Britannien: Labour sind die Kämpfe auf der Strasse nicht mehr peinlich

Nr. 17 –

Der britischen Labour-Partei unter ihrem neuen Vorsitzenden Jeremy Corbyn prophezeiten viele Medien und PolitikerInnen einen schnellen Niedergang. Doch der dezidiert links politisierende Corbyn straft sie Lügen.

In der britischen Politik steht die konservative Regierung derzeit mit dem Rücken zur Wand, während die oppositionelle Labour-Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn in wichtigen Fragen zu punkten weiss. So musste die Regierung vergangene Woche ihre Bereitschaft signalisieren, sich mit bis zu 25 Prozent an den britischen Stahlwerken des indischen Konzerns Tata zu beteiligen. Dieser hatte Ende März angekündigt, die Werke verkaufen zu wollen, weil sie unrentabel seien. 40 000 Jobs sind in Gefahr, am meisten davon im walisischen Port Talbot. «Ich sehe, dass mein Verstaatlichungsprogramm übernommen worden ist», twitterte der Labour-Abgeordnete und Schattenfinanzminister John McDonnell, nachdem die Absichtserklärung der britischen Regierung bekannt geworden war. Dass die konservative Regierung nach langem Zögern von einer partiellen Verstaatlichung spricht, nachdem die Labour-Partei wochenlang genau dies gefordert hat, ist bezeichnend.

Ein Loch im Staatshaushalt

Anfang dieses Jahrs machte das Zerwürfnis zwischen Corbyns AnhängerInnen und seinen GegnerInnen in der Labour-Fraktion täglich Schlagzeilen. Nachdem der dezidiert links auftretende Politiker im September mit überwältigender Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt worden war – obwohl ihm Monate zuvor nur minimale Chancen eingeräumt worden waren –, schlug Corbyn vehementer Widerstand seitens seiner eigenen Fraktion und der Medien entgegen: Dem neuen Vorsitzenden wurde die Befähigung abgesprochen, effektive Oppositionspolitik zu betreiben, da er zu radikale Positionen vertrete. Mehrere Schattenminister traten aus Protest zurück. In den vergangenen Wochen jedoch sind die kritischen Stimmen innerhalb der Partei leiser geworden, die Gefahr eines Putsches seitens der Labour-Rechten ist vorerst gebannt. Denn die Politik der Partei hat unter Corbyn an Profil und Ausstrahlung gewonnen. Mehrere Gründe sind dafür verantwortlich.

Erstens schlittern die regierenden Tories von einer Krise in die nächste. Der Haushaltsplan, den Finanzminister George Osborne Mitte März vorgelegt hatte, wurde wegen des darin vorgesehenen drastischen Sozialabbaus so heftig kritisiert, dass Osborne zurückrudern musste. Die Kürzung der Sozialleistungen für Behinderte soll es jetzt doch nicht geben. Dafür hat sich im Haushalt ein vier Milliarden Pfund grosses Loch aufgetan, und das Selbstbild der Tories als verantwortungsvolle Verwalter der Staatsfinanzen ist beschädigt. Als zwei Wochen danach die Stahlkrise ausbrach, offenbarten sich die Grenzen konservativer Wirtschaftspolitik noch klarer: Wirtschaftsminister Sajid Javid meinte sogleich, dass Schutzzölle gegen billige chinesische Importe ausgeschlossen seien und auch eine Verstaatlichung der britischen Stahlindustrie nicht infrage komme. Auch er muss jetzt zurückbuchstabieren.

Zudem ist Gesundheitsminister Jeremy Hunt seit Monaten in einen Disput mit den AssistenzärztInnen verwickelt, der sich derzeit zuspitzt. Um gegen Verträge mit verschlechterten Arbeitsbedingungen zu protestieren, sind die ÄrztInnen schon mehrmals in den Streik getreten – unter dem Zuspruch der Öffentlichkeit. Und schliesslich haben die Enthüllungen der Panama Papers rund um die Offshore-Verstrickungen David Camerons bei vielen BritInnen den Eindruck verstärkt, dass das Land von einer realitätsfernen Elite regiert wird.

Rettungsplan für die Stahlindustrie

Die Labour-Partei – dies ist der zweite Grund für ihre gestärkte Position – verstand diese Krisen geschickt auszunutzen und die Regierung unter Druck zu setzen. Als der geplante Verkauf der Stahlwerke bekannt wurde, reagierte Labour entschlossen: Corbyn war schnell aus den Ferien zurück, stattete den StahlarbeiterInnen einen Besuch ab und forderte die Einberufung des Parlaments. Dagegen kehrten Premierminister David Cameron und Sajid Javid nur nach einigem Zögern aus dem Ausland zurück. Eine wichtige Rolle spielte auch John McDonnell, der vor seiner Ernennung zum Schattenfinanzminister wie Corbyn ein linker Parteirebell gewesen war und diesem jetzt im Schattenkabinett den Rücken stärkt. Als die Stahlkrise ausbrach, legte McDonnell einen Rettungsplan vor und skizzierte eine Strategie für die Stahlindustrie im 21. Jahrhundert.

Klare Haltung zum Brexit

Auch im Streit mit dem Gesundheitsminister ergriff Labour klar Partei für die AssistenzärztInnen. McDonnell besuchte im Januar einen Streikposten. Viele MitarbeiterInnen des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS wehren sich nicht nur gegen eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen, sondern generell gegen die Abbaupläne im Sozialbereich. Sie sind Teil der Antiausteritätsbewegung in Britannien, die für die Wahl Corbyns zum Labour-Vorsitzenden so entscheidend gewesen war. Corbyn und seine Verbündeten in der Partei wollen denn auch künftig den Bezug zu dieser Bewegung aufrechterhalten. Als Mitte April 150 000 Menschen durch London zogen, um gegen die Sparpolitik der Regierung zu protestieren, trat unter anderen auch McDonnell an der Abschlusskundgebung auf. Zu lange sei den Führungsleuten von Labour der Kontakt mit den Kämpfen auf der Strasse peinlich gewesen, sagte er in seiner Rede und versprach: «Diese Epoche ist vorbei.»

Dass die parteiinternen Kritiker Corbyns derzeit wenig Lärm machen, ist jedoch nicht nur dem selbstbewussteren Auftreten der linken Führung zu verdanken. Die gesamte Politiklandschaft Britanniens steht derzeit im Schatten des EU-Referendums vom 23. Juni.

Obwohl Corbyn in der Vergangenheit grosse Vorbehalte gegenüber der EU geäussert hatte, hielt er kürzlich eine überraschend positive Rede, in der er sich klar gegen den Brexit aussprach. Damit haben Corbyn und der rechte Flügel Labours zumindest in dieser derzeit wichtigsten aller Fragen zu einer gemeinsamen Position gefunden.

Für den Ausgang des EU-Referendums werden die Labour-Stimmen entscheidend sein: Laut einer Umfrage sprechen sich fast zwei Drittel der Labour-AnhängerInnen für einen Verbleib in der EU aus. Doch nur etwas mehr als die Hälfte will am 23. Juni mit Sicherheit ins Stimmlokal gehen. Demgegenüber werden die «Brexiteers» – die im Durchschnitt älter sind – mit grösserer Wahrscheinlichkeit von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Der Ausgang des Referendums wird also zu einem guten Teil von der Wahlbeteiligung abhängen, auch wenn die EU-BefürworterInnen derzeit leicht vorne liegen. Deshalb ist Corbyns Bestreben, die jüngeren und linken EU-BefürworterInnen an die Urnen zu bringen, so wichtig.

Stimmungstest Lokalwahlen

Allerdings ist mit der Brexit-Abstimmung der innerparteiliche Streit nur aufgeschoben. Ob Corbyns GegnerInnen nach dem Referendum in Aktion treten werden, um den Parteichef loszuwerden, hängt auch vom Ausgang der Regional- und Lokalwahlen ab, die am kommenden Donnerstag stattfinden werden. Traditionell erzielen Oppositionsparteien in den Lokalwahlen gute Ergebnisse. Zwar wird wohl Labour mit Sadiq Khan den neuen Bürgermeister Londons stellen: Die Kampagne seines konservativen Rivalen Zac Goldsmith politisiert tief unter der Gürtellinie und hat viele LondonerInnen vor den Kopf gestossen.

Im Rest des Landes sieht es jedoch für Labour kritischer aus. In Schottland wird der Vormarsch der Scottish National Party (SNP) weitergehen, Corbyns Partei wird dort weitere Stimmen einbüssen. Mit Spannung wird man deshalb auf die Resultate aus anderen Teilen Britanniens warten. Wenn die Partei nicht eine erhebliche Zahl von Sitzen hinzugewinnt, werden die KritikerInnen schnell zur Stelle sein und Corbyns Führung erneut infrage stellen. Gut für ihn, dass er auch dann noch die ausserparlamentarischen Basisbewegungen hinter sich weiss.