Abschied von der Mutter: Dann spricht sie plötzlich vom Baum vor dem Fenster

Nr. 13 –

Fast bis zum 92. Lebensjahr führt Lydia Bähler-Steinmann ein selbstständiges Leben. Bis es nicht mehr geht. Mit der Diagnose einer mittelschweren Demenz beginnt für sie und ihre Tochter eine Odyssee durch Pflegeinstitutionen. Um selbstbestimmt sterben zu können, ist es da aber schon zu spät.

Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie ist der festen Meinung, wir seien auswärts essen und würden danach zu ihr gehen, zu ihr nach Hause. Das Wort dafür gibt es in ihrer Sprache nicht mehr. Nachdrücklich nennt meine Mutter die Anschrift: den Tiergarten 39. Später sollte sie nur noch sagen: die 39. Und schliesslich einzig fragen: «Wie komme ich rüber? – Dorthin. Du weisst schon.»

Am Ende eines langen Flurs das Zimmer, das nun ihres sein soll. Eines der Büchergestelle meiner Mutter, ihre rote Espressomaschine, Fernseher und Musikanlage samt Lieblings-CDs sind schon da. Die Beethoven-Klavierkonzerte mit Alfred Brendel, die sie sich nie mehr anhören wird. Aus dem Schrank schwallt mir, wie ich ihre Kleider einräume, ein stechender Geruch von Kräutertee entgegen. Das ist alles, was von der früheren Bewohnerin zurückgeblieben ist, jener Bewohnerin, die für meine Mutter zur Option geworden ist. – So jedenfalls drückte sich die Dame an einem Freitag aus: Es gebe eine Option auf ein Einzelzimmer. Ich solle am Montag wieder anrufen. Tatsächlich verwirklichte sich diese Option übers Wochenende, und ich führte das Eintrittsgespräch für meine Mutter mit Blick auf die Abbildung einer weissen Lilie mit dem Text: «Wir nehmen Abschied von …»

Suche nach einem freien Zimmer

Wenigstens ein Einzelzimmer, in einem privaten Pflegezentrum. Die Stadt Zürich hatte zur fraglichen Zeit nur Zweier- und Dreierzimmer im Angebot. Etwa jenen Schlauch, in dem sich die beiden Betten an den Fussenden praktisch berührten und zur gegenüberliegenden Wand gerade mal so viel Platz blieb, um sich einmal umzudrehen. Davor ein gefangener Raum, der kaum je einen Sonnenstrahl erhalten hat. Zwei Frauen, beide die Haare frisch bigoudiert und violett getönt, schwiegen je an einer Kante des Riesenquadrats, zu dem leere Tische zusammengeschoben worden waren, vor sich hin.

Ich besichtigte sämtliche Pflegezentren, in denen mir der Bettendienst der Stadt ein freies Zimmer meldete, und viele weitere kommunale, private und kirchliche Einrichtungen, zunächst in Zürich, dann in der Umgebung bis nach Uster und Baden. Überall war die Wartezeit lang oder ungewiss, je nach Sterberate. Meine Mutter benötigte aber, je mehr Zeit verstrich, immer dringender eine Bleibe mit Betreuung. Sie musste die Übergangspflege verlassen, die sich an einen Spitalaufenthalt anschloss. Acht Wochen, mehr sind dafür nicht vorgesehen. Und diese Frist neigte sich bedrohlich ihrem Ende zu. Insofern war es geradezu ein Glücksfall, nun eben dieses Zimmer gefunden zu haben, in dem meine bald 92-jährige Mutter für sich sein konnte. Ihr Streben nach einem selbstbestimmten Leben war bislang stark ausgeprägt gewesen. Und so wie ich es einschätze, hatte sie diesen Wesenszug mit der Diagnose einer mittelschweren Demenz nicht verloren. Im Gegenteil.

Schon nach wenigen Minuten will meine Mutter wissen, wie lange sie in dieser Abstellkammer bleiben müsse. Bis es ihr besser gehe, sage ich. Sie will es genauer haben, und ich frage zurück, ob sie sich denn zutraue, allein zu Hause zurechtzukommen. Verunsichert meint sie, vielleicht bleibe sie doch noch etwas in dieser Reha. Ich selbst redete mir ebenfalls ein, dass es – nebst einer Seniorenresidenz, die ausserhalb jeglicher finanzieller Reichweite lag – Alternativen gäbe. Vielleicht liesse sich ein Betreuungsnetz aufbauen, gleichsam rund um die Uhr, bezahlbar – und ohne Betreuungspersonen aus Osteuropa auszubeuten. Vielleicht würde sich meine Mutter nicht länger gegen ein SOS-Armband sträuben. Und vielleicht würde sie in ihrer Wohnung auch nicht mehr stürzen, wenn sämtliche Teppiche aufgerollt wären. Vielleicht.

Auf die Quartier-Spitex der Stadt Zürich konnte und wollte ich nicht mehr zählen. In der Woche wechselten sich dort meist vier Teilzeitangestellte ab, manche sprangen nur gelegentlich ein. Meine Mutter vermochte sich keines der Gesichter zu merken, die dazugehörigen Namen schon gar nicht. Wie oft erschrak sie, wenn plötzlich eine fremde Frau vor ihr stand, weil sie den Fernsehton viel zu stark aufgedreht und das Läuten nicht gehört hatte. 

Immer häufiger rief mich meine Mutter am späteren Vormittag an, beklagte sich über starke Schmerzen und dass ihr niemand Medikamente gebracht habe. Zunächst glaubte ich ihr nicht, bis ich dann herausfand, dass die Spitex ohne Absprache mit dem Hausarzt oder mir den Einsatzplan geändert hatte. Statt am Morgen erhielt meine Mutter ihre Schmerzmittel, auf die sie wegen eines Rückenleidens angewiesen war, meist erst gegen Mittag.

Mit der Spitex Kontakt zu halten, erwies sich als äusserst schwierig bis unmöglich. Suchte ich die Ansprechperson für meine Mutter, hatte diese entweder frei oder war gerade unterwegs. Aber immerhin erfuhr ich beiläufig, dass diese Ansprechperson schon wieder eine andere war. Einen Rückruf erhielt ich kaum. Meine Briefe und Faxschreiben blieben alle unbeantwortet. Über eine E-Mail-Adresse verfügten nur wenige der Spitex-Angestellten. Die Leiterin des Pflegediensts hatte beispielsweise keine. Für wenige Wochen konnte ich mich verlässlich mit einer Pflegefachfrau der Spitex per E-Mail austauschen, die aber nicht für meine Mutter zuständig war. Sie beantwortete meine Fragen, erkundigte sich und bestätigte beispielsweise, dass auch die Abendeinsätze zu einer anderen als der vereinbarten Zeit stattfanden. Bis es ihr nebst all ihrer anderen Arbeit zu viel wurde und sie mich wieder an eine nicht erreichbare Ansprechperson für meine Mutter verwies.

Bis zum nächsten Sturz

Meine Mutter war Meisterin im Aufrechterhalten der Fassade, bis fast zu ihrem Lebensende. Sie schilderte mir lebhaft, wie sie täglich mit ihrem Rollator einkaufen gehe und unter die Leute komme. Sie lege besonderen Wert auf frisches Gemüse und Obst. Ganze Menüs, die sie sich zubereite, liess sie in mehreren Gängen vor meinem geistigen Auge entstehen. Dabei war mir klar, dass sie ihre Wohnung seit mindestens anderthalb Jahren nur noch für Arzt- und Friseurbesuche verliess, in einem für sie äusserst beschwerlichen Unterfangen mit Rollator oder an Krücken. Seither kaufte ich für sie ein, Lebensmittel, sonstige Sachen des täglichen Bedarfs und Kleider. Zunehmend setzten die Früchte Schimmel an, und die Esswaren im Kühlschrank vergammelten.

Bei jedem Besuch warf ich, von meiner Mutter als Lebensmittelpolizistin bezeichnet, Nahrungsmittel weg. Wie auch immer: Ich musste feststellen, dass sie sich praktisch ausschliesslich von Zopf, Butter und Honig ernährte, dazu aber doch der Tageszeit angepasste Espressosorten auswählte. Nun ging ich auch öfter mal mittags bei ihr vorbei, nicht nur abends, und kochte etwas möglichst Gesundes. Für die anderen Tage bereitete ich Mahlzeiten vor, die sie sich im Ofen aufwärmen konnte. Denn ein Mikrowellengerät mit nur einem Bedienknopf war nicht aufzutreiben. Mehrfachfunktionen überforderten meine Mutter mittlerweile. Deshalb befand sie alle etwas komplizierteren Apparate für untauglich und warf sie fort.

Immer häufiger kam es vor, dass ich sie am Abend nicht telefonisch erreichte. Meist war das Funkteil nicht geladen. Meine Mutter erklärte dann, von allen Argumenten unbeeinflussbar, dieses würde auf der Station unglaublich heiss und einen Wohnungsbrand verursachen. Ein schnurgebundenes Telefon wollte sie aber auch nicht. Nicht wissend, ob die Spitex schon bei ihr gewesen war, bat ich entweder eine Nachbarin, bei ihr vorbeizuschauen, oder ich machte mich quer durch die Stadt auf den Weg zu ihr. Mehr als einmal fand ich sie auf dem Boden liegend, wie etwa an jenem schwülheissen Sommerabend, an dem sie gar nicht mehr richtig ansprechbar war. Sie hatte sich einen Rückenwirbel gebrochen.

Nach dem Spital konnte meine Mutter noch einmal nach Hause. Bis zum nächsten Sturz, der einen Aufenthalt in der Akutgeriatrie nach sich zog. Nebst diversen gravierenden körperlichen Beeinträchtigungen lautete die Diagnose auf mittelschwere Demenz gemischten Typs, also Alzheimer und gleichzeitig vaskuläre Demenz, hervorgerufen durch Gefässveränderungen im Hirn. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr alleine leben können. Das wäre in der Übergangspflege genauer abzuklären.

Am 23. Dezember rief eine Mitarbeiterin des spitalinternen Sozialdiensts an. Die vier Wochen, die die Fallpauschale der Krankenkasse abdeckt, seien abgelaufen. Man habe aber einen Platz für meine Mutter. Am 27. werde sie verlegt. Diesen Platz wollte ich mir vorher ansehen. Von der Architektur her durchaus ansprechend, befand er sich aber in einer Institution der Langzeitpflege für Schwerstdemente. Dem Spital war ein Irrtum unterlaufen.

Nach einigem Hin und Her eröffnete sich dann doch die Möglichkeit für einen Wechsel in die Übergangspflege. Ich traf eine Stunde vor der Zeit, auf die das Taxi bestellt war, im Spital ein – mit einem Koffer, um die Kleider und ein paar andere Dinge einzupacken. Meine Mutter sass alleine im Fernsehzimmer, in einem Rollstuhl, schweissüberströmt in der hochgeschlossenen Daunenjacke und an den Beinen ein graues Etwas, zwölf Nummern zu gross. Wahrscheinlich gehörten die Hosen jener Frau, die mit meiner Mutter zeitweise das Zimmer geteilt und sie jeweils mit den Worten «Jetzt chunnt de dumm Siech wieder» begrüsst hatte.

Rüber – aber wohin genau?

Nun also Endstation Pflegeheim. Wo meine Mutter nie hatte hinwollen. Sie war deshalb der Sterbehilfeorganisation Exit schon in deren Anfängen beigetreten. Bevor sie ein fremdbestimmtes Dasein fristen müsse, lasse sie Exit kommen und sich mit den Füssen voran aus der Wohnung tragen. Das gelte auch, falls sie senil würde. Sie unternahm vieles, um dem entgegenzuwirken, frischte ihr Italienisch auf, besuchte Gedächtnistrainings und löste Kreuzworträtsel. Sie führte ein «Vergess-Buch». Dennoch verpasste sie den Moment für einen selbstgewählten Abgang von dieser Welt. Darauf angesprochen, dass sie vielleicht das eine oder andere vergesse, brauste sie auf, ich solle erst mal so alt werden wie sie. Dann würde ich erleben, dass das völlig normal sei. Meine Mutter vermittelte vorerst auch keine Anzeichen, dass sie sterben möchte. Aber so leben wie jetzt, das wollte sie auch nicht – oder höchstens vorübergehend, in der Reha eben.

Meine Mutter lehnt es ab, an Aktivitäten des Pflegezentrums teilzunehmen. Nicht einmal das gemeinschaftliche Singen reizt sie. Das sei für «Gfätterlischüeler». Dabei war Singen in ihrem früheren Leben wichtig. Es gehört zum Nachhall meiner Kindheit, aber nicht mehr zu ihren Erinnerungen – wie wir zusammen mit schwarzen Brillen vor der Höhensonne sassen und ein Volkslied oder auch mal die Bildnisarie aus der «Zauberflöte» anstimmten. Bis vor ein paar Jahren noch sang meine Mutter jeweils mit, wenn am Radio eine Opernarie ertönte, am liebsten bei den tragischen. Sie kannte nicht nur die Melodien, sondern alle Texte. Alles weg. Sie mag überhaupt keine Musik mehr hören.

Essen will meine Mutter alleine, auf dem Zimmer. Meist wird ihr der Wunsch erfüllt. Es deprimiere sie und verschlage ihr den Appetit, wenn an ihrem Tisch ein Mann gefüttert werde und die andere Frau vor sich hinstarrend kein Wort mit ihr wechsle. Sie schaut aus dem Fenster auf den Baum, der mittlerweile Blätter bekommen hat, und findet ihn schön. Trotzdem interessiert sie vor allem eines: Wie kommen Büchergestell und Espressomaschine rüber und sie auch. Ich winde mich. Ihre Wohnung muss gekündigt werden. Die Miete und zusätzlich die Kosten des Pflegezentrums liegen auf Dauer nicht drin.

Inzwischen ist für die Wohnungsaufgabe alles eingefädelt. Meine Mutter will immer noch rüber. Ich vermag nicht nachzuempfinden, ob sie damit wirklich ihr bisheriges Zuhause meint oder ob es sich, wie in den Ratgebern über die Kommunikation mit demenzkranken Menschen nachzulesen ist, ganz allgemein um ein Sehnen nach Aufgehobensein handelt. Vielleicht beides. Allerdings befürchte ich, dass Ersteres überwiegt, auch wenn die Demenzexpertin am Radio meint, das mit der Selbstbestimmung werde völlig überbewertet.

In meinen Träumen erinnert sich meine Mutter wieder genau und fährt mit einem Taxi in den Tiergarten. Sie findet aber ihre Wohnung nicht und sitzt vor dem Haus, vom Regen durchnässt. Ich suche die Hilfe einer Fachärztin für Gerontopsychiatrie. Sie übernimmt es, meiner Mutter zu eröffnen, dass sie nicht mehr nach Hause kann.

Ein letztes Mal am Telefon

Nach einer Weile stosse ich wie verabredet dazu. Meine Mutter begrüsst mich mit den Worten, ich käme gerade rechtzeitig. Da sei eine Ärztin, die glaube, ihr sagen zu müssen, sie habe hier zu bleiben. Jetzt kann ich nicht mehr umhin und bestätige dies. Meine Mutter weint, protestiert und fragt mehrfach, was sie denn Schlimmes getan habe, um auf diese Weise bestraft zu werden. Nachdrücklich betont sie, das bisschen Haushalt erledige sie mit links. Dass sie vergesse, ihre Medikamente einzunehmen, sei gar nicht wahr. Gestürzt sei sie auch noch nie. Es hilft nichts, keine Argumente, keine Umarmung, sie bleibt dabei.

So begleite ich die Psychiaterin nach draussen und kehre mit bangen Gefühlen zu meiner Mutter zurück. Sie sitzt am Tisch, nimmt ihr Abendessen ein und spricht, wie wenn die soeben geführte Auseinandersetzung nie stattgefunden hätte, vom Baum vor dem Fenster. Ob es wohl eine Linde sei. Das zumindest habe ich jeweils auf ihre Nachfragen hin behauptet, auch wenn ich nicht ganz sicher bin. – Wie soll ich das nur einordnen. Hat meine Mutter wirklich innert ein paar Minuten die Barmherzigkeit des Vergessens ereilt? Ich hoffe es.

Doch fragt sie weiter, wie lange sie noch in dieser Reha bleiben müsse und wie ihre Sachen denn rüberkämen. Sie ergänzt manchmal, sie könne wohl nie mehr rüber. Dann bestätige ich sie mit Bedauern. Meist ist sie damit zufrieden. Bis sie sich eines Tages am Telefon erkundigt, wo eigentlich ihr Barockschrank und das vergoldete Besteck seien. Als sie hört, dass diese Sachen nun bei mir sind, zeigt sie sich beruhigt. Sie stellt diese eine Frage nicht mehr und wehrt sich auch kaum noch dagegen, wenn etwas von ihr verlangt wird, das sie nicht will oder bislang nicht gewollt hat. Das Pflegeteam bekommt nicht mehr zu hören, ihre Tochter sei Anwältin und werde schon zum Rechten schauen. – Ich überlege hin und her, ob meine Mutter nun resigniert oder sich arrangiert hat, versuche, ihre Äusserungen zu deuten, und hoffe einfach, dass sie nun angekommen ist. Dass sie nicht am Verlust all dessen leidet, was ihr einmal etwas bedeutet hat und auch nicht mehr ins Gedächtnis zurückzurufen ist: all die schönen Seiten des Lebens, denen sie so viel abzugewinnen vermochte.

Sechs Monate hat meine Mutter nun in diesem Heim zugebracht, sie wünscht mir nun jeweils für mein weiteres Leben alles Gute, sollte sie am nächsten Tag nicht mehr aufwachen. Ihr sei sterbensübel, sagt sie, sie habe wohl Ebola. Sie isst nichts mehr, trinkt kaum etwas. Man lässt sie. Und ich sie auch, versuche, sie einfach so gut als möglich zu begleiten. Ein letztes Mal ist sie am Telefon, ruft um Hilfe, sie müsse sterben, und hängt auf. Wie ich die zuständige Pflegeperson darüber unterrichte, lacht diese lauthals. Gestorben werde nicht so schnell. Ich würde schon Bescheid erhalten, wenn es so weit sei. Drei Tage später steht auf dem Klavier gegenüber dem Lift das Bild der weissen Lilie. «Wir nehmen Abschied von Frau Lydia Bähler-Steinmann.»

Regula Bähler (62), Rechtsanwältin, ist seit 1997 auch Hausjuristin der WOZ. Zuvor war sie viele Jahre als Journalistin tätig, unter anderem beim Schweizer Fernsehen.

Demenz und Menschenwürde

In der Schweiz leiden bereits über 100 000 Menschen an einer demenziellen Erkrankung. Wie geht eine Gesellschaft mit Menschen um, die einen grossen Teil ihrer Selbstbestimmung verlieren? Was heisst das für Angehörige? Wie ist die Situation in den Pflegeheimen? Und: Wie dringend braucht es eine öffentliche Diskussion über den begleiteten Freitod von Demenzkranken? In einer kleinen Serie beschäftigen sich verschiedene Autorinnen mit Fragen rund um diese Themen.

Zum Beispiel die Stadt Zürich : Anspruch und Wirklichkeit

Nicht dass ein falscher Eindruck entsteht: Es hat in den letzten Lebensmonaten meiner Mutter auch heitere Momente gegeben. Die Pflegefachpersonen sind ihr vornehmlich mit Respekt und Einfühlungsvermögen begegnet und haben sie kaum spüren lassen, welchem Druck und welcher Belastung sie bei ihrer krass unterbezahlten Arbeit ausgesetzt sind. Dass immer wieder Fehler geschehen, ist systemimmanent. Es erstaunt eher, dass nicht mehr schiefläuft. Trotzdem ist nicht auszudenken, was mit demenzkranken Menschen geschieht, die niemanden haben, der sich für sie wehrt.

Meine Mutter hatte realistischerweise gar keine andere Wahl, als ihren letzten Lebensabschnitt in einem Pflegeheim zu verbringen. Auch wenn die Spitex-Betreuung zu Hause verlässlich funktioniert hätte. Auch wenn ich selbst noch ein paar mehr Aufgaben übernommen hätte – was angesichts meiner vollen Berufstätigkeit kaum möglich gewesen wäre. Meine Mutter musste rund um die Uhr gepflegt werden, und ich habe keine Geschwister, mit denen ich mich hätte abwechseln können. Und eben: «Ihr» Pflegezentrum war, im Verhältnis zu anderen gesehen, ein Glücksfall.

Allerdings klaffen Welten zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Selbstdarstellung der Institutionen und gelebtem Alltag. Wohl nicht nur in der Stadt Zürich, die mit Stolz ihr Modell präsentiert, das vom Zuhause über die Akutgeriatrie und Übergangspflege ins Pflegeheim führt. Angeblich sollen sie aus der ganzen Welt anreisen, um dieses Modell zu studieren. Die politische Herausforderung, würdige Betreuungsangebote für ältere und alte Menschen – nicht nur solche, die an Demenz leiden – zu schaffen, bleibt derweil bestehen.

Regula Bähler