Prozess gegen angebliche «IS-Zelle»: Eine Melone kann eine Melone sein

Nr. 6 –

Ende Februar stehen vier Männer vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona, weil sie angeblich den Islamischen Staat unterstützt haben. Anklageschrift und Verhörprotokolle kursieren bereits in der Öffentlichkeit. Wem nützt das?

«Es ist für Medien halt ein geiler Fall», sagt einer der Verteidiger. Vom angeblich «schwersten Schweizer Terrorfall seit Jahrzehnten» ist die Rede. Ende Februar, Anfang März wird er vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verhandelt. Vier Männer sind angeklagt, drei davon sitzen seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft, weil sie den Islamischen Staat (IS) unterstützt und einen Terroranschlag geplant haben sollen.

Im Dezember wurde Marcel Gyr von der «Neuen Zürcher Zeitung» die Anklageschrift zugespielt. Erstmals würden nun «Details zur Schweizer ‹IS-Zelle› bekannt», schreibt Gyr: «Drei der vier Mitglieder der Schweizer Zelle, gegen welche die Bundesanwaltschaft Anklage erhoben hat, waren bereits in Syrien enge Vertraute. In Dscharamana, einem Vorort von Damaskus, teilten sich Osamah M. und Mohammed O. eine Wohnung, wo Wesam J. regelmässig zu Besuch war.» Die Bundesanwaltschaft werfe Osamah M. vor, bei der Einschleusung von Mitgliedern des Isis (heute IS genannt) in die Schweiz, nach Finnland und nach Kanada als Koordinator massgeblich mitgewirkt zu haben: «Aufgrund einer Kriegsverletzung ist der 29-jährige Iraker auf den Rollstuhl angewiesen. Alle drei stammen ursprünglich aus der irakischen Stadt Kirkuk, vor ihrer gestaffelten Einreise in die Schweiz waren sie aber in Syrien aktiv.»

Anfang Jahr holte Thomas Knellwolf im «Tages-Anzeiger» zur grossen «IS-Zellen»-Serie aus. Er schreibt, als wäre er bei den Verhören dabei gewesen: «In der Mittagspause seines letzten Verhörs bittet Osamah darum, Wesam zu grüssen. Dies wird ihm erlaubt. Doch als er Wesam etwas übergeben will, schreitet der Sicherheitsdienst ein. Wesam behändigt ein Stück Papier Osamahs und verschluckt es. Was darauf stand, wird man nie erfahren.» So schreibt sich ein Krimi.

Doch die grosse Frage ist: Woher hat Gyr die Anklageschrift, woher hat Knellwolf seine intimen Kenntnisse?

Das Bundesstrafgericht publizierte – unmittelbar nachdem die NZZ die Anklageschrift öffentlich gemacht hatte – eine Mitteilung, in der es allen anderen Medienleuten klarmacht, dass sie die Anklageschrift offiziell erst sieben Tage vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung bekommen können. Das ist am übernächsten Montag, 22. Februar.

Gleichzeitig liess das Bundesstrafgericht den Verteidigern ein Schreiben zukommen, in dem es hiess, man gehe davon aus, eine der angeklagten Parteien habe die Anklageschrift an die Medien weitergegeben.

Auf Anfrage der WOZ antworteten die involvierten Anwälte auf die Frage, woher die Medien die Anklageschrift und das Detailwissen hätten, unisono: «Das würden wir auch gerne wissen!» Alle versichern, sie hätten die Informationen sicher nicht rausgegeben – und alle sagen, sie könnten sich nicht vorstellen, dass es der Anwalt eines Mitangeklagten gewesen sei.

Der schwerste Vorwurf der Anwälte ist, dass es bereits zu einer «massiven medialen Vorverurteilung» gekommen sei. Wenn man sie fragt, ob die publizierten Informationen stimmen, sagen sie, sie würden sich vor dem Prozess nicht dazu äussern, weil das ihren Mandanten schaden könnte. Einer meint noch lakonisch, die geopolitische Grosswetterlage spreche ja nicht gerade für die Angeklagten. Da hat er zweifellos recht.

Die Version der Anklage

Die Männer wurden im März 2014 verhaftet. Die Bundesanwaltschaft beschuldigte sie, etwas mit Isil zu tun zu haben. Damals wusste kaum jemand, was «Isil» meint: «Islamischer Staat im Irak und der Levante», die Vorläuferorganisation des heutigen selbst ernannten Islamischen Staats. Die Verhafteten stellten im Frühling 2014 ein Haftentlassungsgesuch. Das Bundesstrafgericht lehnte es ab, weil aufgrund eines Berichts des Nachrichtendiensts von einem «dringenden Tatverdacht» ausgegangen werde. Dann fügte das Gericht noch an: «Zwar sind Anschläge der ISIL ausserhalb ihres nahöstlichen Einsatzraumes nicht öffentlich bekannt und werden von der Beschwerdegegnerin [der Bundesanwaltschaft] weder behauptet noch belegt.»

Das war im April 2014. Mit den Anschlägen von Paris hat sich die Wahrnehmung im letzten Jahr jedoch fundamental verändert. Seither sieht man die sogenannte «Schweizer IS-Zelle» unweigerlich in einem anderen Licht. Laut Version des «Tages-Anzeigers» geht es beim Hauptverdächtigen Osamah M. um den «Kopf der mutmasslichen IS-Zelle». Der irakische Flüchtling, der im Rollstuhl sitzt, liess sich in der Schweiz therapieren, pflegt aber zugleich einen enormen Hass auf sein Gastland. Er soll in Chats die Schweizer als «Hundesöhne», «Esel» und «Leute zum Enthaupten» bezeichnet haben, so der «Tages-Anzeiger». In den Skype-Chats ist auch von «Wassermelonen» und «Brotbacken» die Rede und davon, dass ein mutmasslicher IS-Kommandeur «einen Mann» in die Schweiz schicken soll. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass es sich um kodifizierte Gespräche handelt und die Männer einen Anschlag geplant haben. Wenn das wahr ist, hätte die Bundesanwaltschaft tatsächlich ein Blutbad verhindert.

Mediale Vorverurteilung

Dennoch bleiben diverse Fragen: Wer gab den Medien all die Informationen? War es jemand von der Bundesanwaltschaft oder vom Nachrichtendienst? Ist es legitim, schon vor dem Prozess daraus eine «geile Story» zu machen?

Es geht um Amtsgeheimnisverletzung, was ein Offizialdelikt ist. Die Behörden müssten eigentlich ermitteln, was sie selten tun.

Franz Zeller, Medienrechtsprofessor an verschiedenen Universitäten, sagt, er kenne den Fall nicht im Detail, aber es gebe grundsätzliche Überlegungen: «Vor einem Prozess zu berichten, ist immer heikel, weil es ein grosses Vorverurteilungsrisiko gibt.» Auch wenn nur über die Anklageschrift geschrieben werde, sei das delikat: «Journalisten vergessen oft, dass es sich dabei explizit um den Standpunkt der Staatsanwaltschaft, also der klagenden Partei, handelt – die zwingend einseitig ist.» Die Anklageschrift sei nur eine Behauptung. Deshalb müsste auch die angeklagte Seite zu Wort kommen, was aber meist nicht passiert. «Sobald man im Prozesssaal sitzt», sagt Zeller, «merkt man, dass vieles, was in der Anklageschrift noch eindeutig erschien, nicht mehr so klar ist.» Er weist auch darauf hin, dass JournalistInnen sich bewusst sein müssten, dass sie instrumentalisiert würden, wenn ihnen vor dem Prozess die Anklageschrift oder Einvernahmeprotokolle zugespielt würden.

Ein hochpolitischer Prozess

Knellwolf lässt in seinen Texten für den «Tages-Anzeiger» die gegnerischen Anwälte nicht zu Wort kommen. Er versteht auch den Vorwurf der «medialen Vorverurteilung» nicht. Denn seiner Meinung nach reicht es, «dass die Beschuldigten mit ihren besten Argumenten zu Wort kommen, die sie selber in der Strafuntersuchung vorgebracht haben». Das ist delikat, weil er damit den Prozess vorwegnimmt und Richter spielt.

Entscheidender ist aber: Wer hat ihm die Verhörprotokolle zugespielt? Und warum? Knellwolf will die Quelle nicht preisgeben. Das ist sein journalistisches Recht. Die WOZ würde das auch nicht tun. Hier geht es aber nicht um einen Whistleblower, der geschützt werden muss. Vielmehr will man wissen: Wer hat ein Interesse, dass die Geschichte schon Wochen vor dem eigentlichen Prozess breitgetreten wird? Es ist doch ein hochpolitischer Prozess. Der Nachrichtendienst ist involviert, und die Bundesanwaltschaft braucht Erfolge.

«Die Bundesanwaltschaft hat grundsätzlich ein Problem, weil sie für die grossen, spektakulären Fälle zuständig ist – und sie hat schon viele Rohrkrepierer produziert», sagt der Zürcher Anwalt Viktor Györffy, der auch den Verein Grundrechte.ch präsidiert.

In diesem Fall hätten sowohl Nachrichtendienst wie Bundesanwaltschaft ein offensichtliches Interesse, der Öffentlichkeit zu zeigen: «Wir sind dran, wir haben bereits vier potenzielle Attentäter geschnappt. Wir tun alles, um Anschläge zu verhindern.» Das ist gute Propaganda, um mehr Mittel und neue Gesetze zu bekommen – wie zum Beispiel das umstrittene Nachrichtendienstgesetz, über das demnächst abgestimmt werden muss.

Vieles in diesem Prozess sei Interpretationssache, gibt Györffy zu bedenken. Da es ja kein Delikt gibt, sondern es nur um Telefongespräche geht, die vielleicht belegen, dass jemand eine terroristische Organisation unterstützt – was tatsächlich ein Straftatbestand ist. «Aber was war mit den codierten Gesprächen wirklich gemeint? Vielleicht will sich einer nur wichtig machen und gibt an? Das zeigt die Problematik, wenn die ‹Unterstützung einer Organisation› strafbar ist, es aber kein konkretes Delikt gibt.»

Ob den Angeklagten diesbezüglich wirklich handfest etwas nachgewiesen werden kann, wird erst der Prozess in Bellinzona zeigen.