Demenz: Streitpunkt begleiteter Suizid

Nr. 13 –

Über allem steht die Menschenwürde. Darüber ist man sich einig. Sobald es aber darum geht, wie sie zu gewährleisten wäre, gehen die Meinungen auseinander. Laut Angaben der Schweizerischen Alzheimervereinigung leiden in der Schweiz rund 120 000 Menschen an einer demenziellen Erkrankung. Fachleute rechnen damit, dass es schon in fünfzehn Jahren doppelt so viele sein werden. Der nahezu vollständige Verlust an Selbstbestimmung bei vielen Demenzkranken konfrontiert die Gesellschaft mit Fragen, die viele am liebsten gleich wieder ausblenden würden.

Der Artikel in dieser WOZ, in dem sich die Zürcher Rechtsanwältin Regula Bähler an den langen Abschied von ihrer Mutter erinnert – und sich dabei auch kritisch über die Verhältnisse in der Pflege und Betreuung von Demenzkranken äussert –, war zunächst für ein Buch gedacht, das in drei Wochen unter dem Titel «demenz. Fakten Geschichten Perspektiven» erscheint. Inzwischen ist klar, dass der Beitrag im 650 Seiten dicken Werk nicht zu lesen sein wird. Auslöser dazu waren zwei Texte zum Thema Exit, die die zunächst als Mitherausgeberin tätige Marianne Pletscher als zwingend erachtete – die inzwischen alleinige Herausgeberin Irene Bopp-Kistler, Fachärztin für Geriatrie, sowie die Verlegerin Anne Rüffer hingegen auf gar keinen Fall im Buch haben wollten. Worauf neben Pletscher und Bähler drei weitere Autorinnen ihre Texte zurückgezogen haben.

Damit sie ihre Erfahrungen als Angehörige trotzdem öffentlich machen können, werden einige dieser Texte nun im Rahmen einer Serie in der WOZ publiziert. Es darf nicht sein, dass die menschenunwürdigen Verhältnisse unter den Tisch gewischt werden, denen viele demenzkranke Menschen ausgeliefert sind – zumal sie selber sich kaum wehren können. Insbesondere betrifft das auch die Frage des begleiteten Suizids. Rein rechtlich ist dieser bei Demenz in der Schweiz zwar erlaubt. In der Praxis jedoch wird es kompliziert: Die betroffene Person muss zum Zeitpunkt der Einnahme des tödlichen Getränkes noch urteilsfähig sein (was das konkret heisst und wie schwierig es ist, den Moment dafür nicht zu verpassen, wird im nächsten Teil der Serie erläutert). Dazu kommt, dass viele ÄrztInnen und Betreuungspersonen den begleiteten Freitod bei Demenz ablehnen. Wofür es gewiss auch hehre Gründe gibt.

Dann gibt es aber noch einen weiteren heiklen Aspekt, den man in dieser Diskussion nicht ausser Acht lassen sollte: In Zeiten steigender Gesundheitskosten könnten auch ziemlich «unheilige» Argumente für die Suizidbeihilfe laut werden.

Nimmt man die Menschenwürde beim Wort, darf ein begleiteter Freitod nie und nimmer ökonomisch begründet sein. Entscheidend ist das Recht auf Selbstbestimmung. Denn so verdienstvoll die Arbeit all derer ist, die Demenzkranken zu einem möglichst würdevollen Leben bis zu ihrem Tod verhelfen wollen: Angesichts der vielen Betroffenen, die zum Teil jahrelang nicht mehr frei über ihr Leben bestimmen können, muss es möglich sein, darüber zu diskutieren, inwieweit jeder Mensch selbst – aus freiem Willen und ohne dabei stigmatisiert zu werden – entscheiden darf, ob er Suizid begehen möchte.

Genau darüber braucht es eine öffentliche Diskussion. Marianne Pletscher, die sich als Dokumentarfilmerin seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, schreibt zu Bählers «Abschied von der Mutter»: «Der Text zeigt deutlich, um was es mir als Mitherausgeberin ging: Nicht nur zu zeigen, wie toll Demenzinstitutionen arbeiten, sondern den Finger auch auf wunde Punkte zu legen. Die Würde des Menschen darf nicht nur in neuen Betreuungsformen wie Demenzspitex, Heimkonzepten und in Demenzstrategien theoretisch gefordert, sondern muss auch praktisch gewährleistet sein: Dabei geht nichts ohne grösstmögliche Selbstbestimmung.»

Regula Bähler bringt es auf den Punkt, wenn sie in ihrer Absage an Bopp und Rüffer hinzufügt: «Jedenfalls möchte ich, nachdem ich meine Mutter auf ihrem letzten Lebensweg, so gut wie ich konnte, begleitet habe, weder im Leben noch im Sterben jemals so ausgeliefert und fremdbestimmt sein wie sie.»

Demenz und Menschenwürde

In der Schweiz leiden bereits über 100 000 Menschen an einer demenziellen Erkrankung. Wie geht eine Gesellschaft mit Menschen um, die einen grossen Teil ihrer Selbstbestimmung verlieren? Was heisst das für Angehörige? Wie ist die Situation in den Pflegeheimen? Und: Wie dringend braucht es eine öffentliche Diskussion über den begleiteten Freitod von Demenzkranken? In einer kleinen Serie beschäftigen sich verschiedene Autorinnen mit Fragen rund um diese Themen.