Generation Hochleistungssex: Und dann muss man an diesem Sex auch noch höchsten Gefallen finden

Nr. 9 –

Viele Jugendliche von heute haben Hardcorepornos gesehen, bevor sie Händchen gehalten haben. Besseren Sex haben sie deshalb nicht. Im Gegenteil: Frust und Angst sitzen tief, und darüber sprechen ist schwierig.

Auf der Fotoapp Instagram: der entblösste Hintern einer jungen Frau. Sie steht mit gespreizten Beinen da, sodass die Schamlippen zu sehen sind. Die Haut wurde eingeölt, die Haare mit Wachs entfernt – sie sieht aus wie eine Plastikpuppe. Darunter die Hashtags #fitgirl, #ass, #motivation. «I would fuck the shit out of your pussy», schreibt ein User unter die Fotografie. «I need to go to the gym so bad», schreibt eine Userin.

«Das ist ein schönes Bild. Ich sehe zwar nicht so aus, aber ich kann den Anblick geniessen», sagt Anna*. Die Sechzehnjährige gehört zur Generation von Frauen, die sich (gegenseitig) selbstbewusst Bitches nennen – nicht als Beleidigung, sondern als Ausdruck sexueller Ermächtigung. Ihre Generation weiss theoretisch mehr über Sex als alle Sechzehnjährigen vor ihr. Von der Funktionsweise von Schwellkörpern bis zu Praktiken wie Fisting hat sie alles gelernt. In der Schule und im Netz. Man würde erwarten, dass Frauen wie sie fantastischen Sex haben. Hört man sich um, erzählen viele junge Leute jedoch von manipulativen Männern, Körperhass, Fitnesszwang, Versagensängsten. Was ist los?

«Von den Jungs wird erwartet, dass sie von Anfang an wissen, was sie tun, und die ganze Arbeit machen», erklärt Anna. Bei den Mädchen heisse es: Du musst dich nicht gross bewegen. Woher diese Ideen kämen, könne sie selbst nicht genau sagen – die Älteren, Erfahreneren erzählten es den Jüngeren weiter. «Zuerst geht es um die Bedürfnisse der Jungs. Wenn man etwas mehr Erfahrung hat, darf man auch als Frau Ansprüche stellen.»

Anna erklärt sich die untergeordnete Rolle der Frau dadurch, dass das Bild des Mannes als Beschützer, ja vielleicht als Tonangeber halt seit Urzeiten existiere. Dieses Muster – der omnipotente Mann, die Frau als Statistin – wird jedoch später selten durchbrochen. Haben sich die Teenager den Ablauf, den sie als Sex verstehen, erst einmal antrainiert, ist es schwer, diese Rollenbilder als Erwachsene wieder abzulegen.

Ein zu erledigender Job

Die Auswirkungen dieser Art, Sex zu haben, zeigen sich nicht sofort. Mirjam (24) sagt aber, der Gedanke an das letzte Jahrzehnt Geschlechtsverkehr schmerze sie. Denn bis vor zwei Jahren habe sie ihre Erregung daraus geholt, dass sie ihm Spass bereite. «Ich war viel zu cool, um ehrlich darüber zu sprechen, wie mir Sex manchmal wehtut oder wie ich mich danach auf die Seite drehte und weinte.» Lange sei das Körperliche für sie nur ein Job gewesen, den sie als Frau zu erledigen hatte, damit die Beziehung funktioniere. «Das führte dazu, dass ich mich und meinen Körper hasste – und den Jungen, den ich eigentlich so gerne mochte, auch.» Niemand in dieser Konstellation habe das verdient. «Ich hatte viel Sex, den ich nicht wollte. Was ich machte, war praktisch Selbstvergewaltigung.»

Bei den jungen Frauen und Männern scheint etwas im Argen zu sein, von sexueller Emanzipation ist wenig zu spüren. Es scheint, als gäbe es ein Richtig und ein Falsch. Das zeigt: Die technische Aufklärung über Sex reicht nicht aus. Viele Jugendliche, auch wenn sie sich geben, als wären sie mit allen Wassern gewaschen, haben keine Ahnung. Darum saugen sie alle Bilder dankend auf, die ihnen Hinweise darauf geben, was Sex denn nun ist – und diese führen in den seltensten Fällen zu befriedigendem Geschlechtsverkehr, sondern zu gefühlskalten zwischenmenschlichen Verhältnissen und Hochleistungssex.

«Von Pornos meinte ich zu wissen, was ich im Bett zu tun habe», erinnert sich Mirjam. «Dort habe ich gelernt, wie ich aussehen, wie ich tönen, wie ich mich bewegen muss.» So habe sie sich sieben Jahre lang den Intimbereich rasiert, obwohl ihr das gar nicht gefalle.

Das Bedenklichste am Lernen von Pornos findet Mirjam aber, dass sie beim Schauen dieser Filme immer die Männerposition eingenommen habe – für diese seien diese Filme gemacht. «Ich kenne die Frauenperspektive nicht – dafür weiss ich, wie Vergewaltigungspornos auszusehen haben.» Besonders interessiert hätten sie als Teenager Filme nach dem Prototyp «Potenter Vater zwingt Kindermädchen zum Sex». «Ich habe Geilheit daraus gezogen, dass die Frau unterdrückt wird – im Nachhinein finde ich das logisch», sagt sie. Denn sie habe im Bett ja schon so vieles mitgemacht, was sie nicht gewollt habe. «Das macht mich tieftraurig. Aber lange nahm ich an, das sei normal.»

Männer müssen immer wollen

Der Sex ist zu einer mechanischen Performance verkommen. Von Erotik und aufregendem Knistern ist kaum etwas zu spüren. Der eigene Körper ist nicht länger Quelle der Lust.

Die Frustration ist nicht nur bei Frauen zu spüren. Auch junge Männer verzweifeln an dem, was sie als Sex praktizieren. Severin ist 27 Jahre alt und hat seit Monaten mit niemandem mehr geschlafen. Er möchte nur noch küssen, wie er erzählt – und zwar so viele Menschen wie möglich. «Küssen gibt mir Liebe und Zuneigung. Dinge, die mir Sex gerade nicht gibt», sagt er. Es sei verwirrend, dass Sex keine Nähe schaffe. Er habe auch schon einen Orgasmus vorgetäuscht, damit die Sache vorüber gewesen sei. Etwas beschämend findet er, dass er lange nicht begriffen habe, dass Frauen ja auch Sex wollten. «Ich dachte immer, ich bin in der schwächeren Position und muss sie zum Sex überzeugen.» Nach einigen Jahren habe er plötzlich begriffen, dass es auch eine weibliche Lust gebe. Als er das erste Mal Nein sagte zu einem One-Night-Stand, sei er zwei Tage lang verstört gewesen. «Männer müssen doch immer wollen.»

Junge Männer haben den Stress, omnipotent sein zu müssen und auf Kommando vögeln zu können. «Den Druck baue ich mir aber selbst auf», findet Severin. Jetzt denke er zum Beispiel, er sollte mal wieder – es seien ja bald vier Monate. Oder einmal habe eine Frau während des Sex «Fick mich hart» gesagt, und er sei völlig aus dem Konzept geraten, weil er dachte, er müsse jetzt irgendwas Spezielles machen.

Als Sexersatz dient Severin unter anderem Snapchat – eine App, über die man sich Bilder versenden kann, die nach einigen Sekunden automatisch gelöscht werden. Dort versendet er immer mal wieder Nacktfotos von sich an Frauen, die er anziehend findet, mit denen er aber nicht unbedingt schlafen will. «Sexting kann reizvoller sein als die Sache selbst», erklärt Severin. Er könne selbst entscheiden, wann er reagiere und wie intim er werden wolle. Das Versenden von aufreizenden Bildern ist wohl das spielerischste Element der jungen Sexualität. Doch sogar hier zerbricht sich Severin den Kopf über die korrekten Regeln: «Als Mann ist Sexting schwieriger. Das Bild von einem entblössten Oberkörper ist wenig prickelnd, das eines schlaffen Penis ebenfalls – und ein erigierter gilt dann schon fast als Belästigung.»

Die Frustrierten flüchten sich ins Virtuelle – dorthin, wo sie ihre Informationen herhaben. Dort ist der Sex kalt, inszeniert, poliert. «Die Mädchen meiner Generation ziehen sich eher für Nacktfotos aus als für echten Sex», erzählt die sechzehnjährige Anna. Diese Snapchat-Bilder werden meist als Screenshot an den Schwarm aus der Schule geschickt. Ein gefährliches Unterfangen, denn: «Viele Mädchen werden heute noch in ganz Zürich gemobbt, weil der Typ das Foto dann herumgeschickt hat», erklärt Anna. Das zeigt, wie verworren die Kommunikation zwischen den Geschlechtern und wie sexistisch der Blick auf die Frauen ist: Zeigt sich eine Frau nackt und willig, wie man es aus den Pornos kennt, wird sie bestraft und beleidigt.

Versenden junge Frauen aufreizende Fotos, werden sie nicht nur für ihre Sexualität verurteilt. Hinzu kommt, dass sie im Netz in Konkurrenz mit all den andern Bildern von Frauen stehen, die die Jugendlichen über ihr Telefon abrufen können. Und diese zeigen durchtrainierte Körper mit Bauchmuskeln und einem grossen, straffen Hintern. «Früher mussten die Mädchen wenigstens nur dünn sein», erinnert sich Mirjam. Aber heute sei die Forderung: Du musst fit sein für Sex. «Instagram suggeriert, jede könne so aussehen, wenn sie sich genug anstrengt.» Hätte sie die Bilder solcher Frauen als Teenager permanent auf ihrem Telefon gehabt, hätte sie ihren Körper wohl noch mehr gehasst, sagt Mirjam.

Die Teenagermädchen knipsen also nicht selbstbewusst Bilder ihrer echten Körper, sondern versuchen, den Models auf Instagram nachzueifern – denn sie wissen, dass die Jungs diese Frauen geil finden. An ihrer Schule habe es deswegen vor einiger Zeit einen Salatboom gegeben, erzählt Anna. Niemand wollte mehr Kohlenhydrate essen. «Das Problem war, dass die Mädchen in der Pubertät dann keine Kurven bekamen und die Jungs das auch nicht schön fanden.» Daher seien Squats – Übungen für einen wohlgeformten Hintern – gerade ein Hype. Die fitten Frauen hätten gegenüber den unfitten definitiv einen Vorteil, wenn es um Männer gehe.

Ein Teufelskreis

Überreizung mit sexuellen Inhalten – Frustration, weil der echte Sex nicht befriedigt – sich im Fitnessstudio abrackern – noch mehr Frustration: Es ist ein Teufelskreis. Diese Generation hat Sex nach einem Drehbuch, das männliche Bedürfnisse in den Vordergrund stellt, den Hochleistungen der Pornos nacheifert und durch unrealistische Ideale Körperhass verbreitet. So trainieren sich junge Frauen und Männer Verhaltensweisen an, bei denen sie nicht nur schlechten Sex haben, sondern auch unemanzipierte Rollenbilder reproduzieren. Auch die nettesten Männer tun so Frauen Gewalt an – und diese sich selbst, indem sie meinen, dass es an ihnen liegt, wenn Sex schmerzt.

Fragt sich also: Warum begehrt niemand auf? Weshalb diskutiert diese Generation nicht über ihren verkorksten Sex? Die Antwort ist einfach: weil die Männer und Frauen an diesem Sex auch noch den grössten Gefallen finden müssen. Denn: Wer keinen geilen Sex hat, macht etwas falsch. Und es gibt nichts Schlimmeres, als zu versagen. Nötig wäre Ehrlichkeit darüber, was schiefläuft; stattdessen läuft diese Generation blind im Hamsterrad. Der Blick auf Sex ist enorm verengt – aus Angst vor den eigenen Fehltritten sieht niemand das Panorama. Dabei müsste ein Sex erträumt werden, der die Lust am eigenen Körper weckt – und nicht den Zwängen von Perfektionismus und Leistung ausgesetzt ist.

Doch das Umdenken in der porno- und fitnessfixierten Masse ist schwierig. «Mit 17 dachte ich: Mit 24 hast du dann besseren Sex», sagt Mirjam. Aber dann geriet sie an einen Mann, der dachte, er sei ein toller Hengst, weil ihm gerade sieben Jahre lang im Bett etwas vorgemacht worden war. Mirjam findet es tragisch, dass die Leute zuerst an ihrem Sex zerbrechen müssen, bis sich etwas ändert. Darum hat sie sich eines vorgenommen: «Ich werde nie wieder einen Orgasmus vortäuschen.»

* Alle Namen geändert.

Zu dieser Recherche

Die AutorInnen Nina Kunz (22) und Michael Kuratli (29) sind Redaktionsmitglieder der «Zürcher Studierendenzeitung» und privat ein Paar.

Für die Recherche zu diesem Artikel haben sie mit zehn Frauen und sieben Männern – Lehrlingen, Studierenden sowie jungen Berufstätigen zwischen 16 und 27 Jahren – gesprochen.