Venezuelas Wirtschaftslage: Präsident und Parlament pokern um die Macht

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Venezuela versinkt im Wirtschaftschaos, Schwarzmarkt und Schmuggel blühen – aber niemand präsentiert ein Konzept, wie dem abzuhelfen wäre.

Das ist neu für Venezuelas Präsidenten: Nicolás Maduro von der sozialistischen Partei PSUV muss gegen die Opposition im Parlament regieren. Seit Anfang Januar hält das aus konservativen und rechtsgerichteten Parteien bestehende Bündnis Tisch der Einheit (MUD) eine Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung. Das Regieren unter diesen Umständen wäre am leichtesten, wenn beide Seiten sich zusammenrauften. Vorerst aber wird um die Macht gepokert. Zuletzt hat Maduro am 15. Januar per Dekret den wirtschaftlichen Notstand verhängt.

Er war es auch, der das Spiel eröffnete. Im Dezember besetzte die damals von seinen ChavistInnen dominierte Nationalversammlung 13 der 32 obersten Richterstellen neu. Dann war die Opposition am Zug. Mit 112 Abgeordneten verfügt sie im neuen Parlament über eine hauchdünne Zweidrittelmehrheit und kann damit jede Regierungsentscheidung blockieren. Drei ihrer Abgeordneten aber durften nach einem Urteil des Obersten Gerichts wegen angeblichen Wahlbetrugs ihr Amt vorerst nicht antreten. Sie liessen sich trotzdem vereidigen.

Dies focht die Regierung wiederum bei den Obersten RichterInnen an, die sogleich sämtliche Entscheidungen der Nationalversammlung für nichtig erklärten, solange die drei Abgeordneten ihre Mandate nicht aussetzten. Um einen Machtkonflikt zu vermeiden, zog die Opposition ihre drei Abgeordneten zurück.

Die Ausrufung des Notstands für zunächst sechzig Tage ist nun eine weitere Karte im Machtpoker. Zwar sollen so Sozialleistungen, Bildungswesen, Gesundheitssystem und der öffentliche Wohnungsbau vor Einschnitten geschützt und die Lebensmittel- und Medizinversorgung gesichert werden. Aber wie das konkret gehen soll, sagte Maduro nicht. Ohnehin muss die Nationalversammlung den Notstand zuerst absegnen, was als eher unwahrscheinlich gilt.

Ein Abstrafen der Regierung

Angesichts der desolaten Wirtschaftslage ist das Hickhack zwischen Parlament und Präsident ein Trauerspiel. Erstmals seit über einem Jahr hatte die Zentralbank Mitte Januar offizielle Zahlen vorgelegt. Danach schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal 2015 um 7,1 Prozent, die Inflationsrate betrug 2015 141,5 Prozent. Private Wirtschaftsinstitute schätzen die Lage sogar weitaus schlimmer ein: Nach den Angaben von Ecoanalítica ging die Wirtschaftsleistung 2015 um 9,2 Prozent zurück, die Inflationsrate lag bei rund 250 Prozent. Doch das Schlimmste: Die Kaufkraft der Löhne sank um 35 Prozent. Das erkläre auch die herbe Schlappe der regierenden Chavistas bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 6. Dezember, sagt Ecoanalítica-Direktor Asdrúbal Oliveros: «Es war ein Abstrafen der Regierung und weniger ein Erfolg der Opposition.»

Lange hatte der hohe Ölpreis die schwelende Krise überdeckt. Mitte 2014 war ein Fass noch für knapp über 90 Dollar gehandelt worden. 2015 lag der Durchschnittspreis bei 46,07 Dollar, jetzt ist er auf rund 30 Dollar gefallen. Und weil Venezuela ausser Erdöl so gut wie nichts exportiert, kann es entsprechend weniger importieren.

Schlange stehen als Beruf

Das führt zu endlosen Schlangen vor Supermärkten, in denen die knappen Waren zu staatlich festgesetzten Niedrigpreisen verkauft werden. Seit Juli 2011 werden die Preise für Fleisch oder Eier, Zahnpasta oder Putzmittel reguliert. Weil die Güter knapp sind, ist ein neuer informeller Beruf entstanden: der Bachaquero. Ursprünglich wurde das Wort für kleine SchmugglerInnen im venezolanisch-kolumbianischen Grenzgebiet verwendet. Heute sind Bachaqueros halb- und vollprofessionelle SchlangesteherInnen, die die erstandene Ware hinterher zu Wucherpreisen auf dem Schwarzmarkt anbieten.

Nach einer Studie von Ecoanalítica sind drei Millionen der rund fünfzehn Millionen erwerbsfähigen VenezolanerInnen als Bachaqueros tätig, zwei Drittel davon in Teilzeit: Sie gehen einer regulären Arbeit nach und verdienen sich als Käufer und Wiederverkäuferinnen ein Zubrot. Ein Drittel lebt ausschliesslich von diesem Geschäft. Im September 2015 verdiente ein Bachaquero durchschnittlich 80 000 Bolivares im Monat und lag damit weit über dem Mindestlohn von 16 000 Bolivares. Bei einem derzeitigen Schwarzmarktkurs von über 800 Bolivares pro US-Dollar sind dies jedoch nicht einmal 100 US-Dollar.

Für die Regierung sind die Bachaqueros Teil eines Wirtschaftskriegs, mit dem spekulierende Unternehmer und Händlerinnen zusammen mit der Opposition und ExilvenezolanerInnen in Miami und Panama die Lage künstlich verschärfen wollen. Für AnalystInnen jedoch sind die Bachaqueros Menschen mit niedrigen Einkommen, die durch Inflation und Kaufkraftverlust zu dieser informellen Arbeit gezwungen werden. «Das weiss auch die Regierung», so Oliveros.

Anders sieht die Lage beim Schmuggel aus. Nach inoffiziellen Schätzungen werden 30 Prozent des Nahrungsmittelangebots und 35 Prozent der subventionierten Medikamente in die Nachbarländer geschmuggelt. Auch dies ist für Oliveros kein Wirtschaftskrieg: «In jedem Land mit solch aberwitzigen Niedrigpreisen floriert das Schmugglergeschäft.» Um das zu unterbinden, müssten die Preise angehoben werden, «weg von der Unterstützung der unteren Schichten durch Warensubventionen, hin zu direkten Zahlungen». Vorerst aber pokern Regierung und Opposition weiter um die Macht.

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