Deutschland: «Dann gehörte Ali zur Familie»

Nr. 5 –

Überforderte Gemeinden, eine planlose Regierung, hilfsbereite BürgerInnen: Im Ruhrgebiet zeigt sich, wie Deutschland mit der Flüchtlingsfrage umgeht.

  • 650 Menschen in Grosszelten zwischen Elektrizitätswerk, Ausfallstrasse und alten Arbeiterhäusern: Das Flüchtlingslager in Essen Karnap.
  • Von den vielen Industriebetrieben ist in Karnap nur das Müllheizkraftwerk übrig geblieben: Blick von der Kanalbrücke.
  • Viele der alten Arbeiterhäuser konnten von den BewohnerInnen zu günstigen Konditionen gekauft werden. Diese Strasse führt zum Flüchtlingslager.
  • Stephan Duda, Vorsitzender des SPD Ortsvereins Essen-Karnap: «Ich stamme aus einer Familie von Sozialdemokraten und lasse mich auf keinen Fall in die rechte Ecke drängen.»
  • In manchen Ecken weist Karnap durchaus kleinbürgerlichen Charakter auf – aber reich ist hier niemand.
  • Türkischer Lebensmittelladen an der Karnaper Strasse.
  • Katharina Kremer von der Initiative WIE («Willkommen in Essen»): «Wenn der Staat versagt, machen wir einfach weiter.»
  • Kein Metzger mehr, kein Bäcker mehr und im «Sport-Shop» nichts Brauchbares: Karnaper Strasse, die Lebensader des Quartiers.
  • Pizzeria Karnap statt «Alt Carnap»: Die alte Quartierbeiz wird wohl nie mehr öffnen.
  • Max Adelmann, Sprecher des Bündnisses «Essen stellt sich quer»: Die dreizehn Prozent, die schon immer rechts waren, trauen sich wieder raus.»
  • Der Rhein-Herne-Kanal von der Kanalbrücke aus: Karnap und Altenessen-Nord träumen vom Jachthafen mit eleganten Bürogebäuden und komfortablen Wohnungen, der hier entstehen soll.

Irgendwann hatte Stephan Duda genug von der Politik der Essener Behörden. Also rief der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Essen-Karnap im Norden der Stadt über Facebook zu einem «Solidaritätslauf» auf. Das Motto: «Genug ist genug – Integration hat Grenzen – der Norden ist voll». Wenige Stunden später stand der 45-Jährige im nationalen Scheinwerferlicht: Der Eintrag wurde mehrere Hundert Mal geteilt und kommentiert. Dudas Profil verzeichnete Tausende Klicks. Aus ganz Deutschland erreichten ihn Briefe und E-Mails. Und aus Spanien, Polen oder Österreich Medienanfragen.

Der Slogan der Demonstration, zu der Duda mit zwei weiteren SPD-Ortsvereinen aufrief, klingt mehr nach einem Aufmarsch der rechtsextremen NPD denn nach einer Kampagne von Sozialdemokraten. Entsprechend ging auch das eigentliche Anliegen im heraufziehenden Empörungssturm unter. Duda wollte auf einen Missstand in seiner Heimatstadt hinweisen: «Es kann nicht sein, dass mehr als siebzig Prozent der neuen Flüchtlingsunterkünfte im Essener Norden errichtet werden», stand auf Facebook neben dem fremdenfeindlichen Flyer. Nach harscher Kritik aus der eigenen Partei und aus Angst davor, dass die AfD und die NPD die Kundgebung instrumentalisieren könnten, sagte der Lokalpolitiker den «Fackelmarsch» («Bild») schliesslich wieder ab.

Zwei Wochen später hat sich die Aufregung etwas gelegt. Duda sitzt im «CaféFee», einem der wenigen in Essen-Karnap verbliebenen Lokale. Knatschgrüne Streifen an den Wänden, helles Holz, in der Auslage liegen hausgemachte Kuchen. In einem Viertel, in dem viele BewohnerInnen ihr Geld kaum in Restaurants liegen lassen, ist das vor einem Jahr eröffnete Kulturcafé der Stolz vieler alteingesessener KarnaperInnen.

Duda, der bei einem Kompressorenhersteller Projekte leitet und dafür im ganzen Land unterwegs ist, trägt Jeans, Sakko und ein blaues Hemd. Trotz des Rummels um seine Person und der harschen Reaktionen wirkt er zufrieden mit sich selbst. «Natürlich habe ich mich in der Wortwahl vergriffen», gibt er zu, «dafür muss ich mich entschuldigen.» Er habe mit der «provokanten Aktion» auf die ungerechte Verteilung der Flüchtlinge aufmerksam machen wollen. Und die «Message» sei auch bei vielen angekommen, so der Lokalpolitiker. «Gut, macht einer den Mund auf», hätten viele gesagt. «Ich stamme aus einer Familie von Sozialdemokraten und lasse mich auf keinen Fall in die rechte Ecke drängen», sagt Duda. Ein Schuldeingeständnis für die fehlgeleitete Kommunikation ist das nicht.

Die geteilte Stadt

Unter den fünfzig Essener Stadtteilen ist Karnap der nördlichste, an der Stadtgrenze beginnt bereits das benachbarte Gelsenkirchen. In der traditionellen Bergarbeitersiedlung haben 40 Prozent der rund 7800 EinwohnerInnen migrantische Wurzeln, 35 Prozent beziehen Sozialhilfe. Sehr viele Quartiere im Norden der Stadt gelten als Problemviertel. Leere Ladenlokale reihen sich an Kebabbuden, Nailstudios und Spielhallen, Mehrfamilienbauten an simple Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten. Sportplätze und Schulen müssen schliessen, Schwimmbäder, Kirchen und öffentliche Bibliotheken werden dichtgemacht.

Einst war Essen das blühende Herz des Ruhrgebiets, dann gingen wegen der Krise im Stahl- und Bergbaugewerbe viele Arbeitsplätze verloren. Mit dem Niedergang der Industrie wanderten auch Tausende EinwohnerInnen ab, in Essen sank die Bevölkerungszahl von 700 000 auf heute 570 000. Irgendwann schaffte die Stadt die Kehrtwende: Statt auf Bergbau setzte man auf Dienstleistungen. Dennoch ist Essen – wie viele Städte im Ruhrgebiet – hoch verschuldet. Und mit zwölf Prozent liegt die Arbeitslosenquote weit über dem deutschen Durchschnitt. Seit einigen Jahren steigt die EinwohnerInnenzahl wieder – doch wer es sich leisten kann, zieht in den Süden der Stadt. Dorthin, wo der einstige Wohnsitz der Industriellenfamilie Krupp inmitten einer riesigen Gartenanlage thront. Dorthin, von wo aus die Aldi-Brüder ihr Supermarktimperium aufbauten, wo sich Einfamilienhäuser, Bioläden und prachtvolle Villenbauten abwechseln.

Berührungspunkte zwischen Nord und Süd gibt es kaum, die meisten bleiben unter sich. Derweil im Norden so mancher vom Süden schwärmt, verirrt sich kaum einer der Privilegierten in den Norden. Essen ist eine Stadt der sozialen Segregation. SPD-Politiker Duda wohnt gerne in seinem «gallischen Dorf» Karnap, das mit dem Rest der Stadt über zwei Brücken über den Rhein-Herne-Kanal verbunden ist. Seine Partei hat hier den grössten WählerInnenanteil, rund die Hälfte der abstimmenden KarnaperInnen wählen die Sozialdemokraten – die Wahlbeteiligung beträgt lausige 24 Prozent.

Seit November 2015 leben am Ortsrand von Karnap zwischen Elektrizitätswerk und Ausfallstrasse 650 Flüchtlinge auf dem Gelände eines Stadions, in dem schon lange niemand mehr Fussball spielt. Riesige Zelte stehen hier, nicht einmal hundert Meter Luftlinie von Stephan Dudas Wohnhaus entfernt. Über hundert Menschen pro Zelt, keine Privatsphäre. «Für die Flüchtlinge sind das unhaltbare Zustände», sagt Duda. Gegen diese Zustände wehre er sich – und gegen den Plan der Stadt, von sieben geplanten Unterkünften sechs im Norden zu bauen. Seine Vision: «Wenn Flüchtlinge in kleineren Gruppen an mehreren Standorten untergebracht werden, lässt sich ihnen auch besser helfen.»

Doch Duda hat auch ein anderes Anliegen: Seit Jahren hängt ein Grossprojekt in der Schwebe. Auf der anderen Seite des Kanals soll ein ganzes Quartier entstehen, mit Jachthafen, prächtigen Bürobauten und hochwertigen Wohnungen – und mit 600 Arbeitsplätzen. Bald soll der Bau beschlossen werden, offenbar gibt es auch InvestorInnen. Doch nun zieht die Stadt in Erwägung, auf dem Gelände ein Flüchtlingsheim zu bauen. Mit seiner «provokanten Aktion» verteidigt Duda also auch das wahnwitzige Bauprojekt. Von der Stadtregierung ist er ohnehin enttäuscht. «Im Süden schützen sie ihren Grashalm», sagt er. Der CDU-Oberbürgermeister verfrachte einen Grossteil der Flüchtlinge in den strukturschwachen Norden, weil er die WählerInnen im Süden nicht vergraulen wolle. Und der unterbesetzte und überforderte Verwaltungsapparat «verwaltet die Menschen einfach nur».

Asylanträge werden vom Bundesamt für Migration vielerorts nur langsam bearbeitet, derweil immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Wie viele andere Kommunen befindet sich Essen im dauerhaften Notfallmodus. Auf lokaler Ebene wird ein Konflikt zwischen den Städten, dem Bund und den Ländern sichtbar. Es ist ein Konflikt, bei dem es neben der ungerechten Verteilung auf die Quartiere auch um eine verfehlte Geldmittelverteilung geht. So zahlt in Essen der Bund rund vierzig Prozent der Kosten für die Flüchtlinge, den Rest muss die Gemeinde aufbringen. «Frau Merkel sagt: ‹Wir schaffen das›. Einen Plan, wie das zu schaffen ist, sehe ich nicht», sagt Duda. Er ist nicht der Einzige, der sich von der Politik im Stich gelassen fühlt.

Hilfe kommt von der Basis

Katharina Kremer sortiert in ihrer Freizeit Kleider für Flüchtlinge, sammelt für die Organisation WIE («Willkommen in Essen») warme Pullover oder Spielsachen. Beim Neujahrsempfang der Essener Grünen im legendären Kino Lichtburg mitten in der Innenstadt, an dem das Thema Flüchtlinge behandelt wird, erzählt die Dreissigjährige wild gestikulierend von ihrem Engagement. Auch sie wirft den Behörden Konzeptlosigkeit vor – die Empörung ist nicht zu übersehen. «Die Politiker wursteln immer irgendwie rum und hoffen, dass nichts passiert – bis es dann irgendwann knallt», sagt die energische junge Frau, die eigentlich in der Sprachförderung arbeitet. Eines ist für die zweifache Mutter trotzdem klar: «Wenn der Staat versagt, machen wir einfach weiter.»

Ähnlich klingt SPD-Politiker Duda, wenn er immer wieder von seinem eigenen Einsatz für die Flüchtlinge von Karnap schwärmt. Vom Fussballtraining etwa, das er für die Jugendlichen zweimal pro Woche organisiert. «Die Hilfe kommt vor allem von der Basis», sagt er stolz. «Von Menschen, die runde Tische organisieren und die Lösung der schwierigen Situation einfach in die Hand nehmen.» Und wegen dieser Menschen, seiner Basis, sollen nicht so viele Flüchtlinge in den Norden, soll auch das Hafenprojekt nicht versenkt werden.

Auch Ingrid Kuhlmann, die hauptberuflich Integrationskurse beim Wohlfahrtsverband Awo (Arbeiterwohlfahrt) gibt und zusammen mit Katharina Kremer Kleider sammelt, glaubt an die Menschen. «Man muss an der Basis anfangen», so die 62-Jährige, die einen Kaschmirpullover und eine randlose Brille mit roten Bügeln trägt. Man habe zwei Möglichkeiten, zu reagieren, wenn die staatlichen Strukturen versagen: entweder nichts tun oder sich engagieren.

«Integration durch Arbeit»

Trotz der Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung: Wenn die Behörden bereits an einer menschenwürdigen Unterbringung der Geflüchteten scheitern, wie sollen sich dann Tausende Neuankömmlinge langfristig eine Existenz aufbauen? Im Ruhrgebiet, wo die Menschen seit 150 Jahren mit EinwanderInnen zusammenleben, hat man reichlich Integrationserfahrung sammeln können. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen mit der Gründung der ersten Zechen und Eisenhütten auch die Arbeiter mit ihren Familien. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg zogen mehrere Hunderttausend Menschen hierher, um die zerstörte Industrie wieder aufzubauen – das Gebiet wurde zum Motor des «Wirtschaftswunders». Und in den siebziger Jahren kamen dann Tausende GastarbeiterInnen aus Italien, Griechenland und der Türkei. «Integration durch Arbeit» lautete die weithin zelebrierte Erzählung.

Rainer Theiss hat die meiste Zeit seines Lebens im Essener Norden gelebt und kennt die Stadt wie seine Westentasche. «Schon früher hat Integration hier gut funktioniert», sagt er. Man habe sich über die Zugehörigkeit zum Arbeitgeber definiert, erzählt er beim Abendessen in seiner Dreizimmerwohnung, in der er mit seiner Frau Birgit und Bulldogge Emma lebt. Der 59-Jährige hatte es in seinem Leben selten leicht, hatte diverse Jobs inne, um sich und die Familie über Wasser zu halten, zurzeit arbeitet er für einen Cateringservice. «Alle, die bei Krupp arbeiteten, gehörten zur Kruppianerfamilie. Und wenn Ali bei Krupp gearbeitet hat, dann gehörte eben auch er zur Familie.» In Essen lebt die alte Integrationserzählung in vielen Köpfen weiter.

Kopfzerbrechen bereiten Theiss die «besorgten Bürger», denen er begegnet, wenn er mit Emma durch sein Wohnviertel spaziert. Zwar hätten in Essen die Neonazis nie richtig Fuss fassen können, die patriotischen AbendländerInnen von Pegida fahren für ihre Kundgebungen zu ihren GesinnungskollegInnen ins benachbarte Duisburg. Und falls es doch mal eine Demonstration gebe, überwiege die Zahl der GegendemonstrantInnen. Dennoch werde die Stimmung in der Stadt immer gereizter. «Diejenigen, die heute in aller Öffentlichkeit ‹Sorgen› äussern, hätten vor zwanzig Jahren für ihre Aussagen in der Kneipe noch aufs Maul bekommen», sagt Theiss lachend.

Auch «Essen stellt sich quer», ein breites Bündnis aus SPD, Gewerkschaftsbund, der Linken und linksradikalen Splittergruppen, beobachtet die Antiflüchtlingsinitiativen genau, die vor allem im Süden der Stadt entstehen. Und die Bürgerwehren, in denen sich «besorgte Bürger» organisieren wollen. Sprecher Max Adelmann vertritt den überparteilichen Zusammenschluss seit drei Jahren. Der 59-Jährige steht vor seinem Infostand in der «Lichtburg», trägt Anstecker mit dem Slogan «Kein Mensch ist illegal» und dem «Essen stellt sich quer»-Logo. Der zunehmende Rechtsextremismus bereitet auch ihm Sorgen. «Die dreizehn Prozent, die schon immer rechts waren, trauen sich wieder raus», glaubt er. Dennoch ist er überzeugt: Die «schweigende Mitte» werde in Essen das Schlimmste immer noch verhindern können.

Und das Zeltdorf in Karnap? Musste Stephan Duda nicht befürchten, dass jemand seinen Aufruf wörtlich nimmt und der Integration im Essener Norden mit Brandsätzen Grenzen setzt? Nein, davor habe er keine Angst gehabt, in Essen seien Flüchtlingsunterkünfte bisher nicht angegriffen worden. Im besten Fall klingt die Antwort des Lokalpolitikers naiv. Doch Duda scheint sowieso niemand zu sein, der sich so leicht beirren lässt. «Ich werde mich nicht bremsen lassen und weiter für die Anliegen der Bürger hier kämpfen», sagt er.