Charles Lewinsky: Der böse Embryo spricht aus dem Mutterbauch

Nr. 18 –

In seinem jüngsten Roman «Andersen» hat Charles Lewinsky einen völlig unrealistischen Erzähler erfunden – und scheitert damit.

Charles Lewinsky hat grosse, verdiente Erfolge gehabt mit Romanen, die historische Stoffe behandelten und realistisch erzählt waren. In «Melnitz» (2006) hat er das Kunststück vollbracht, die Geschichte der Schweizer JüdInnen in einer erfundenen Familiensaga unterzubringen. Sein Meisterwerk ist «Gerron» (2011): Da liess er den grossen Schauspieler Kurt Gerron sein Leben erzählen, von der Weimarer Republik bis ins Lager Theresienstadt – eine packende Mischung aus Fakten und Fiktion.

Nun aber scheint Lewinsky genug zu haben vom Realismus, von historischen Stoffen und von jüdischen Themen. In seinem neuen Roman «Andersen» spricht ein Embryo aus dem Mutterbauch zu uns. Kommt hinzu, dass dieser Embryo das Bewusstsein eines erwachsenen Mannes hat. Kommt hinzu, dass dieser Embryo eine Wiedergeburt ist. Er erinnert sich an sein vorheriges Leben als Folterknecht im Dritten Reich. Nach 1945 wechselte er dann seine Identität, wurde Damian Andersen und gründete eine Firma – aber daran erinnert er sich nun im Uterus kaum noch. Doch warum erinnert er sich gut an den ersten Teil seines Vorlebens, an den zweiten Teil aber nur lückenhaft? Einen inhaltlichen Grund gibt es dafür nicht. Es ist nur ein Trick, um der sonderbaren Erzählkonstruktion noch eine Handlung abzupressen, denn irgendwann muss der Embryo ja geboren werden. Er heisst dann Jonas, geht schon in der Kindertagesstätte mit einem Messer auf ein anderes Kind los, ermordet mit sieben seine Oma, klaut Geld und haut mit zwölf ab, um sein vorheriges Leben als Andersen, an das er sich kaum erinnert, zu erkunden.

Welcher Aufwand! Und wozu?

Der böse Embryo, später das böse Kind Jonas, wechselt sich als Erzähler ab mit seinem Vater, der über seinen Sprössling Tagebuch führt. Der Vater, die Mutter, die Verwandten und Freunde, sie alle wollen oder können nicht sehen, dass es ein böses Kind ist.

Einer der beiden Erzähler ist also ein sprechender Embryo, der später ein Erwachsener im Körper eines Kindes und ein Wiedergeborener mit Erinnerungen an sein vorheriges Leben wird. Für solch einen unrealistischen Erzähler gibt es durchaus bekannte historische Beispiele, etwa bei E. T. A. Hoffmann oder Franz Kafka. Die Frage ist nur: Warum schmunzelt man glücklich, wenn Hoffmanns Kater Murr spricht? Und warum sind Lewinskys Erzähler, alle beide, so quälend? Weil die hoffmannsche Erfindung einer Katze, die ihr Leben erzählt, ein sinnvolles Mittel ist, um ein grosses Thema zu bedenken, nämlich die Entwicklung des menschlichen Individuums und deren Darstellung im Entwicklungsroman. Bei Lewinsky dagegen hat sich die Erzählweise verselbstständigt und vom Erzählgegenstand gelöst. Dieser verkrampft ungewöhnliche Erzähler, diese kompliziert herbeigezwungene Handlung – welcher Aufwand, um zum Beispiel plausibel zu machen, dass das Kind bei einer Firma Geld abzocken kann! Und wozu?

Was der Leser, die Leserin erlebt, sind zwei äusserst geschwätzige Erzähler und ihre flache Konversationssprache. Keine Alltagsverrichtung, deren Schilderung uns der Vater ersparen würde. Kein Denkklischee, das uns die beiden Erzähler verschweigen würden. Nun kann man sagen, das sei eben genau diese Mischung aus Banalität und Bosheit, aus heiler Kinderwelt und Folterkeller. Das wäre ja auch ein Thema, wird aber nicht behandelt. Der Zusammenhang von Brutalität und Banalität wird nicht hergestellt, es bleibt beim blossen Nebeneinander.

Die Geburt als Nullsituation?

Lewinsky verschenkt ein Thema nach dem anderen, schon weil er Biologie und Geschichte in einem Kuddelmuddel miteinander vermengt. Der Erzähler ist durch alle Identitätswechsel, durch alle Wiedergeburten und durch mehrere historische Epochen hindurch ein «böser» Mensch. Das ist eine Biologisierung «des» Bösen, die sehr unrealistisch, politisch bedenklich und moralisch fragwürdig ist. Und sie trifft ganz unvermittelt auf das historische Phänomen der Verwandlung von überzeugten oder opportunistischen Nazis in wackere Demokraten anno 1945. Hier müsste ein Roman die Themen trennen. Ein Thema wäre die Frage, ob die Geburt eine Nullsituation ist, ob also bei der Geburt der Speicher leer ist. Die psychologische Forschung liefert dazu das beunruhigende Faktum, dass traumatische Erfahrungen sogar das Erbgut verändern können.

Davon deutlich zu trennen wären die Lebensgeschichten von Menschen, die sich 1945 neu erfunden haben, wie etwa der reale Fall des SS-Hauptsturmführers Schneider, der sich nach dem Krieg in Schwerte umbenannte, seine Frau noch einmal heiratete, als Germanist reüssierte und das Bundesverdienstkreuz erhielt. Das wäre spannend genug. Die komplizierten Konstruktionen von Wiedergeburt und vorgeburtlichen Erfahrungen sind dazu gar nicht nötig. Dass Charles Lewinsky von den vertrauten Gestaden des Realismus aufgebrochen ist, zeugt von Mut. An neuen Ufern angekommen ist er noch nicht.

Charles Lewinsky: Andersen. Nagel  &  Kimche. Zürich 2016. 400 Seiten. 30 Franken