Toggenburg: Der Schatz am Schwendisee

Nr. 16 –

Ein Visionär wollte das Toggenburg mit Musik und Gesang retten. Die Idee eines Klanghauses begeisterte fast das ganze Tal. Bis das St. Galler Kantonsparlament die finanzielle Unterstützung verweigerte.

  • Die Musik um den Säntis ist nicht vom Rhythmus oder von der Melodie bestimmt, sondern vom Klang: In der Schellenschmiede Alt St. Johann.
  • Ort der Stille: Am Schwendisee.
  • Bekannt von den Kägi-fret-Waffeln: Die Churfirsten.
  • Neue Landmarke: Die Bergstation von Herzog und de Meuron auf dem Chäserrugg.
  • Bäuerlich wie industriell: Strassenszene in Nesslau.
  • Symbol des Zerfalls: Hotelruine in Wildhaus.
  • Der Klang wurde zum Lebensthema: Klanghaus-Initiant Peter Roth an den Thurwasserfällen.
  • Rechts am Ufer soll das Klanghaus stehen: Der Schwendisee in der Abenddämmerung.
  • Sang schon im Zürcher Grossmünster: Der Kirchenchor Alt St. Johann, mit Annelies Huser (Dritte von links).

Annelies Huser eilt ins Kirchgemeindehaus Alt St. Johann. Es steht am Ausgang des Strassendorfs, das sich links und rechts die Abhänge hochzieht. Sonnenhalb geht es hinauf zum Säntis, schattenhalb zu den Churfirsten. Annelies Huser kommt von sonnenhalb, wie sie eilen zahlreiche DorfbewohnerInnen ins Kirchgemeindehaus, nehmen ihr Notenheft aus einer Kiste und stellen sich im Halbkreis um ein Klavier. Wie jeden Montag findet die Probe des evangelischen Kirchenchors statt. Beginn ist erst um halb neun Uhr abends, damit BäuerInnen wie Huser vorher die Arbeit im Stall erledigen können. Die Probe beginnt mit Gymnastik, es folgen Stimmübungen, dazwischen Ermahnungen der Dirigentin, den Dorftratsch erst in der Pause auszutauschen. Dann setzen die Sopranstimmen ein: «Gott schenkt sich uns, damit wir schenken». Alt, Tenor und Bass kommen dazu: «Gott schenkt sich uns, damit wir schenken, von seiner Kraft und Liebe». Ein Kirchenchor im Nirgendwo und doch im halben Land bekannt, die Auftritte führten ihn bis ins Zürcher Grossmünster.

«Die Musik zieht sich durch meine Familie», erzählt Annelies Huser. Bereits ein Vorfahre im 18. Jahrhundert, der Instrumentenbauer Ulrich Ammann, hatte Flöten und Klarinetten geschnitzt sowie Hausorgeln konstruiert. Huser fand durch ihren Bruder zum «Johlen», wie das Jodeln hier genannt wird. Von den drei Jodelchören nahm nur einer Frauen auf. Als Huser den Kehlkopfsprung unter Beweis gestellt hatte, mit dem ein Johler oder eben eine Johlerin automatisch vom Brust- zum Kopfton wechselt, war sie willkommen. Später wurde sie Leiterin des Churfirstenchörli, begann, im Kirchenchor mitzusingen, gibt heute Kurse im Naturjodel. Alles sei zur richtigen Zeit gekommen, sagt Huser, bloss eines habe sie über die Jahre lernen müssen: «Man singt nicht nur für sich selbst, sondern kann anderen damit auch eine Freude bereiten. Mir war gar nicht bewusst, was für einen Schatz wir haben mit dem Naturjodel und dem Gesang.» Deshalb habe sie die Idee mit dem Klanghaus am Schwendisee gut gefunden. Es könnte den Schatz heben.

Die erste Niederlage

«Das Klanghaus soll ein Haus werden, in dem der Klang wohnt», erklärt Komponist Peter Roth. «So wie in einem Bienenhaus die Bienen wohnen.» Ein Gebäude mit dem spezifischen Zweck, den Klang möglichst gut zu entfalten, geeignet für Proben von Chören, Sängerinnen und Jodlern. Oben am Schwendisee, einem Moorsee im Schatten der Churfirsten, sollte es zu stehen kommen. Gemeinsam mit Kollegen besass Roth dort eine Pension, in der er Gesangskurse anbot. Mit seiner Idee eines Klanghauses ging Roth im Jahr 2002 zu Peter Zumthor. Der Architekt, berühmt für seine solitären Bauten, habe nach der ersten Audienz gefragt, wie still es am Schwendisee sei. Als ihm Roth versicherte, dass es dort absolut still sei, erlaubte ihm der Architekt, seinen Namen für das Projekt zu verwenden. «Auf der Heimfahrt mit dem Auto habe ich vor Freude geschrien wie ein Irrer», erinnert sich Roth. Er hatte alles, was er fürs Erste brauchte: eine bestechende Idee, einen geeigneten Bauplatz, einen berühmten Architekten. Nun galt es, Geld zu finden.

Der Kanton St. Gallen signalisierte Interesse. Er verfügte in jenen Jahren über 250 Millionen Franken aus der Teilprivatisierung seiner Kantonalbank. Die Regierung wollte das Kapital über einen Zukunftsfonds in Forschung, Bildung und Kultur investieren. Das Klanghaus wäre ein mögliches Projekt gewesen. Doch der Zukunftsfonds rief Opposition von unterschiedlicher Seite hervor. Die Gewerkschaften befürchteten, die Vorlage münde in die vollständige Privatisierung der Kantonalbank. Die SVP behauptete, die Regierung würde ohne weitere demokratische Prozesse über die Verwendung des Kapitals bestimmen. Die Stimmbevölkerung lehnte das Projekt ab. Statt in die Zukunft investierte der Kantonsrat, angetrieben von FDP und SVP, fortan in Steuersenkungen für Unternehmen. Der Erfolg blieb allerdings aus, Einnahmen und Ausgaben gerieten in Schieflage. Seither jagt in St. Gallen ein Sparpaket das andere.

Die zerzausten Haare stehen Peter Roth vom Kopf wie kleine Antennen. Sie scheinen jedes Geräusch zu empfangen. Gleichzeitig verfügt Roth über das nötige Sendungsbewusstsein für seine Projekte. Und das Stehaufvermögen. Die Idee des Klanghauses wollte er nach der Ablehnung des Zukunftsfonds nicht aufgeben. Sie war nicht erst mit Zumthor entstanden, sondern hatte sich über vierzig Jahre entwickelt. Und hatte einst nicht alles mit einem Fiasko begonnen, das sich in einen Erfolg wendete?

Roth hatte um 1968 am Zürcher Konservatorium Schulmusik studiert, danach zog er in eine AussteigerInnen-WG ins Toggenburg, mit dem ganzen Hippieprogramm: «Schafe, Esel, selbstgefärbte Wolle.» Als Musiklehrer übernahm er die Leitung des Kirchenchors in Alt St. Johann. Auf Weihnachten probte man eine Kantate von Johann Sebastian Bach. «Die Aufführung wurde zum Desaster.» Dreimal habe der Chor zu einer Fuge ansetzen müssen. Mit der polyfonen Musik, in der die Stimmen selbstständig zusammenklingen, hätten die SängerInnen nichts anfangen können. «Sie waren sich gewohnt, in einem Lied zur gleichen Zeit denselben Text zu singen oder wie im Jodel sogar nur einen Vokal.» Roth wollte nach der Aufführung die Leitung des Chors abgeben, zu peinlich war ihm alles.

Das Tal stimmt ein

Auf die Enttäuschung folgte die Überraschung. Als Roth wenig später im Militärdienst aufmüpfig und in den Arrest gesteckt wurde, schrieb er im Gefängnis seine erste Komposition. Ausgehend von einem Zitat aus der Bibel, die in der Zelle lag. Roth brachte das Stück in den Kirchenchor zurück und machte eine Entdeckung: «Die Sängerinnen und Sänger waren nicht mehr müde nach der Probe wie vor Weihnachten, sondern wirkten wach und aufgestellt.» An Bachs grossartiger Komposition könne es nicht gelegen haben. Aber die Mitglieder des Chors hätten in seinem eigenen bescheidenen Stück wohl die ihnen bekannte Gesangskultur entdeckt: «Die Musik in den Alpentälern ist nicht vom Rhythmus oder der Melodie bestimmt, sondern vom Klang. Dabei wird ständig ein Grundton moduliert.»

Roth hatte sein Lebensthema gefunden: den Klang, seine Erforschung im mündlich überlieferten Liedgut rund um den Säntis, seine Weiterentwicklung in neuen Kompositionen. Im Kirchenchor Alt St. Johann hatte er gleich auch seine ersten MitstreiterInnen gefunden. Als der Zukunftsfonds scheiterte, konnte er auf diese zählen. Wenn es auch noch kein Klanghaus gab, so riefen sie das ganze Toggenburg zur Klangwelt aus: mit Kursen, die von JodlerInnen wie Annelies Huser erteilt werden, mit einer Schmiede, in der Schellen produziert werden, mit einem Wanderweg, an dem Klangexperimente stehen. Zudem gibt es in Alt St. Johann alle zwei Jahre ein Naturstimmenfestival mit Chören aus aller Welt.

Peter Roth ist auf Durchreise, er ist ins Restaurant Metropol in St. Gallen gekommen, um vom Klanghaus zu erzählen. Das passt ganz gut, hatte das Toggenburg doch historisch eine enge Beziehung zur Stadt. Der protzige Name des Cafés am Bahnhof zeigt, dass St. Gallen einmal bedeutsamer war als heute. Die Stadt war ein Handelszentrum in der Industrialisierung. Hier wurden die Waren der SpinnerInnen, der WeberInnen und später der StickerInnen aus dem Umland gehandelt, aus dem Toggenburg oder dem Appenzell. Die ausgebauten Webkeller der Bauernhöfe und die Fabriken an den Bachläufen zeugen noch heute davon, wie auch die Eisenbahnlinie, die von St. Gallen ins Toggenburg führt, den früheren Industrieorten entlang, bis sie in Nesslau abrupt endet. Es ist eine Geografie hochgradiger Arbeitsteilung, die Bauern im Toggenburg sind seit Mitte des 18. Jahrhunderts meist Bauern im Nebenerwerb. Es ist eine Geschichte der kolonialen Verflechtung, die Baumwolle kam von den Sklavereiplantagen in der Karibik, und die ToggenburgerInnen exportierten ihre bunten Tücher nach Afrika und Ostasien. Es blieb davon das Gefühl eines Verlusts: 2001 wurde mit der Heberlein Textil AG der einst grösste Toggenburger Industriebetrieb geschlossen, die letzten Angestellten verloren ihre Arbeitsstelle.

Griff früher in der Ostschweizer Wirtschaft alles ineinander wie in den Schifflistickmaschinen, so passte mit der Zeit immer weniger zusammen. Der Kanton St. Gallen, von der geografischen Form her ein Ring, stiebt seit den neunziger Jahren förmlich auseinander: Das Rheintal kauft im Vorarlberg ein, der «Sarganserländer» bezieht seine überregionalen Nachrichten von der «Südostschweiz», das Linthgebiet ist Vorstadt von Zürich, die Stadt St. Gallen liegt weiterhin nicht am Bodensee – und das Toggenburg geht vergessen.

Der Tourismus erwacht

Die Kennzahlen, die einem die Regionalplanung in Wattwil in die Hände drückt, belegen die Stagnation. Stieg die Bevölkerungszahl der Schweiz zwischen 2004 und 2014 um elf Prozent, so ging sie im gleichen Zeitraum in der Region Toggenburg leicht zurück, um ein Prozent auf 35 400 EinwohnerInnen. Auch die Beschäftigungsquote ist leicht rückläufig. Von Wattwil mit seinen drei Betonhochhäusern, die wie ein kühner urbaner Gruss am Ortsausgang stehen, führt die Strasse rasch in die Landschaft. Der Schnee auf den Wiesen ist geschmolzen, es herrscht Güllewagenstossverkehr. Richtung Obertoggenburg wird sichtbar, welche Branche am meisten leidet: der Tourismus. Unten im Tal, in Ebnat-Kappel, ist das Hotel Kapplerhof geschlossen, oben in Wildhaus ist das Hotel Acker eine Bauruine. Dazwischen stehen in Alt St. Johann der «Schweizerhof» und der «Hirschen», in Unterwasser der «Sternen» zum Verkauf.

Martina Schlumpf führt durch den leeren «Schweizerhof», der Zwischensaison hat. «Das Hotel kommt mir manchmal vor wie ein Puppenhaus», sagt die Mittzwanzigerin an der hölzernen Reception und lacht: unten die Wirtsstube, darüber ein grosser Saal für Gesellschaften und die knarrenden Hotelzimmer. Sie habe im Hotel eine unbeschwerte Kindheit verbracht. Während des Studiums half sie im Betrieb und erlebte, wie die Eltern rund um die Uhr arbeiteten und das Geschäft dennoch schwieriger wurde. Neben den schneearmen Wintern machte den Hotels die zunehmende Mobilität zu schaffen. Die Skiferien, die früher eine Woche oder länger dauerten, sind dem Tagestourismus gewichen. «Meine Eltern haben beizeiten reagiert und im Sommer auf Seniorengruppen gesetzt», erzählt Schlumpf. Die nächste Saison sei schon ausgebucht.

Doch nach der Pensionierung der Eltern will keines der Kinder das Hotel übernehmen, alle haben Berufe fern der Gastronomie gewählt. Und ihre Arbeitsorte liegen meist abseits des Toggenburgs. «Die fehlenden Arbeitsstellen sind für meine Generation das grösste Problem», meint die Kommunikationsfachfrau. Wer für ein Studium das Tal verlasse, finde kaum mehr zurück, auch wenn es sie, wie Schlumpf, für Skitouren immer wieder zurückziehe. Darum habe sie auch das Projekt des Klanghauses begrüsst. Gerade weil es kein Hotel wäre, würde es Übernachtungen ins Tal bringen. Und auch Arbeitsstellen, sie selbst würde sich gerne für die Kommunikation bewerben.

Manchmal stehe auch die Bescheidenheit der ToggenburgerInnnen der Veränderung im Weg: «Viele denken: Wenn es die letzten zwanzig Jahre lief, warum dann nicht auch die nächsten? Die Zeit verstreicht hier langsamer als anderswo.» Für das Klanghaus gebe es im Tal aber eine breite Unterstützung. Aus Spass hat Befürworterin Schlumpf das Projekt an einem Dorffest einmal kritisiert. «Darauf entbrannte ein Streit mit einem Bauern, der mir alle Vorzüge aufzählte.»

Dass es mit dem Wandel schnell gehen kann, zeigt eine Fahrt auf den Chäserrugg. Erinnert die Zwischenstation noch an den Ovomaltine-Charme von Skigebieten des letzten Jahrhunderts, erhebt sich oben elegant die aus lokalem Holz gebaute Bergstation der Seilbahn, eine Landmarke der Architekten Herzog & de Meuron. Finanziert haben den Bau Matthias Eppenberger, ein aus dem Tal stammender Privatbanker, Ehefrau Mélanie, Spross einer französischen Weinproduzentenfamilie, und weitere Geldgeber wie Skispringer Simon Ammann. «Vielleicht ist es einfacher, wenn man von aussen kommt, um die Schätze zu erkennen, die im Toggenburg liegen», sagt Mélanie Eppenberger. Die Präsidentin der Toggenburger Bergbahnen schwärmt von der Nähe des Gebiets mit seinen natürlichen Schönheiten zu den Agglomerationen. Wenn sich das etwas in Vergessenheit geratene Tal wieder entwickeln wolle, müssten die touristischen Angebote auf die Stärke der Region setzen: «Die Gäste kommen, wenn sie einen speziellen Grund haben, wenn ihnen ein natur- und kulturnahes Erlebnis ermöglicht wird, sei es die neue Bergstation auf dem Chäserrugg oder ein Klanghaus.» Wichtig sei ihr auch ein schonender Umgang mit den Ressourcen, etwa bei Beschneiungsanlagen. Bisweilen blockieren althergebrachte Strukturen die Entwicklung. So bestehen weiterhin zwei Bergbahnbetriebe, neben den Toggenburger Bergbahnen die Wildhauser Bergbahnen. Nach dem Neubau auf dem Chäserrugg lieferten sie sich einen Tarifstreit. Dass Bewegung in den Tourismus gekommen ist, zeigt die aktuelle Meldung über eine liechtensteinische Generalunternehmung, die in Wildhaus ein neues Familienhotel bauen will. Der Name: «Klanghotel».

Die zweite Niederlage

Als die St. Galler Regierung 2006 beschloss, als Kitt zwischen den Regionen je einen Kulturbetrieb zu fördern, bekam das Klanghaus eine zweite Chance. Die Neuauflage fand ohne Peter Zumthor statt. ArchitektInnen hatten einen Wettbewerb über das Klanghaus erstritten, an dem er nicht teilnehmen wollte. Gegen internationale Konkurrenz setzten sich schliesslich die Zürcher Architekten Marcel Meili und Markus Peter durch. «Die Räume kann man stimmen, das Klanghaus wird ein begehbares Instrument», zeigt sich Peter Roth vom Entwurf begeistert. Damit ihm niemand Bereicherung unterstellen kann, ist er fünf Jahre vor dem Verkauf des Grundstücks an den Kanton als Miteigentümer aus der Pension Seegüetli ausgestiegen.

Drei neue Kulturbetriebe wurden vom St. Galler Kantonsparlament genehmigt. Dann war am 1. März das Klanghaus traktandiert. Die Baukosten waren mit 24 Millionen budgetiert, 5 davon sollten Private beisteuern. Die Subvention an die Klangwelt sollte auf jährlich 600 000 Franken verdoppelt werden. Kritik an den Baukosten (von der SVP), an den Betriebskosten und am Chefgehabe von FDP-Kulturminister Martin Klöti (von der GLP), regionalpolitische Ressentiments, weil das Toggenburg seine Kantonsschule behalten darf (von FDP- und CVP-KantonsrätInnen aus dem konkurrierenden Linthgebiet) und einige Abwesenheiten (auch bei SP und Grünen) brachten das Projekt zu Fall. Der Entscheid des Kantonsrats, der eine Volksabstimmung verhinderte, wurde zu einer Momentaufnahme für St. Gallen: ein Kanton, der sich die eigene Zukunft erspart, wie die NZZ einmal schrieb, ökonomisch stagnierend und mit einer Abwanderung von jungen Erwachsenen konfrontiert, verstrickt in regionalpolitische Manöver – auf der Suche nach einer neuen Identität.

Im Toggenburg reagierte man erbost auf den Entscheid. «Wir waren alle total überrascht», sagt Mathias Müller. «Die Empörung war gross», sagt Martin Sailer. Beide wurden kürzlich in den Kantonsrat gewählt, über das Klanghaus konnten sie noch nicht abstimmen. Müller politisiert für die CVP, Sailer als Parteiloser für die SP. Als Typen könnten sie unterschiedlicher nicht sein: Müller, der Bauernbub aus der Region, studierter Regionalentwickler, der schon mit knapp dreissig Stadtpräsident von Lichtensteig wurde, mittlerweile ist er auch Präsident der Stiftung Klangwelt; Sailer, einst als Primarlehrer aus St. Gallen gekommen, langjähriger Countrymusiker, heute Kleinkunstveranstalter. Seinen «Zeltainer», ein Theater aus Schiffscontainern, stellt er über den Sommer in Unterwasser auf. Was die beiden verbindet: dass sie die Situation des Tals gleich einschätzen.

«Kleinzentren werden in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen», gibt sich Müller zuversichtlich. «Die Leute möchten wieder am gleichen Ort leben und arbeiten, statt stundenlang zu pendeln. Das Toggenburg bietet zudem eine intakte Natur.» Sein Städtchen, an der Bahnkreuzung zwischen Zürich, St. Gallen und Wil gelegen, ist in den letzten fünf Jahren leicht gewachsen. Müller will leer stehende Fabrikgebäude für Start-ups zur Verfügung stellen und die Kultur fördern. «Die Impulse sollten nicht von aussen kommen, sondern aus dem Tal.» Genau das sei beim Klanghaus der Fall gewesen. Deshalb gibt er das Projekt noch nicht verloren. Er stellt sich eine Landsgemeinde vor, an dem das weitere Vorgehen debattiert wird. Auch für Sailer ist der Nutzen der Kulturförderung offensichtlich. Angefangen hat er sein Kleintheater ohne Unterstützung. Heute erhält er eine kleine Subvention. Daraus entstehe das Siebenfache als Wertschöpfung für die Region. Und noch etwas sei wichtig: «Meine Bar ist abends häufig der einzige Treffpunkt im Ort.» Hinter dem Klanghaus steht Sailer «bedingungslos», wie er sagt: «Es ist schon zu viel passiert, um die Idee aufzugeben.» Eine Rettung könnte auch eine Volksinitiative bringen.

Oben am See

Auch der bekannteste Toggenburger Politiker ist auf Durchreise. SVP-Präsident Toni Brunner lässt es sich nicht nehmen, die Meinung der Partei zum Klanghaus im St. Galler «Metropol» zu erläutern. Selbstverständlich habe er seiner Kantonsratsfraktion keine Direktiven erteilt, und vermutlich hätte er selbst aus regionalpolitischen Motiven am Schluss für das Klanghaus gestimmt: «Warum soll man als Region zurückstehen, wenn die anderen beglückt werden?» Doch er habe mit Peter Roth schon vor zehn Jahren über die Finanzierung gestritten. Ein solches Projekt müsse so weit wie möglich privat finanziert sein. «So wie …», Brunner muss selbst lachen, als er das sagt, «so wie das Christoph Blocher auf der Musikinsel Rheinau macht.» Die Kulturpolitik des Kantons würde überall nur Klumpfüsse schaffen.

Was sagt er zum Vorwurf, den man im Toggenburg hinter vorgehaltener Hand hört: dass der prominente Brunner gar nichts tue fürs Tal? Zwei regionale Naturparks hat er aktiv verhindert. «Wenn die Leute von mir erwartet haben, dass ich von Bern Köfferli voller Geld heimbringen würde, dann gebe ich ihrem Vorwurf recht», entgegnet Brunner und schwingt sich dann zum Freiheitskämpfer auf. Mit seinem Einsatz gegen die Naturparks habe er verhindert, dass von aussen über das Toggenburg verfügt werden könne. «Ich habe dem Toggenburg die Freiräume bewahrt.» Ansonsten gilt: vorwärts in die Vergangenheit. Ein Potenzial für die Zukunft sieht Brunner unter anderem in Autobergrennen und erneuten Fis-Skirennen. Eine Neuauflage des Klanghauses in der heutigen Form lehnt er dagegen ab.

Brunner ist derzeit im Wahlkampf. Nicht für sich, sondern für Partnerin Esther Friedli. Über Nacht trat sie der SVP bei, um für den Regierungsrat zu kandidieren. Der Kandidat im ersten Wahlgang war gescheitert, Friedli war seine Managerin. Die Chancen der Berner Zuzügerin bei der Wahl vom kommenden Sonntag gegen einen Banker von der FDP gelten als intakt. Friedli gibt sich moderat, auf den Plakaten, die im Toggenburg die Strassen säumen, ist das SVP-Logo nur klein zu sehen. Bei einem Gespräch in Wattwil wird aber rasch klar, dass sie auf Parteilinie ist. «Es geht um das Staatsverständnis», führt die ehemalige Staatsangestellte aus, die als Generalsekretärin im Bildungsdepartement arbeitete. «Wo möglich, soll die Kultur privat finanziert werden. Wenn weitere Sparrunden kommen, muss auch die Kultur Abstriche machen.» Die Kultur müsse im Alltag gelebt werden. «Das Johlen braucht keine Förderung. Es steckt tief in den Leuten drin. Wenn in der Beiz ein paar johlen, dann läuft es mir kalt den Rücken runter.» Eine Neuauflage des Klanghauses will sie dennoch unterstützen, falls sich Private stärker beteiligen. Die Schwierigkeiten des Toggenburgs spürt zwar auch Friedli. «Die Ferienwohnungen um unser Bauernhaus sind wenig bewohnt.» Doch erst auf Nachfrage fällt ihr eine Vision für das Tal ein: Sie unterstütze den Campus für eine geplante Berufs- und Kantonsschule.

Martina Schlumpf steuert den Subaru ihrer Eltern vom «Schweizerhof» hinauf zum Schwendisee. Von oben betrachtet, wirkt das Toggenburg sanft und weich. Langsam zieht die Dämmerung auf, färbt die Landschaft in ein blaues Licht. Es ist tatsächlich ganz still hinten am Moorsee. Nur das Knirschen auf dem Schnee ist zu hören. Schlumpf hat ein Feuer entfacht. Sie blickt hinüber zum Schwendisee und meint zuversichtlich: «Wenn man genau hinschaut, kann man das Klanghaus schon sehen.»

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