Geschichtsschreibung: Die NZZ im Herzen der Unschuld

Nr. 20 –

Das aktuelle Geschichtsheft der NZZ ignoriert aktuelle Forschung, präsentiert falsche Fakten und retuschiert historische Quellen.

Das Heft «NZZ Geschichte», das viermal im Jahr erscheint, hat in seiner Aprilausgabe ein relevantes Thema aufgegriffen: die Rolle der Schweiz im Kolonialismus. Gemessen am letztjährigen «Streit» zwischen Christoph Blocher und einigen Historikern, ist dies ein Riesenfortschritt in der öffentlichen Geschichtsdebatte hierzulande. Schliesslich tendiert die Relevanz von Marignano und Morgarten zum Verständnis des helvetischen Hier und Heute gegen null. Auch im Vergleich zu den vielen neuen Überblickswerken, die in jüngerer Zeit zur Schweizer Geschichte erschienen sind, ist die Themenwahl zu begrüssen. Noch immer wird Kolonialismus in Büchern zur Schweizer Geschichte grossräumig ausgeklammert.

Ignorierte Forschung, falsche Fakten

Bedauerlich ist hingegen, wie man diese wichtige Frage angeht. Anstatt aufzuklären, wie die Schweiz ihre Position als globales Finanz-, Rohstoffhandels- und Wissenschaftszentrum mit einer der europaweit höchsten Migrationsquoten auch aus einer langen Beziehung zur kolonialen Welt in Übersee erlangte, wird zunächst gemahnt: Man müsse «immer mit Vorsicht auf die vergangenen Zeiten zurückblicken». Die «Worte und Taten unserer Vorfahren» gelte es nicht vorschnell zu «verurteilen». Der Duktus erinnert an die Order des ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy: Anstatt nur die negativen Aspekte sollten Historiker auch «den positiven Beitrag der französischen Präsenz in Übersee» würdigen. Sarkozy nannte Kolonialhistoriker «Vertreter des Büssertums».

Die NZZ spricht von Vertretern der nationalen «Selbstkasteiung». Dazu zählt für sie offenbar eine ganze Reihe oftmals jüngerer Forschender aus dem In- und Ausland, die in den letzten Jahren etliche Studien mit einem originellen Ansatz publiziert haben. Die NZZ ignoriert nicht nur diese Studien. Sie glaubt auch, einen ganzen Forschungszweig – die Kulturwissenschaften und «postcolonial studies» – mit der Bemerkung, sie seien «theoretisch überfrachtet», ad acta legen zu können. Stattdessen plädiert sie für mehr wirtschaftshistorische Forschung – etwa über «Schweizer Kapitalflüsse in den Belgisch-Kongo».

Die Idee, wirtschaftshistorische Erzählungen über Waren- und Kapitaltransfer seien relevanter als kulturwissenschaftliche Analysen, entspricht dem Forschungsstand der achtziger Jahre. In der internationalen Forschung herrscht längst Konsens darüber, dass wirtschaftliche Ausbeutung und politische Gewaltherrschaft in den Kolonien nur mithilfe einer spezifischen Kultur funktionieren konnten, die sich bis weit ins europäische Hinterland, auch in die Schweiz, ausbreitete und in gewandelter Form bis heute fortbesteht. Dass es weitere Studien zur Rolle der Schweiz als Finanzdienstleisterin der europäischen Expansion braucht, ist unbestritten. Dies setzt aber freien Zugang für HistorikerInnen zu privaten Unternehmensarchiven voraus. Hier hapert es in der Schweiz erheblich. Gerade die Credit Suisse, die die aktuelle Nummer der «NZZ Geschichte» mit einem Inserat sponsert, weigerte sich noch 2007, Forschenden, die im Auftrag der Stadt Zürich Investitionen im transatlantischen Sklavenhandel recherchierten, Zugang zu ihrem Archiv zu gewähren. Argument: Die Quellen des 18. Jahrhunderts unterlägen dem Bankgeheimnis (von 1932)!

Bedauerlich ist ferner, dass es die NZZ mit den wirtschaftshistorischen «harten Fakten» selber nicht so genau nimmt. Erwähnt wird, dass Schweizer Investoren im 18. und 19. Jahrhundert an der Verschleppung von 20 000 afrikanischen SklavInnen beteiligt gewesen seien: eine grobe Verfälschung der historischen Tatsachen. Richtig ist, dass Schweizer Kapital für die Verschleppung von rund 170 000 Menschen mitverantwortlich war. Das entspricht etwa 10 Prozent der damaligen Schweizer Bevölkerung oder 2,4 Prozent des gesamten Sklavenhandels zwischen 1773 und 1830.

Politiker in sexistischer Pose

Die Geringschätzung kulturhistorischer Expertise seitens der NZZ zeigt sich am sträflichsten bei ihrem Umgang mit den historischen Abbildungen aus dem Kongo. Wie zahllose Bilder dieser Epoche dokumentieren sie einen rassistischen, oftmals quasipornografischen männlichen Blick auf die (häufig weiblichen und unbekleideten) «Eingeborenen». Die NZZ reproduziert den kolonialen Voyeurismus dieser Bilder nicht nur kommentarlos. Sie hat für das Titelblatt auch versucht, alle Spuren von Gewalt wegzuretuschieren: Die Illustration basiert auf einer Fotografie, die den Helden der Hauptgeschichte des Themenhefts – einen grossbürgerlichen Luzerner Politiker, der im Auftrag des belgischen Königs Gräueltaten im Kongo dokumentierte – in einer eindeutig sexistischen Pose zeigt. Davon ist auf der aufgehübschten Illustration freilich nichts mehr zu sehen. Diese hat folglich auch nichts mehr mit einer historischen Realität zu tun, sagt aber umso mehr über die politische Agenda der Heftmacher: die Rolle der Schweiz auch im kolonialen Kontext als «neutral» und unschuldig erscheinen zu lassen.

Harald Fischer-Tiné ist Professor für die Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich. Bernhard C. Schär ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an Fischer-Tinés Lehrstuhl.

Neuere Publikationen zum Thema: Patricia Purtschert und Harald Fischer-Tiné (Hrsg.): «Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins». Palgrave Macmillan. London 2015. 323 Seiten. 99 Franken.

Franziska Koch, Daniel Kurjakovic und Lea Pfäffli (Hrsg.): «The Air Will Not Deny You. Zürich im Zeichen einer anderen Globalität». Diaphenes Verlag. Zürich/Berlin 2016 (im Druck). 208 Seiten. 45 Franken.