US-Wahlkampf: Wo Ted Cruz gross geworden ist

Nr. 8 –

Zu Besuch bei Abtreibungsgegnerinnen und Waffenfreunden: Das bevölkerungsreiche Texas ist für den rechten Flügel der Republikanischen Partei das Labor der Machtentfaltung. Die DemokratInnen hoffen derweil auf den demografischen Wandel und setzen auf Kampagnenarbeit.

«Joe’s Pizza» ist von aussen betrachtet ein unscheinbares Schnellimbissrestaurant, wie es sie im Grossraum von Dallas Tausende gibt. Direkt an einer Autobahnausfahrt gelegen, eingezwängt in eine Reihe von Geschäften vor einem grossen Parkplatz, ist es leicht zu übersehen. Wer an diesem Montagabend eintritt, wird deshalb vielleicht erstaunt sein, dass alle Tische besetzt sind und über die Tische hinweg angeregt geplaudert wird. Die Gäste fallen auf den ersten Blick kaum auf: viele Männer, einige Frauen und Kinder, die hier gigantische Pizzaportionen und Mammutbecher mit Süssgetränken vor sich haben. Bei näherem Betrachten sticht allerdings ein Umstand besonders ins Auge: Die meisten Erwachsenen tragen eine Pistole oder einen Revolver am Gurt; auf einem Sessel zur Wand hin steht zudem ein halb automatisches Gewehr des Typs AR-15.

In «Joe’s Pizza» findet gerade eine Versammlung der Organisation Open Carry Texas statt, die das offene Tragen von Waffen in Texas propagiert. Ihr Präsident heisst Christoph Grisham, ist 42 Jahre alt, durchtrainiert, hat weisses Haar und trägt einen Wanderhut auf dem Kopf. Er hat das Treffen kurzfristig einberufen – eigentlich nur, weil er vor zwei Wochen von der WOZ kontaktiert wurde, die ihn um ein Gespräch und Informationen über Anlässe der Gruppe bat.

«Komm, lass uns noch eine Runde drehen», fordert einer die Menge auf, nachdem alle satt geworden sind. Dem «Journalisten aus Schweden» soll gezeigt werden, wie die Organisation die Bevölkerung «aufklärt». Ein kleines Trüppchen begibt sich mit ihren Waffen auf einen Marsch entlang einer schwach beleuchteten Ausfallstrasse. Ein Mann im Schottenrock trägt an einer langen Stange eine Fahne, auf der «Open Carry Texas» steht. Ein auffällig kleiner Mann läuft alleine vor sich hin. Er trägt einen riesigen Colt im Halfter. Hin und wieder hupt ein vorbeifahrendes Auto – ob aus Sympathie oder aus Abneigung, bleibt unklar. Andere FussgängerInnen gibt es an dieser Strasse keine. Die kleine Demonstration fällt kaum jemandem auf und wird am nächsten Tag auch in keiner Zeitung erwähnt. Dennoch sind die FreundInnen des offenen Waffentragens in Texas alles andere als unbedeutend.

Einige Tage später, einige Meilen weiter nordöstlich: Eine Gruppe von vielleicht zwanzig Personen versammelt sich nach Einbruch der Dunkelheit auf einer kleinen Grünfläche zwischen einer lärmigen Ausfallstrasse und einem Parkplatz. Es sind AbtreibungsgegnerInnen, die hier ihre Kick-off-Veranstaltung «40 Days for Life» abhalten. Einige halten den vorbeifahrenden Autos Schilder entgegen, doch wegen der Dunkelheit sind sie kaum zu sehen. In der um Mitternacht beginnenden vierzigtägigen christlichen Fastenzeit wollen sie hier mit mindestens zwei Personen rund um die Uhr präsent sein. Denn hinter dem Parkplatz befindet sich eine Einrichtung der Planned Parenthood, einer in allen Staaten der USA aktiven Familienplanungsorganisation, deren MitarbeiterInnen auch Abtreibungen vornehmen. So klein ihre Aktion auch ist, aktive AbtreibungsgegnerInnen sind in Texas eine Macht.

Wie Texas republikanisch wurde

Texas ist von seiner Fläche wie auch von seiner Bevölkerungszahl her der zweitgrösste Bundesstaat der USA und eine Hochburg der RepublikanerInnen. Wenn hier am 1. März die Vorwahl zur US-Präsidentschaft stattfindet, so gibt es bei ihnen wie auch bei den DemokratInnen mehr Delegiertenstimmen zu holen als in den früheren Vorwahlen von Iowa, New Hampshire, South Carolina und Nevada zusammen (vgl. «Vor dem ‹Super Tuesday›» im Anschluss an diesen Text). Grosse Hoffnungen auf die Wahl in Texas setzt der republikanische Kandidat Ted Cruz, der hier zumindest teilweise seinen Rückstand auf Donald Trump wettmachen will. Als texanischer Senator in Washington ist Cruz wie kein Zweiter Sinnbild für den Erfolg rechtskonservativer PolitikerInnen, die Schritt für Schritt daran arbeiten, in die höchsten Ämter vorzustossen. In Texas sind sie dabei besonders erfolgreich. Der Bundesstaat ist in den USA zum Laboratorium für die Rechte geworden.

Noch bis in die siebziger Jahre wurde die texanische Politik von der Demokratischen Partei bestimmt. Sie bildete den politischen Teil des Establishments und war mit der einflussreichen Ölindustrie bestens vernetzt. Doch dann begann in zwei Wellen der Aufstieg der RepublikanerInnen.

Mary Beth Rogers hat diesen Wandel hautnah miterlebt. Die heute 75-Jährige arbeitete jahrelang als Kampagnenleiterin in der Demokratischen Partei. Eben hat sie ein Buch veröffentlicht («Turning Texas Blue»), in dem sie diesen Wandel nachzeichnet und Strategien zur demokratischen Rückeroberung entwickelt. Den Grund für den Durchmarsch der RepublikanerInnen in Texas macht Rogers primär im demografischen Wandel aus: «Arbeiter aus dem Nordosten und dem Mittleren Westen der USA zogen ab den siebziger Jahren nach Texas, wo es viele Jobs im Technologiesektor und in der Erdölindustrie gab, während in ihrer früheren Heimat die Fabriken reihum dichtmachten.» Diese neue Schicht siedelte sich in den Vororten der grossen Städte an. Mit dem Machtkartell der texanischen DemokratInnen konnten sie sich nicht identifizieren. Sie waren individualistisch ausgerichtet und liessen sich vom sozialkonservativen Stil des Kaliforniers Ronald Reagan begeistern, der 1980 zum US-Präsidenten gewählt wurde. Die DemokratInnen verloren danach immer weiter an Boden.

Besonders stark sind die RepublikanerInnen in der Region um die beiden eng beieinanderliegenden Grossstädte Dallas und Fort Worth geworden, wo heute annähernd sieben Millionen Menschen leben, ein Viertel der texanischen Bevölkerung. Rund um die beiden Stadtzentren mit ihren Wolkenkratzern gehen auf einer Fläche halb so gross wie die Schweiz Ansammlungen von Einfamilienhäusern, Einkaufszentren, Fabriken und Bürokomplexen nahtlos ineinander über. Zusammengehalten wird diese jenseits jeder nachhaltigen Entwicklung entstandene Siedlungsstruktur mitten in der Prärie durch eine Vielzahl von Autobahnen, die miteinander durch Dutzende von Autobahnkreuzen mit ausladenden mehrstöckigen Brückenkonstruktionen verbunden sind. In dieser Megalopolis fehlen öffentliche Plätze und kommerzfreie Treffpunkte fast ausnahmslos.

Als 2008 Barack Obama zum US-Präsidenten gewählt wurde, habe das bei vielen Rechten in den USA eine Art Schock ausgelöst, sagt Mary Beth Rogers. Ein Schwarzer im Oval Office? «Da kam ein tief sitzender Rassismus hoch.» Angeführt von der sogenannten Tea-Party-Bewegung, begann in Texas die zweite Welle der republikanischen Eroberung, nicht zuletzt auch von Milliardären wie den Gebrüdern Charles und David Koch befeuert, die rechtsgerichtete KandidatInnen mit ihrem Geld unterstützten (vgl. «Nur ein Präsident fehlt an der Trophäenwand», Seite 19). «Die Verantwortung tragen aber nicht nur die Koch-Brüder», wendet Forrest Wilder ein. Wilder ist Chefredaktor des «Texas Observer», einer unabhängigen linksgerichteten Zeitung mit Sitz in der texanischen Hauptstadt Austin. «Die Tea-Party-Republikaner können auf eine Basisbewegung zählen», weiss er, etwa Waffenfreunde und Abtreibungsgegnerinnen, die vom Parteiestablishment enttäuscht sind. Mit dieser Basis im Rücken gewinnen sie eine Vorwahl nach der anderen. «Jeder Kandidat, der nicht radikal genug auftritt, wird angegriffen», sagt Wilder. «Weil hier sowieso alles republikanisch dominiert ist, müssen diese Leute bei den Vorwahlen einfach genug Wähler mobilisieren. Die eigentliche Wahl schaffen sie dann meist locker.» Dabei kommt den gut organisierten Rechten die oft extrem tiefe Wahlbeteiligung zugute. So haben bei den republikanischen Vorwahlen von 2014 gerade mal sieben Prozent der Wahlberechtigten von Texas teilgenommen. Dabei wurden die KandidatInnen für das Repräsentantenhaus ausgewählt. Mit extremen Positionen lassen sich in so einer Konstellation ausreichend WählerInnen mobilisieren. So würde die radikale Rechte immer mehr Positionen übernehmen. «Damit wird ein Pool neuer rechter Kräfte geschaffen, die sich politisch hocharbeiten», sagt Wilder. Der prominenteste dieser Aufsteiger ist Ted Cruz.

Gas, Öl und Kohle für Cruz

«Cruz ist ein reiner Ideologe», sagt Wilder. Tatsächlich ist Cruz im US-Senat bislang vor allem durch Verweigerungspolitik aufgefallen. So war er massgeblich beteiligt, als das Parlament der Regierung im Herbst 2013 die nötigen Budgetmittel verweigerte und diese in der Folge die meisten Regierungsämter für über zwei Wochen schliessen musste. Cruz erläuterte damals in einer 21-stündigen Verzögerungsrede vor dem Senat, weshalb er dem Budget nur zustimmen könne, wenn die Regierung die längst beschlossene Reform der Krankenversicherung wieder zurücknehme. Zudem hat sich Cruz vehement für die Gas-, Kohle- und Ölindustrie eingesetzt. Den Klimawandel stellt er dagegen in Abrede, behauptet sogar, der stärkere CO2-Ausstoss der letzten Jahrzehnte habe die Erde «grüner gemacht».

Ted Cruz wird mit grossen Beiträgen der Ölindustrie unterstützt: Allein die Brüder Farris und Dan Wilks haben fünfzehn Millionen Dollar zum Wahlkampfstart gegeben. Die Wilks-Brüder sind mit dem in Texas boomenden Öl- und Gasfracking reich geworden. Der Investor Toby Neugebauer spendete zehn Millionen Dollar; auch er ist im Öl- und Gasgeschäft aktiv. Die Gelder flossen über den Umweg sogenannter Super-Pacs, politischer Aktionskomitees, die unbegrenzt Geld für Wahlkämpfe ausgeben dürfen.

Waffen gegen «Tyrannen»

Nach ihrer Demo stehen die Leute von Open Carry noch lange auf dem Parkplatz vor «Joe’s Pizza» herum und diskutieren über Politik. Eigentlich könnten sie zufrieden sein: Seit dem 1. Januar dürfen in Texas Handfeuerwaffen offen getragen werden. Doch das genügt den AktivistInnen noch lange nicht. Sie stört es, dass es dafür – anders als bei Gewehren – nach wie vor einen Waffenschein braucht. Zudem möchten sie, dass auch in Schulen und Spitälern das Tragen von Waffen erlaubt wird: «Es kann überall etwas passieren», sagt Präsident Grisham, «selbst in Kirchen wurde schon geschossen. Ich will mich jederzeit gegen Angreifer verteidigen können.» Dass der offen zur Schau getragene Waffenbesitz auch eine Machtdemonstration ist, zeigt eine Kundgebung eines Dutzends bewaffneter und zum Teil maskierter Leute vor einer Moschee im Grossraum Dallas im letzten November. Die Demo richtete sich gegen die «Islamisierung Amerikas». Grisham findet, solche Demonstrationen sollen weiterhin erlaubt bleiben. Jeder habe das Recht auf freie Meinungsäusserung und dürfe dabei auch eine Waffe tragen.

Von den PolitikerInnen in Washington halten die meisten Open-Carry-AktivistInnen wenig. Aktive WaffenfreundInnen tendieren in den USA zu Verschwörungstheorien. Ein junger Mann mit Bart, der als Sechsjähriger mit seinen Eltern aus Deutschland hierherzog und sich als Uwe vorstellt, bezeichnet sich als Anarchist. «Ich möchte verhindern, dass die Regierung die Bevölkerung entwaffnet, um sie so besser zu kontrollieren», beschreibt er die Gründe für sein Engagement. Der Mann mit dem Schottenrock gibt sich als Anhänger der Libertarian Party zu erkennen. Diese Partei will den Einfluss des Staats auf das absolute Minimum begrenzen. Auch für ihn dient der freie Waffenbesitz dazu, «dass die Bevölkerung im Fall einer Tyrannei eingreifen kann».

Eine kleine Umfrage auf dem Parkplatz ergibt, dass Ted Cruz und Donald Trump am meisten Sympathien geniessen. Christoph Grisham will Cruz wählen. Ein grosser, etwa 35-jähriger Mann, der eine verwaschene Baseballmütze trägt, wird seine Stimme Donald Trump geben. «Trump ist unbestechlich, er hat schon genug Geld», lautet sein Hauptargument. Er ist zusammen mit seinem vielleicht achtjährigen Sohn zu diesem Treffen gekommen. Dieser hatte in «Joe’s Pizza» vor versammelter Menge die vier Grundregeln für den sicheren Waffengebrauch zitiert. Jetzt auf dem Parkplatz langweilt er sich.

«Ich werde Trump niemals meine Stimme geben», ruft plötzlich einer in die Diskussion. «Wenn es zum Duell zwischen Trump und Bernie Sanders kommt, wähle ich Sanders», sagt er entschieden, was bei den anderen Erstaunen und Missfallen auslöst. Demokrat Sanders gilt bei den meisten hier schlicht als Kommunist. «Wenn der Präsident wird, müssen wir 93 Prozent unseres Einkommens an die Steuerbehörde abliefern», behauptet ein vielleicht 25-Jähriger, der sich auf eine AR-15 stützt. «Wäre Trump in meiner Kindheit Präsident gewesen, würde ich jetzt nicht hier stehen», erwidert der resolute Trump-Gegner. Seine Eltern sind illegal aus Lateinamerika in die USA eingewandert – mit Trump wären sie bald wieder ausgeschafft worden.

Auffällig viele AktivistInnen von Open Carry sind ehemalige SoldatInnen, die an Kriegseinsätzen teilgenommen haben. Grisham diente zwanzig Jahre in der Armee und war sowohl im Irak wie in Afghanistan stationiert. Er sagt, seine Haare seien zu Anfang der Dienstzeit im Irak braun gewesen, «nach einem Jahr waren sie schneeweiss». Er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung: «Ich habe ständig das Gefühl, bereit sein zu müssen, mich oder meine Familie zu verteidigen.» Als Soldat war er einer Einheit zugeteilt, die noch während der Gefechte tote Feinde nach Gegenständen absuchen musste, die für den Geheimdienst von Interesse sein könnten. Dabei sei er einmal unter feindlichen Beschuss geraten. «Es war ein schreckliches Erlebnis. Ich konnte mich nicht verteidigen, nur fliehen.»

In seinem Haus hat Grisham in jedem Zimmer eine Waffe gelagert. Schon seine kleine Tochter wisse, wie sie mit ihnen umgehen müsse. Als wir uns von der Gruppe vor dem Parkplatz entfernen und uns wieder in die Pizzeria setzen, sagt er, er müsse jetzt an sein Gepäck im Auto denken, es könnte gestohlen werden. Er wisse um seine Ängste und besuche Kurse, um diese abzubauen. Auf die Frage, ob seine Ängste Grund für sein Engagement bei Open Carry seien, sagt er: «Ja, sehr wahrscheinlich schon.»

Ziel ist Enthaltsamkeit

Auch die AbtreibungsgegnerInnen haben durch den Rechtsrutsch in Texas Auftrieb erhalten. Parlament und Regierung des Staats haben in den letzten Jahren mehrere Gesetze und Verordnungen erlassen, die die Arbeit von Planned Parenthood behindern und Abtreibungen erschweren. So hat Texas der Organisation staatliche Fördergelder gestrichen, etwa bei der Brustkrebsprävention und bei der Abgabe von Verhütungsmitteln. Zudem wurden die Regulierungen für Abtreibungskliniken so stark verschärft, dass die Hälfte der Einrichtungen in den letzten Jahren schliessen musste. Minderjährige brauchen für eine Abtreibung die Zustimmung eines Elternteils. Ausserdem sind vor einer Abtreibung zwingend zwei Arztbesuche und eine Ultraschalluntersuchung vorgeschrieben.

Der Abtreibungsgegner Steve Lopez, der vor der Planned-Parenthood-Einrichtung demonstriert, ist mit dem Erreichten aber noch längst nicht zufrieden. Er will, dass alle Niederlassungen der Organisation geschlossen werden. Dabei geht es ihm nicht nur um Abtreibungen. «Der hohe Pornografiekonsum hat die Männer enthemmt», weiss er. «Wir schauen uns doch alle Pornos an und glauben dann, wir müssten so wie im Film mit Frauen umgehen.» Die Folge davon seien nicht nur ungewollte Schwangerschaften, sondern auch Geschlechtskrankheiten. «Wir müssen lernen, enthaltsam zu sein», fordert er.

Wem Steve Lopez, der hier als «Unabhängiger» demonstriert, bei der bevorstehenden Wahl seine Stimme geben will, weiss er noch nicht. Klar ist, der Kandidat müsste gegen Abtreibungen sein. «Entweder Cruz, Rubio oder Trump.» Auf den Einwand, dass Trump sich bislang nicht besonders als Abtreibungsgegner hervorgetan habe, geht Lopez nicht ein. Etwas anderes gefällt ihm an Trump dafür besonders: «Er ist stark.»

Längst nicht alle in Texas sind konservativ und reaktionär. Mary Beth Rogers glaubt sogar an die Rückeroberung des Staats durch die DemokratInnen. «Es wird vielleicht noch ein paar Jahre dauern, aber die Macht der Republikaner wird schwinden», gibt sie sich überzeugt. So sei die Stadt Dallas seit ein paar Jahren wieder in demokratischer Hand. Rogers macht dafür vor allem den zunehmenden Einfluss der Bevölkerung mit lateinamerikanischen Wurzeln verantwortlich, die traditionell den DemokratInnen zugeneigt seien. Allerdings würde sich dieser Wandel nicht automatisch einstellen. «Die Demokraten müssen schon aktiver werden, Kampagnen führen.» Dieser Ansicht ist auch Journalist Forrest Wilders: «Gerade unter den Latinos gehen nur sehr wenige wählen. Es genügt nicht, wenn die Demokraten E-Mails verschicken oder Leute von Robotern anrufen lassen.» Wilders sieht zwar durchaus den Wandel in den Kernstädten, doch sei dieser in den ausufernden Vorstädten noch kaum sichtbar. So erzielen die RepublikanerInnen in den Bezirken nördlich von Dallas, wo in den letzten Jahren Hunderttausende neu zugezogen sind, regelmässig Zweidrittelmehrheiten.

Allerdings bietet den DemokratInnen der jetzige Vorwahlkampf, bei dem Bernie Sanders und Hillary Clinton gegeneinander antreten, eine gute Gelegenheit, in Texas wieder stärker Fuss zu fassen. Zumindest Bernie Sanders, der in Texas als völliger Aussenseiter startete, hat dies recht erfolgreich geschafft. So jubelten ihm schon im Juli vergangenen Jahres an einer Veranstaltung in Dallas 8000 Menschen zu. Inzwischen verfügt Sanders in Texas über sieben Wahlkampfbüros, von denen aus Freiwillige rekrutiert werden. In Dallas ist das Sanders-Büro in zwei Räumen der KommunikationsarbeiterInnen-Gewerkschaft untergebracht. Sanders nimmt mit seinen Forderungen nach einer Krankenversicherung für alle und Gratisbildung Themen auf, die auch in Texas viele beschäftigen.

Die Vorwahl vom 9. Februar in New Hampshire, bei der Bernie Sanders seine Konkurrentin haushoch besiegte, hat der Kampagne zusätzlichen Schub verliehen. Das zeigt sich auch am Abend der Wahl, im Nebensaal der «Los Jimadores Tex-Mex Tequila Factory», einem Restaurant irgendwo in der Suburb zwischen Dallas und Fort Worth. Hier haben Sanders-AnhängerInnen zur Watch-Party geladen.

Im Fernsehen läuft CNN, Bernie Sanders hält seine Siegesrede. Die vielleicht dreissig Anwesenden klatschen immer wieder, etwa wenn Sanders die Pharmakonzerne angreift, die den BürgerInnen mit staatlicher Hilfe das Geld aus der Tasche rauben würden. Das Durchschnittsalter im Raum ist überraschend hoch. Denn eigentlich weiss Sanders besonders viel junge AnhängerInnen hinter sich.

Rick Schoolcraft hat die Watch-Party organisiert. Er trägt mehrere Sanders-Buttons am Hemd. Der quirlige achtfache Grossvater ordnet sich parteipolitisch als «Unabhängiger» ein. So sieht er auch Sanders: Im Gegensatz zu Clinton sei der unabhängig von den grossen Konzernen und Banken. Allerdings liegt Clinton in den Umfragen deutlich vor Sanders, auch wenn ihre Kampagne lahmer ist. Sie kann jedoch auf die Unterstützung prominenter Parteigrössen zählen, auch aus den Gemeinschaften der AfroamerikanerInnen sowie der Latinos und Latinas.

Hoffnungsschimmer Sanders

Mit seiner Forderung nach einer bezahlbaren obligatorischen Krankenversicherung für alle punktet Sanders hier besonders. Die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama reiche nicht aus, sagt Schoolcraft. Er zahle 441 Dollar im Monat für seine Krankenkasse, rund ein Sechstel seines Monatsgehalts. «Und dabei übernehmen die nur einen Teil meiner Medikamentenrechnungen», nervt er sich. Enna McKey, eine rund dreissigjährige Texanerin mit mexikanischen und spanischen Wurzeln, zahlt für ihre Familie 600 Dollar im Monat. Auch sie ist mit den Leistungen unzufrieden. «Es ist ein ständiger Kampf. Ich habe das Gefühl, von denen nach Strich und Faden ausgenommen zu werden.» Eine Zeit lang arbeitete McKey für American Airlines, die die Kosten für die Krankenkasse übernahm. «Dafür war der Lohn miserabel», sagt McKey. Sie habe im Monat nicht einmal 2000 Dollar verdient.

Schoolcraft läuft mit einer Liste herum und fragt alle, wann sie Zeit für «Phone Banking» hätten, das Anrufen potenzieller WählerInnen. Ida Gonzales hat sich bereits eingetragen. Für sie ist Bernie Sanders der Schimmer Hoffnung auf ein würdevolleres Leben. «Viele können sich doch nicht einmal leisten, in den eigenen vier Wänden zu wohnen», sagt die Tochter mexikanischer Eltern. Gonzales lebt als Single in einem Fünfzimmerhaus mit einem Mann und dessen zwei Söhnen sowie einem weiteren Mann zusammen – es sei eine Zweckgemeinschaft, um Wohnkosten zu sparen. Unter der Woche beaufsichtigt sie die beiden Kinder und zahlt dafür keine Wohn- und Essenskosten. Daneben arbeitet sie als Pizzakurierin. «Wir sind Flüchtlinge im eigenen Land», sagt sie mehrmals.

«Ich sage allen, Sanders will ja eigentlich nur das verwirklichen, was in vielen europäischen Ländern normal ist», erläutert Schoolcraft seine Strategie bei der Überzeugungsarbeit. Ob er tatsächlich glaubt, dass ein Einzelner, auch wenn er Präsident wäre, gegen den Widerstand des Establishments ein bezahlbares Krankenversicherungssystem für alle verwirklichen könnte? Schoolcraft ist nicht naiv: «Klar bräuchte es nach seiner Wahl erst recht die Unterstützung der Basis», sagt er und fügt lächelnd an: «Es braucht eben eine Revolution.»

Vor dem «Super Tuesday»

Am 1. März finden in zwölf Bundesstaaten der USA Vorwahlen zur Präsidentschaft statt. Ein schlechtes Abschneiden an diesem Tag könnte die republikanischen Kandidaten Ben Carson und John Kasich zum Aufgeben bewegen. Das würde zu einem Dreikampf zwischen Donald Trump, Ted Cruz und Marco Rubio führen. Für Rubio wäre das ein Traumszenario, weil er dann der einzige noch verbleibende als relativ moderat geltende Kandidat wäre. Mit der vollen Unterstützung des Parteiestablishments hätte er so eine Chance, in den weiteren Vorwahlen den bisher führenden Donald Trump doch noch zu schlagen.

Aufseiten der DemokratInnen dürfte der Zweikampf zwischen Bernie Sanders und Hillary Clinton auch nach dem kommenden Dienstag weitergehen. Dabei kann sich Clinton aufgrund der WählerInnenbefragungen berechtigte Hoffnungen machen, dass die Resultate ihren Wahlkampf beflügeln. Für Sanders dagegen ist der «Super Tuesday» ein grosser Test dafür, wie seine mit viel Basisarbeit von Freiwilligen geführte Kampagne auch im Süden des Landes funktioniert.

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