirkliche Öffnung der Situation braucht es eine positive Idee. Die Negation, etwa die Ablehnung der gegenwärtigen Zustände, genügt dafür nicht. Ausserdem verkürzt die Revolution die drei notwendigen Bedingungen auf zwei: auf die Revolution als Massenbewegung, die den Staat zu liquidieren versucht. Gelingt dies, gibt es nur noch eine Bedingung: die ewige Revolution. Für eine universelle Ordnung im Sinn des Kommunismus brauchen wir aber die drei erwähnten Bedingungen.

Wirklich?
Ja, die Verkürzung oder Ausschaltung von Bedingungen war ja auch der Fehler der bisherigen sozialistischen Staaten, die allesamt als Parteistaaten erstarrten, also die drei Bedingungen auf eine reduzierten – und deshalb schliesslich implodierten. Oder wie Mao sagte: Die kommunistische Bewegung kann nicht der sozialistische Staat sein, denn dieser ist in gewissem Sinn immer konservativ. Deshalb war der Kommunismus für Mao auch nicht ohne eine Bewegung möglich. Politik findet immer in der dialektischen Spannung zwischen Staat und Massenbewegung statt. Daher kann man den Stalinismus auch als Zerstörung aller Politik beschreiben.

Warum spielt Ökonomie in Ihrem Denken keine Rolle?
Ich interessiere mich für Ökonomie. Aber für das Denken ist das Thema nicht besonders ergiebig, da eigentlich allzu durchsichtig ist, was heute im Bereich der Ökonomie geschieht. Für eine Analyse genügt es, den Untertitel von Marx’ «Kapital» wörtlich zu nehmen: «Kritik der politischen Ökonomie». Das ist das Programm des Kommunismus: Es geht darum, die Ökonomie vom Standpunkt einer kommunistischen Politik aus zu kritisieren – und mit dieser Politik eine neue wirtschaftliche Ordnung herbeizuführen. Und nicht umgekehrt: von der Ökonomie aus eine Politik zu erschaffen. Denn das ist ja bereits das Programm des Kapitalismus.

Was geschieht, wenn man diesen Weg beschreitet und eine neue Ökonomie erschafft?
Man hebt das Privateigentum auf, das sich heute in den Händen sehr weniger befindet. Dabei müsste man dafür sorgen, dass es tatsächlich Eigentum des Volkes wird. Das war einer der grossen Fehler der sozialistischen Staaten: Sie haben das Privateigentum verstaatlicht, ohne wirkliche Teilhabe des Volkes herzustellen.

Wie hätte man es richtig machen müssen?
Angenommen, ein sozialistischer Staat wäre Realität, dann dürfte man nicht nochmals den Fehler machen, das Privateigentum sofort zu verstaatlichen. Die Unternehmen müssten in die Hände ihrer Mitarbeiter übergehen, die selbst entscheiden, wie sie sich organisieren wollen. Erst dann dürfte man die Unternehmen allmählich zusammenführen. Wenn man sie sofort verstaatlicht, ändert man nur das Gesetz. Man muss aber die Realität ändern. Aber alle diese Fragen führen eigentlich zu nichts in der gegenwärtigen Situation. Viel wichtiger ist, eine Treue zu den grossen Ideen zu beweisen. Daran führt kein Weg vorbei. Die Emanzipation im Sinn des Kommunismus ist ein konkreter, aber letztlich unabschliessbarer Prozess.

Die Emanzipation ist also etwas, was nur annährend, aber nie vollständig erreicht werden kann, aber gerade deshalb die Kraft hat, die Menschen dazu zu motivieren, eine Alternative herbeizuführen?
Ja, so ist es. Die Emanzipation ist ein langer Prozess, den man auch über das Scheitern hinaus fortsetzen muss. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, das katastrophale Scheitern der bisherigen sozialistischen Staaten erklären zu können. Und man muss immer wieder hervorheben, dass das Scheitern der sozialistischen Staaten eines im Namen des Kommunismus war. Aber es war nicht das Scheitern des Kommunismus selbst.

«Wir waren niemand, aber wir waren da»: Alain Badiou vergangene Woche an der Autonomen Schule Zürich im Gespräch mit AktivistInnen aus aller Welt.

Nicht die Idee des Kommunismus ist gescheitert, sondern jene sind es, die versuchten, sie umzusetzen. Also weiterhin unbedingte Treue zur kommunistischen Idee?
Ja, wobei Treue eine Verbindung von Mut und Leidenschaft ist. Wenn man zu wenig leidenschaftlich ist, verliert man den Mut. Es braucht also den Mut zur Leidenschaft. Die Forderungen, die sich daraus für Theorie und Praxis ableiten lassen, sind für mich klar. Erstens: Teilnahme am ideologischen Kampf um die Rekonstruktion der kommunistischen Idee in verschiedenen neuen politischen Konzepten. Zweitens: Teilnahme an Gruppen, die sich um die Vermittlung der kommunistischen Ideen bemühen. Und drittens braucht es ein Wissen darüber, was es alles an politischen Organisationen gibt. Stalin sagte: «Das reicht, wir haben die Ziele erreicht!» – wahrscheinlich deshalb, weil der Prozess noch gar nicht begonnen hatte (lacht).

Der Kämpfer am Rand der Macht : Badious Zürcher Auftritt

«Lasst nicht zu, dass diese Schule in ein kapitalistisches Instrument verwandelt wird. Ihr habt alles, was eine mutige politische Bewegung braucht: eine Massenbewegung, die politische Organisation – und ihr seid ausserhalb der staatlichen Institutionen.» Das gab der französische Philosoph Alain Badiou zur Antwort, als er von einer Aktivistin gefragt wurde, wie sich die Autonome Schule Zürich (ASZ) verhalten solle, wenn sie Ende Oktober voraussichtlich einmal mehr ohne Räumlichkeiten dastehen werde.

Badious Ratschlag ist gleichzeitig die kürzestmögliche Zusammenfassung seines Vortrags am Mittwoch, dem 7. Oktober, vor knapp 400 Kursteilnehmern, Lehrerinnen, Aktivistinnen und Besuchern. Der Andrang war gross, der eng bestuhlte Saal im Erdgeschoss der Bachmattstrasse in Zürich Altstetten bot bei weitem nicht genug Platz. Badious Intervention unter dem programmatischen Titel «Es gibt nur eine Welt» wurde in mehrere Räume übertragen.

Bereits am Nachmittag hatte sich Badiou im kleineren Rahmen mit Aktivisten und Studentinnen aus verschiedenen Teilen der Welt getroffen, deren Fragen und Geschichten den 78-Jährigen, der mit Nachdruck und Schalk in seinem sehr französisch eingefärbten Englisch sprach, sichtlich berührt hatten. In der Diskussion nach dem Vortrag meinte er, für ihn sei die Autonome Schule nichts weniger als der Beweis dafür, dass man die Welt tatsächlich verändern könne: mit Mut, Freundschaft und der Vision einer Universalität trotz aller Unterschiede. Zur hörbaren Freude der Anwesenden betonte er ausserdem, dass er sich nach wie vor als «Kämpfer» sehe – und nun auch zu alt sei, um sich noch zu verändern.

Nach einer Vorlesung tags zuvor an der Universität Bern war Badiou in Zürich exklusiv in der Autonomen Schule aufgetreten. Das stand ganz im Einklang mit seiner Überzeugung, dass echte Politik nur an den Rändern der staatlichen Macht möglich sei – und dass vor jeder Negation eine positive Idee stehen müsse.

Daniela Janser