Brasilien: Der Butler aus dem Horrorfilm

Nr. 16 –

Sollte das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff laufen wie geplant, wird Michel Temer Staatschef – obwohl er selbst unter Korruptionsverdacht steht.

Man müsse auf Michel Temer verdammt gut aufpassen, schrieb der Kolumnist Luis Fernando Verissimo am Montag in der Tageszeitung «O Globo». In der Nacht zuvor hatte die brasilianische Abgeordnetenkammer mit der nötigen Zweidrittelmehrheit ein Absetzungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff beschlossen. Stimmt auch der Senat mit einfacher Mehrheit zu – was als fast sicher gilt –, wird Rousseff vor einer endgültigen Entscheidung für zunächst 180 Tage vom Amt suspendiert. In der Zwischenzeit und nach einer allfälligen definitiven Absetzung übernimmt ihr Vize das Präsidentenamt: Michel Temer.

So gut wie niemand will ihn haben. Wären morgen Wahlen, bekäme er laut Umfragen gerade zwei Prozent der Stimmen. Der Name des 75-Jährigen wird im Zusammenhang mit verschiedenen Korruptionsaffären genannt. Doch der Nächste in der verfassungsgemässen Nachfolge wäre noch schlimmer: Sollte Michel Temer etwas zustossen, stünde Brasilien mit Eduardo Cunha als neuem Präsidenten da, dem sinistren Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses mit nachgewiesenen Schwarzgeldkonten in der Schweiz. Eben deshalb, schreibt Verissimo, müsse man gut auf Temer aufpassen.

Ein geübter Wendehals

Temer wie Cunha gehören der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) an und haben Korruptionsvorwürfe am Hals. Das ist für den PMDB nichts Ungewöhnliches. Die mitgliederstärkste Partei Brasiliens war seit 1985 an allen Regierungen beteiligt, was viel über ihre Flexibilität aussagt. Sie spielt die Mehrheitenbeschafferin und liess sich das schon immer gut bezahlen. Temer drehte dafür in den 35 Jahren seiner Parteimitgliedschaft schon oft sein Fähnchen: Er hatte sich für eine Agrarreform ausgesprochen – und dagegen. Er war für die Senkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn Jahre – und dagegen. Er sprach sich für eine von Rousseff vorgeschlagene Reform des politischen Systems aus – und dagegen. Der Vizepräsident gibt sich so unentschieden, dass er nicht einmal einen Lieblingsfussballklub zu nennen weiss. Wegen seines stets stoischen Gesichtsausdrucks wurde er schon mit einem Butler in einem Horrorfilm verglichen. Er ist mit einem 32-jährigen ehemaligen Model verheiratet; sie hat sich seinen Namen in den Nacken tätowieren lassen.

Man kann sich über Temer amüsieren, unterschätzen darf man ihn nicht. Er hat in den vergangenen Wochen ein perfektes Machtspiel hinter dem Rücken von Dilma Rousseff getrieben. Als klar war, dass sich die Stimmung im Land gegen die Präsidentin gewendet hatte, forcierte er den Austritt des PMDB aus der Regierungskoalition. Er selbst aber lehnte es ab, die Konsequenzen zu ziehen und als Vizepräsident zurückzutreten. Stattdessen versuchte er, sich für Rousseffs Nachfolge zu positionieren, lud Abgeordnete in seine Residenz ein, schmiedete Bündnisse. Unterdessen trieb sein Parteifreund Cunha im Parlament das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff voran.

Wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung im Parlament gelangte – per Whatsapp-Nachricht – Temers geplante Antrittsrede als Präsident von Brasilien an die Medien. Das Audio sei nur für einen Vertrauten bestimmt gewesen, entschuldigte sich Temer, ein Versehen. Er sei einfach ein bisschen unerfahren im Umgang mit solchen Programmen. Niemand glaubte ihm. Offenbar sollten die BrasilianerInnen schon einmal an den zukünftigen Präsidenten gewöhnt werden.

Temer kündigte in dieser Rede eine «Regierung der nationalen Rettung» an und versprach einerseits, die Sozialprogramme der Arbeiterpartei zu erhalten. Andererseits annoncierte er diverse Sparprogramme, um den Haushalt zu sanieren. Um die schrumpfende Wirtschaft wieder anzukurbeln, will er mehr sogenannte Public Private Partnerships (PPP) nach brasilianischer Art lancieren. Dabei werden öffentliche Bauvorhaben von Privatunternehmen erledigt, die im Gegenzug Vorteile vom Staat erhalten, zum Beispiel Grundstücke oder Steuererleichterungen. Solche Zuwendungen liegen oft über dem Wert der erbrachten Leistungen: PPPs sind ein klassisches Einfallstor für Korruption.

Zwanzig Jahre offene Hand

Sollte Temer Brasiliens nächster Präsident werden, hängt seine Zukunft von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ab. Verbessert sie sich schnell, würden seine Korruptionsaffären von den konservativen Medien mit ziemlicher Sicherheit «vergessen» werden. Das wäre eine ganze Menge: Temers Name taucht mehrfach in Zusammenhang mit dem Schmiergeldskandal um den staatlichen Erdölkonzern Petrobras auf – im Gegensatz zu Dilma Rousseff. Zudem findet sich sein Name auch in Unterlagen von Bauunternehmen und Aussagen von deren Chefs. Sie sollen ihn seit 1996 mit Millionen bestochen haben. Im Gegenzug sind ihm angeblich Aufträge etwa im Strassenbau zugeschanzt worden.

Auch gegen Temer wurde ein Antrag auf Amtsenthebung gestellt. Doch Parlamentspräsident Cunha lehnte diesen Antrag vorsorglich schon einmal ab. So wird Brasilien – vorausgesetzt, die Absetzung von Rousseff läuft wie geplant durch die Institutionen – mit zwei ausgemachten Schurken an der Staatsspitze erwachen. Das hat niemand gewollt. Ausser Michel Temer, Eduardo Cunha und der PMDB.