Geschlossene Grenzen: «Warum lasst ihr uns nicht durch?»

Nr. 9 –

Seit Österreich eine Obergrenze für Flüchtlinge eingeführt hat, sind Tausende in Idomeni gestrandet. An der griechisch-mazedonischen Grenze manifestiert sich das Versagen Europas in der Migrationspolitik.

Warten, bis der Schlepper sich meldet: In einem Waldstück bei Idomeni harren jene Flüchtlinge aus, die sich weder ­Hotelzimmer noch Zelt leisten können.

Ein Mann sitzt auf den Bahngleisen, wäscht sich die Hände und lässt sie sich von den Umstehenden desinfizieren. Am Metallpfosten, der das mit Nato-Draht gesicherte Tor zuhält, klebt sein Blut. Fünfzig Personen haben heute, am 29. Februar, das Tor im Zaun, das Griechenland von Mazedonien trennt, aufgedrückt – und sind auf der anderen Seite dem mazedonischen Militär in die Arme gelaufen, das sie mit Tränengas zurücktrieb.

Nun sitzen sie wieder auf der griechischen Seite. Auf dem Bahntrassee. Über ihren Köpfen dreht ein mazedonischer Militärhelikopter seine Runden. Demonstriert Macht. Wenn an der Grenze protestiert wird, lässt das mazedonische Militär auch mal einen Panzer auffahren.

«Wir sind vor Assad geflohen, damit er uns nicht umbringt, und nun wollen sie uns hier umbringen?», sagt Muhammad Saleh*. Er spricht ruhig und gelassen, mit einem Lächeln im Gesicht. Der junge Syrer ist Anfang zwanzig, wie viele hier. «Wir sind nicht vor dem Krieg geflohen, um jetzt hier zu kämpfen.» Seine Freunde rufen den mazedonischen Soldaten zu: «Warum lasst ihr uns nicht durch? Wir wollen gar nicht in eurem Land bleiben.» Einer der Männer hat eine Beule am Kopf, dort, wo ihn die Tränengaspetarde getroffen hat. Andere liegen erschöpft am Boden. Die mazedonischen Soldaten haben mitten in die Menge geschossen, auf Familien mit Kindern. Laut Médecins Sans Frontières mussten 22 Personen verarztet werden, mit Atembeschwerden und Verletzungen vom Stacheldraht, davon 12 Kinder.

300 Leute haben heute für die Öffnung der Grenze demonstriert, zwei Stunden später sind nur noch rund 100 SyrerInnen auf dem Bahntrassee. Sie wollen bleiben. «Wir gehen nicht weg, wir werden hier schlafen», ruft ein Mann auf Arabisch. Die andern applaudieren. Drei afghanische Männer werden freundlich, aber bestimmt von syrischen Flüchtlingen wegeskortiert: Das sei ein syrischer Protest, erklären sie ihnen. Die Afghanen dürften eigentlich gar nicht hier sein – weder an der Grenze noch im Camp. Die griechische Polizei hat letzte Woche über 600 afghanische Flüchtlinge aus Idomeni in andere griechische Aufnahmelager deportiert.

Pannenstreifen als Trottoir

Dennoch ist das Camp heillos überfüllt. Es bietet Platz und Infrastruktur für 1500 bis 2000 Menschen. Zurzeit warten jedoch 9000 auf ihre Weiterfahrt, manche schon seit über zwei Wochen. Längst hat sich um das offizielle Camp eine kleine, täglich wachsende Zeltstadt gebildet. Fast alles Familien. Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind zurzeit sechzig Prozent der Flüchtlinge, die über das Meer nach Europa reisen, Frauen und Kinder. Auf den kleinen, grünen Igluzelten zeigen sich Spuren der Proteste. «Öffnet die Grenzen», steht da auf Englisch. Und: «Helft uns, es ist kalt.» Täglich kommen neue Leute an.

In der ganzen Region floriert derweil das Taxigeschäft. Der Pannenstreifen der Autobahn hat sich in ein Trottoir verwandelt. Vom nächstgrösseren Ort Polikastro, wo die Busse aus Thessaloniki und Athen ankommen, gehen viele Flüchtlinge die letzten zwanzig Kilometer zur Grenze bei Idomeni zu Fuss. Manche laufen gar von Thessaloniki hierher. Bepackt mit Taschen, Rucksäcken und Wolldecken, gehen sie in Richtung Grenze, schieben ihre Verwandten im Rollstuhl vor sich her, tragen Kinder auf dem Arm. Wer sie per Anhalter mitnimmt, kriegt zunächst Ärger mit den Taxifahrern, die sich um ein gutes Geschäft betrogen fühlen. Und schlimmstenfalls auch mit der Polizei: Es droht eine Anzeige wegen Schlepperei.

Im Camp angekommen, müssen die meisten Leute draussen schlafen. Im Grenzkaff Idomeni gibt es nichts ausser einem winzigen Minimarkt, einer Western-Union-Filiale und einer Polizeistation. Wer sich die Taxifahrt nach Polikastro nicht leisten kann, um sich ein Zelt zu kaufen, schläft auf offenem Feld. «Gestern Nacht hat es geregnet. Wir konnten uns nirgends unterstellen, also sind wir im Regen auf unserem Gepäck sitzen geblieben», erzählt eine sechzehnjährige Syrerin. Auf den Zäunen, die in den letzten Wochen im und um das Camp errichtet wurden – und im Gegensatz zu mehr Zelten offenbar rasch aufgestellt werden können –, hängt nasse Wäsche zum Trocknen.

Anstehen für den Club Europa

In Idomeni manifestiert sich das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik gerade am deutlichsten. Willkürlich wird immer wieder neu geregelt, wer die Grenze passieren darf. AfghanInnen dürfen nicht mehr rüber – und auch Syrer und Irakerinnen nur, wenn sie einen Ausweis mit Foto vorweisen können. Griechenland darf sich nicht äussern, wird alleingelassen von den anderen europäischen Staaten. Allein mit 25 000 Flüchtlingen, von denen ein Grossteil nicht in Griechenland bleiben will.

In Idomeni weiss niemand, wann die Grenze geöffnet wird. Und wann nicht. Die Menschen werden tröpfchenweise über die Grenze gelassen – in unregelmässigen Abständen wird das Gitter etwas zur Seite geschoben, mal dürfen drei durch, mal fünf. Wie in einem exklusiven Club mit strikten TürsteherInnen. Der exklusive Club heisst Europa. Die Wartenden müssen sich auf die Erde setzen, das verlangt die griechische Polizei.

Ein Mann ganz hinten in der Schlange erzählt, dass er seit zehn Uhr morgens ansteht. Jetzt ist es Mitternacht. In dieser Nacht wird die Gruppe Nummer 65 durchgelassen, während die Gruppe Nummer 28 noch nicht einmal aufgerufen wurde. Die griechischen Polizisten versuchen sich in Crowd Control. Zimperlich geht anders – wer nicht gehorcht, wird angeschrien, geschubst, getreten. Es kümmert sie nicht, ob der Rest der Familie ganz vorne in der Schlange steht oder gar schon über die Grenze ist. Verwandte rufen sich über den Grenzzaun gegenseitig zu, werden vom mazedonischen Militär weitergetrieben und verschwinden im Dunkeln.

Ein gross gewachsener Mann in einer gelben Regenjacke erklärt einem Polizisten verzweifelt, dass seine Familie ganz vorne in der Schlange stehe. Der Polizist zuckt mit den Schultern. «Haben Sie Papiere vom UNHCR, die bestätigen, dass Sie zusammengehören?» Hat er nicht. «Wo bekomme ich die?» – «Morgen, 10 Uhr», sagt der Polizist. Dann öffnet der UNHCR-Container wieder, der auf Englisch mit «Rechtsberatung» angeschrieben ist. Am Sonntag hatte er den ganzen Tag geschlossen.

Fünfzig Leute dürften nun über die Grenze, meint ein Polizist. Er lächelt gequält. «Es sind also nur noch 6950 übrig. Aber was können wir tun? Mazedonien entscheidet.» Am nächsten Morgen ist von 300 Menschen die Rede, die über die Grenze konnten. Ein Mann, der auch zur Gruppe 65 gehörte, ist immer noch da, er wartet bereits seit sieben Tagen: «Sie versuchen, uns ruhig zu halten, indem sie immer wieder kleine Gruppen von Leuten rüberlassen. Wenn wir protestieren, drohen sie, die Grenze ganz zu schliessen.»

1500 Euro pro Person

Die EU gibt sich weiterhin der Illusion hin, dass sich die Flüchtlinge mit Stacheldrahtzäunen, Helikoptern und Panzern aufhalten lassen – und rasselt sehenden Auges in die nächste humanitäre Krise. Dem Beispiel Österreichs folgend, hat auch Slowenien Obergrenzen für Flüchtlinge eingeführt. Mazedonien, selbst kein EU-Mitglied, soll derweil die Drecksarbeit machen und «die Aussengrenze schützen». Doch eines ist klar: Selbst wenn die «Balkanroute» komplett abgeriegelt wird und geschlossen bleibt, werden die Menschen andere Wege finden.

Wer in Idomeni festsitzt, geht ins Hotel Hara. Es liegt nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt an der Autobahnausfahrt. Gut ein Dutzend Zimmer, in denen je bis zu fünf Leute unterkommen. Eine Nacht kostet zwischen zehn und dreissig Euro pro Person – je nachdem, wer fragt. Das Hotelrestaurant ist stets gut gefüllt. Die Rezeption ist vollgepackt mit «Reiseutensilien»: Crackern, Dosenfleisch, Batterien, Regenjacken, Unterhosen, Turnschuhen. Ein Päckchen Zigaretten kostet hier vier statt der üblichen zwei Euro. In Gruppen sitzen die Gestrandeten zusammen, rauchen, trinken Kaffee, unterhalten sich gedämpft, versuchen, ihre Reise weiter zu organisieren, verhandeln mit Schleppern über Preise, deren Geschäft dieser Tage wieder prächtig läuft.

Wie das Camp ist auch das Hotel Hara überfüllt. Hinter dem Gebäude hat sich eine Gruppe pakistanischer Flüchtlinge unter den Balkonen eingerichtet. Auf dem Parkplatz vor dem Hotel hat eine iranische Familie mit ihrer siebzehn Monate alten Tochter zwei Igluzelte aufgestellt. Ein pakistanischer Schlepper, der wiederum für die albanische Mafia arbeitet, soll sie über die Grenze bringen. Heute oder morgen soll es losgehen. Vielleicht auch übermorgen. 1500 Euro pro Person. Kinder unter sieben Jahren müssen nichts bezahlen. Zu Fuss nachts über die grüne Grenze, dann mit dem Taxi nach Serbien und von dort in einem weiteren Auto nach Österreich.

Immer wieder kommen Menschen aus dem Waldstück auf der anderen Seite der Autobahn, um im Hotel einen Kaffee zu trinken, das Handy aufzuladen oder das WLAN zu nutzen. Im Wald warten jene, die sich kein Hotelzimmer leisten können, übernachten in leer stehenden, teils ausgebrannten Gebäuden oder im Gebüsch. Zweimal am Tag kommt eine Gruppe von AktivistInnen rund um die Küche der Aid Delivery Mission im Wald vorbei, verteilt Essen, Kleider und Schuhe. Bis letzte Woche haben sie jeweils 50 bis 80 Personen im Wald angetroffen, heute sind es gut 170. Sie kommen aus dem Iran, aus Marokko, Algerien und Ägypten, aus Palästina, Afghanistan, dem Libanon und dem Sudan, aus Pakistan und Indien. Hier warten sie auf Geld von Verwandten – oder darauf, dass der Schlepper ihnen endlich sagt, dass es losgeht.

Andere probieren es auf eigene Faust, durch den «Dschungel», wie der Wald hier genannt wird. Doch der Übertritt wird immer schwieriger. Mazedonien und Griechenland trennt zurzeit ein doppelter Zaun. Wie lange er ist, lässt sich schwer sagen, immer neue Abschnitte werden hochgezogen. Dazwischen patrouilliert das Militär. Wer den Zaun umgehen will, ist gezwungen, über die Berge und durch unwegsame Geröllhalden zu laufen. Kaum jemand hat die richtigen Schuhe dafür.

Auch Tarek Asisi* nicht. Der siebzehnjährige Algerier hat eine Platzwunde am Kopf, die mit drei Stichen genäht wurde. «Das war die Polizei in Athen», sagt er – und will lieber nicht weiter darüber sprechen. Seit gestern wohnt er alleine im Wald. Seine Freunde haben gestern Abend versucht, die Grenze nach Mazedonien zu überqueren, sind dort von der mazedonischen Polizei verprügelt und wieder nach Griechenland gebracht worden. Wie unzählige andere sitzen sie nun im Polizeigefängnis der Provinzwache fest, in einer Zelle ohne Licht und funktionierende Toilette.

Ein Mann aus Pakistan hat es letzte Nacht ebenfalls versucht: «Auf der anderen Seite des Zauns war alles voll mit Polizisten und Hunden. Also sind wir wieder umgekehrt.» Heute Nacht will er wieder losgehen. Es wäre das zwölfte Mal.

* Alle Namen von Geflüchteten sind geändert.

Angela Merkels grosser Tag

Obergrenzen in Österreich, geschlossene Grenzen in Mazedonien: Kurz vor dem Flüchtlingsgipfel am 7. März könnten die EU-Länder kaum weiter von einer Einigung entfernt sein.

Dennoch setzt die deutsche Kanzlerin grosse Hoffnungen in den Tag. Neben den Mitgliedsländern wird auch Ankara am Tisch sitzen, der «Schlüsselstaat» für Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Ihr «EU-Türkei-Deal» beinhaltet Geld und Visaerleichterungen für Ankara. Im Gegenzug soll die Türkei ihre Grenze «sichern» und alle syrischen Flüchtlinge aufnehmen, von denen später ein Teil direkt in EU-Länder geflogen wird.

Merkel setzt alles auf eine Karte – dass die anderen Länder mitziehen, ist unwahrscheinlich. Und was passiert, wenn der angesichts der aktuellen Lage utopisch anmutende Plan scheitert? Die Kanzlerin sagte jedenfalls kürzlich in einer TV-Show, sie habe keinen «Plan B».

Nachtrag vom 10. März 2016 : Polizeigewalt gegen Flüchtlinge in Mazedonien

Zurzeit harren nahe des griechischen Grenzorts Idomeni 15 000 Menschen im Morast in Zelten aus und warten auf die Öffnung der Grenze. Auch zahlreiche Journalistinnen, Fotografen und Fernsehstationen befinden sich vor Ort, um die prekären Lebensumstände im Camp und die täglich am Grenzzaun stattfindenden Proteste zu dokumentieren. Als vergangene Woche eine Gruppe von gut 300 Flüchtlingen versuchte, das Tor im Grenzzaun aufzudrücken, gingen die Bilder um die Welt. Auch die mazedonischen Polizisten und Soldaten, die auf der anderen Seite des Zauns standen, haben sich die Aufnahmen wohl genau angeschaut.

In der Nacht vom 3. auf den 4. März durfte eine kleine Gruppe von Menschen legal über die Grenze. Wie nun bekannt wurde, haben mazedonische Polizisten und Soldaten mindestens zwei Männer aus dieser Gruppe, die sie für Anführer der Proteste hielten, massiv misshandelt. Ihnen wurde ins Gesicht geschlagen, und sie wurden nackt ausgezogen und mit Stockschlägen und Elektroschockgeräten traktiert. AugenzeugInnen, die auf der anderen Seite des Grenzzauns auf ihren Durchlass warteten, bestätigen die Berichte. Den beiden Männern wurden schliesslich die Papiere abgenommen, bevor man sie zurück nach Griechenland brachte. Dort versorgte sie Médecins Sans Frontières, einer der beiden Männer wurde mit einer Nackenfraktur ins Spital eingeliefert.

Publik gemacht haben die Vorfälle die AktivistInnen von Moving Europe und Travelling Bureau, die mit beiden Betroffenen und mehreren AugenzeugInnen gesprochen hatten. «Sie erzählten uns, dass im Container der mazedonischen Grenzpolizei Fotos von Wortführern der Proteste hingen», sagt eine Aktivistin von Moving Europe. Zumindest einer der beiden misshandelten Männer war denn auch ein zentraler Akteur der Proteste der vergangenen Tage gewesen; der andere vermutet, verwechselt worden zu sein, da er gar nicht an ihnen teilgenommen habe.

Die mazedonische Regierung dementiert die Vorfälle und bezeichnet die Berichte als «Lügen».

Noëmi Landolt

Vollständiger Bericht auf: www.moving-europe.org.

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