Digitale Revolten: Das ganze System neu denken

Nr. 22 –

Im Spannungsfeld von Snowden und Hackeraktivismus: Der junge Sozialphilosoph Geoffroy de Lagasnerie macht sich in einem neuen Buch kämpferische Gedanken zur Politik im Internetzeitalter. Leider weist das Buch aber ein paar blinde Flecken auf.

Unterschiedlicher könnte ein Urteil nicht ausfallen. «Edward Snowden ist ein Feigling. (…) Er ist ein Verräter, der sein Land verraten hat.» So urteilte der US-Aussenminister John Kerry 2014 in einem Fernsehinterview. Für den Gegenwartsanalytiker Slavoj Zizek dagegen ist der IT-Spezialist und ehemalige CIA-Mitarbeiter Snowden «ein Held». Zusammen mit der Nachrichtenanalystin Chelsea Manning und dem Wikileaks-Gründer Julian Assange stehe Snowden für «eine neue Ethik in unserer Zeit der digitalen Kontrolle». In seinem neuen Büchlein «Die Kunst der Revolte: Snowden, Assange, Manning» stützt der junge französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie Zizeks These – und geht noch einen Schritt weiter. Mit den Enthüllungen der drei WhistleblowerInnen und angesichts der Sanktionen, die gegen sie ergriffen wurden, stehe das ganze System auf dem Spiel: die Rechtsordnung und die liberale Demokratie. Dabei müsse letztlich die Frage geklärt werden, ob tatsächlich die WhistleblowerInnen VerbrecherInnen sind – oder vielmehr der Staat. Und wenn der Staat zum Verbrecher wird, sind wir BürgerInnen dann nicht gezwungen, uns gegen diesen Staat zu wehren?

Die kommenden RebellInnen

Für de Lagasnerie, der zum Soziologen Pierre Bourdieu und zum Diskursanalytiker Michel Foucault gearbeitet hat und sich aktuell in der Nuit-Debout-Bewegung (siehe WOZ Nr. 19/2016 ) engagiert, ist die Antwort klar: Der rechtliche Ausnahmezustand, der seit den Anschlägen vom 11. September 2001 vor allem in den USA herrscht, fordere Widerstand und Verweigerung geradezu heraus. Die noch nie da gewesenen Möglichkeiten der staatlichen Bespitzelung und elektronischen Verfolgung der BürgerInnen müssten nach dem Vorbild von Snowden, Assange und Manning transparent gemacht und bekämpft werden. Doch de Lagasneries vielleicht wichtigster Punkt ist der, dass wir diese neue «Kunst der Revolte» weder nach alten Mustern praktizieren noch verstehen können. Es ist kein ziviler Ungehorsam im althergebrachten Sinn, sondern etwas Radikaleres. Auf dem Prüfstand stehen nicht bloss die Bespitzelung und ihre Bekämpfung, sondern ebenso die Bühnen, auf denen diese Aktionen stattfinden. Und die Institutionen, die sie ermöglichen.

Früher war klar, dass aufklärerischer Ungehorsam den Staat letztlich stützen wollte. Die staatlichen Gesetze wurden vorgängig anerkannt, und zum Schluss gaben sich die KontrahentInnen quasi die Hand, um den Kampf symbolisch zu beenden. Die kommenden Aufständischen verweigern diese Anerkennung und den Handschlag. Und sie konfrontieren ihre GegnerInnen auch nicht mehr zwingend physisch und im öffentlichen Raum, diesem angestammten Ort für Demonstrationen und anderen Widerstand. Paradoxerweise müssen gerade AufklärerInnen heute oft aus dem Verborgenen, aus dem Dunkeln heraus agieren, dort also, wo man gewöhnlich das Verbrechen vermutete. Spinnt man de Lagasneries Faden weiter, ist dies nicht zuletzt deshalb der Fall, weil der öffentliche Raum als traditionelle Bühne der Demokratie heute fast lückenlos von Kameras überwacht wird.

Prekäre Lebensumstände

Neue politische Foren und Formen übernehmen die alte Rolle des öffentlichen Raums als zentraler Schauplatz von Gesprächen und Auseinandersetzungen. HackerInnen und die staatlichen ÜberwacherInnen «betreten» fremde Lebenswelten körperlos und anonym, erfahren dabei aber unter Umständen viel mehr als altmodische Einbrecher oder Agentinnen. Im Netz wird Intimstes mit Unbekannten ausgetauscht, aber auch effizient mobilisiert. Geisterhafte Interventionen und anonymer Aktivismus begründen neue politische Gemeinschaften auf Zeit. Im Gegenzug zerbröseln einst selbstverständliche Allianzen und Gewissheiten, Zugehörigkeiten zu Staaten, Gesetzen und Geschlechtern sind fliessend geworden. Menschen politisieren sich an unerwarteten Orten.

Das sind aufregende und verwegene Zeitdiagnosen. Trotzdem hat das Buch «Die Kunst der Revolte» Schwachstellen. Vieles bleibt abstrakt oder muss selber zu Ende gedacht werden. Und es gibt auch blinde Flecken. De Lagasnerie leitet die neue Generation politischer Subjekte ab von Chelsea Manning, die gerade eine 35-jährige Haftstrafe absitzt, von Julian Assange, der sein zwanzig Quadratmeter kleines Zimmer in der ecuadorianischen Botschaft von London seit knapp vier Jahren nicht verlassen kann, und von Edward Snowden als gefährdetem Gast auf Zeit in Moskau. Doch diese prekären Lebensumstände der heldenhaften WhistleblowerInnen werden kaum reflektiert. Ein weiterer Haken steckt im Anspruch, dass zwar die Privatsphäre des Individuums rigoros vor den Zugriffen des Staats zu schützen sei, gleichzeitig aber jedes Staatsgeheimnis kompromisslos ausgeleuchtet werden müsse. De Lagasnerie fordert die «Abschaffung jeglicher Dunkelheit innerhalb des Staats». Man muss nicht die Dialektik der Aufklärung bemühen, um sich hier zu fragen, ob nicht auch dem demokratischen Staat eine Art Privatsphäre zusteht – zustehen muss –, zum Beispiel in Form von Kommissionsgeheimnissen. Auch lauern im Verborgenen ja nicht zwangsläufig Untaten. Ausser man übernimmt selbst die Logik des wuchernden Überwachungsstaats, dem de Lagasnerie in seinem Essay zu Recht den Kampf erklärt.

Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte: Snowden, Assange, Manning. Suhrkamp Verlag. Berlin 2016. 160 Seiten. 29 Franken