Vierzig Jahre Putsch in Argentinien: Zur Disziplinierung einer anarchischen Gesellschaft

Nr. 12 –

Über ein Jahr befand sich Enrique Fukman in der Gefangenschaft des Militärs. Nun erinnert sich der damals Neunzehnjährige an diese Zeit – von der Argentiniens regierender Präsident nichts mehr wissen will.

Die ehemalige Mechanikerschule der argentinischen Kriegsmarine (ESMA) liegt am nördlichen Rand von Buenos Aires. An freundlichen Tagen weht ein frischer Wind vom Ufer des nahen Río de la Plata herüber. 34 Gebäude in neoklassizistischer Industriearchitektur stehen da auf einem siebzehn Hektar grossen Gelände. In den Jahren der Diktatur (1976–1983) war hier das grösste Folterzentrum des Landes untergebracht. Rund 5000 Menschen hatte das Militär eingesperrt, gequält, unter Drogen gesetzt und dann gefesselt aus Flugzeugen in den Río de la Plata oder ins Meer geworfen. Nur rund 300 überlebten die Gefangenschaft. Einer von ihnen ist Enrique Fukman.

Er steigt hinab in den Keller des ehemaligen Offizierskasinos, wo er vor bald vierzig Jahren gefoltert wurde. Die Kanten der Stufen sind abgeschlagen, «von unseren Fussfesseln aus Eisen», sagt Fukman. Der Durchgang zum Zimmer mit den nackten Bettgestellen, wo die Gefangenen mit Stromstössen gequält wurden, ist sehr niedrig. Auf dem Weg in den Keller muss man sich bücken. «Wir hatten schwarze Kapuzen über dem Kopf», erinnert er sich, «und die Aufseher machten sich einen Spass daraus, uns gegen die Querbalken laufen zu lassen.» Fukman hatte Glück. Er ist nur 1,65 Meter gross und kam durch, ohne an die Balken zu stossen. «Während der Folter flackerte bei jedem Stromstoss das Bild auf dem Fernsehschirm der Aufseher», erzählt er.

Am 24. März 1976 hatte das Militär unter Führung von General Jorge Rafael Videla Präsidentin Isabel Perón ab- und eine dreiköpfige Junta als Regierung eingesetzt. Parteien wurden verboten, das Parlament aufgelöst, politische GegnerInnen gnadenlos verfolgt und eine neoliberale Schockpolitik durchgesetzt. Vorausgegangen waren Jahre politischer und sozialer Unruhen. Isabel Perón, die nach dem Tod ihres Mannes Juan Domingo Perón 1974 von der Vizepräsidentin zur Präsidentin aufgerückt war, paktierte mit rechten PolitikerInnen, Unternehmern und den Militärs und liess ultrarechte Todesschwadronen walten. Schon vor dem Putsch waren über 3500 Menschen ermordet worden oder sind spurlos verschwunden.

«Folter, Zwangsarbeit, Vernichtung»

Fukman war beim Putsch neunzehn Jahre alt und Mitglied der militanten linksperonistischen Montoneros. «Ab Mai 1976 verschwanden viele Genossen», erinnert er sich. Als im August jenen Jahres bei einer Durchsuchung seiner Wohnung eine Druckmaschine entdeckt wurde, tauchte er unter. Der jüngere Bruder wurde im Februar 1977 von der Polizei während einer Strassenkontrolle erschossen, «er war gerade siebzehn Jahre alt». Fukman selbst wurde am 18. November 1978 verhaftet. «Ich war eher ein Zufallsopfer», sagt er, «eigentlich suchten sie jemand anderen.» Man stiess ihn auf die Strasse, legte ihm Handschellen an und zog eine Kapuze über seinen Kopf. Dann wurde er auf den Rücksitz eines Autos gedrängt, mit brennenden Zigaretten gequält, in den Kofferraum gesteckt und zur ESMA gefahren. Dort folterte man Fukman mit Stromschlägen.

«Die ESMA funktionierte wie ein Konzentrationslager», sagt er, «Gefangenschaft, Folter, Zwangsarbeit und Vernichtung.» Die Häftlinge waren unter dem Dach des Offizierskasinos untergebracht. «Wer hier hereinkam, war nur noch eine Nummer.» Fukman war die Nummer 252. Tag und Nacht lagen die Häftlinge eng aneinandergereiht – Männer wurden geschlagen, Frauen nicht. «Aber wenn die Frauen von der Toilette zurückkamen, wurden sie oft vergewaltigt.» Zwei Räume wurden für schwangere Gefangene genutzt. Hatten sie entbunden, übergab man die Kinder Militärs oder ihren Freunden, die Mütter wurden ermordet. Im Festsaal im Erdgeschoss richteten die Offiziere ihre Feiern aus. «Manchmal kamen sie mit ihren Gästen herauf und führten die Gefangenen wie Kriegstrophäen vor.»

Sechs Monate war Fukman in Gefangenschaft, bevor er zum Arbeiten eingeteilt wurde: in der Buchbinderei und zum Auswerten von Zeitungen für die Militärs. «Ich war immer informiert, was draussen geschah», erzählt er. «Ich las die nationale Presse, ‹Newsweek›, die ‹Times›.» Am 18. Februar 1980 wurde er plötzlich nach Hause gefahren. Warum? «Ich weiss es nicht», sagt er, «das wissen nur sie.» Selbst wenn man das Glück hatte, die ESMA zu überleben, steckte doch eine infame Strategie dahinter: Jeder, der freigelassen wurde, stand unter dem Verdacht, ein Spitzel der Militärs zu sein.

Der General zeigte keine Reue

«Wir mussten eine grosse Anzahl von Menschen beseitigen», sagte General Videla 2011 vor Gericht. «Unser Ziel war es, eine anarchische Gesellschaft zu disziplinieren.» Dafür wurden insgesamt rund 30 000 Menschen ermordet. Videla zeigte keinerlei Reue. Seine Diktatur war nur eine von vielen in jenen Jahren: 1964 hatten die Militärs in Brasilien geputscht, 1971 in Bolivien, 1973 in Uruguay und Chile. Immer hatten die USA ihre Finger im Spiel. Sie hatten die meisten Offiziere in ihrer «School of the Americas» in Panama ausgebildet, in Foltertechniken unterrichtet und mit antikommunistischer Ideologie indoktriniert. Ihr Geheimdienst CIA war in die Vorbereitung der Staatsstreiche eingebunden. Videla wurde später vor einem argentinischen Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu drei lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Im Mai 2013 ist der ehemalige General gestorben.

Die ESMA wurde nach dem Ende der Diktatur von der Kriegsmarine weiter genutzt – als sei dort nichts geschehen. Erst 2004 setzte der damalige linksperonistische Präsident Néstor Kirchner durch, dass auf ihrem Gelände eine Gedenkstätte für die Opfer der Militärs eingerichtet wurde. Der seit dem vergangenen Dezember regierende rechte Präsident Mauricio Macri will dieses Gedenken nun verwässern. Er hat den Direktor des nationalen Erinnerungsarchivs, Horacio Pietragalla, entlassen, der selbst Kind einer politischen Gefangenen ist, zur Adoption freigegeben wurde und seine wahre Herkunft lange nicht kannte. Macri will das Gelände mit allen möglichen staatlichen und internationalen Behörden füllen, vom Büro des staatlichen Ombudsmanns über die Niederlassung von Unicef bis hin zum Institut gegen die Diskriminierung von Indigenen. Das Erinnern an die grausamen Jahre der Diktatur wird damit an den Rand gedrängt.

Mitarbeit: Toni Keppeler.

Ein geschmackloser Besuch

«Wenn etwas getan werden muss, sollten Sie es schnell tun», sagte der damalige US-Aussenminister Henry Kissinger 1976 zu seinem argentinischen Amtskollegen Admiral César Augusto Guzetti. Kurz zuvor, am 24. März, hatte das Militär geputscht. Guzetti konnte Kissinger nur so verstehen: Die Militärjunta solle RegimegegnerInnen verhaften, foltern und töten.

Ausgerechnet zum 40. Jahrestag des Putschs kommt nun US-Präsident Barack Obama auf Staatsbesuch nach Argentinien. Man werde 6500 bislang geheim gehaltene Dokumente über die Militärherrschaft zugänglich machen, hat seine Regierung ankündigen lassen – eine überfällige Geste.

Überlebende Opfer der Diktatur finden Obamas Auftritt an diesem Gedenktag trotzdem geschmacklos. Adolfo Pérez Esquivel etwa, wie der US-Präsident Träger des Friedensnobelpreises, erinnerte in einem offenen Brief daran, dass die Militärherrschaft in Argentinien auf «Finanzierung, Training und Koordination durch die USA» aufgebaut war, und forderte Obama auf, seinen Besuch zu verschieben.