Vernachlässigte Krankheiten: Rassismus am Krankenbett

Nr. 22 –

Kennen Sie Leishmaniose? Oder Schistosomiase? Auch von Chagas noch nie gehört? Kein Wunder – diese Krankheiten befallen fast ausschliesslich arme Menschen in Ländern des Südens. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) listet siebzehn solcher meist chronischen Erkrankungen auf. Die meisten werden von Parasiten und Würmern ausgelöst und beeinträchtigen die Lebensqualität massiv. Sie machen rund neunzig Prozent aller weltweiten Krankheitsfälle aus, trotzdem fliessen nur fünf Prozent aller Forschungsgelder im Gesundheitsbereich in ihre Bekämpfung. Deshalb spricht man von vernachlässigten Krankheiten.

Das 69. World Health Assembly (WHA) der WHO, das vergangene Woche in Genf stattfand, hätte dies ändern sollen: mit einem bindenden Abkommen, das erstens ein Expertengremium schafft, das Forschung und Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausrichtet und entsprechend ihrer Dringlichkeit priorisiert, und zweitens einen Forschungsfonds äufnet, der alle Länder verpflichtet, ihren Teil zur Finanzierung beizutragen. Leider ist es bei einer Absichtserklärung geblieben.

Es hapert vor allem bei der Finanzierung. Vor drei Jahren hat das WHA beschlossen, eine globale Datenbank – das sogenannte Observatory – aufzubauen, die Forschungsergebnisse bündeln und Lücken in Bezug auf vernachlässigte Krankheiten erkennen soll. Gleichzeitig sind erste Demonstrationsprojekte lanciert worden, unter anderem für die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Schistosomiase. 85 Millionen US-Dollar hätten dafür bis 2017 zusammenkommen sollen – fast 75 Millionen fehlen noch immer. Unter diesen Umständen rückt die nachhaltige Finanzierung eines globalen Forschungsfonds in weite Ferne. Dabei lagen letzte Woche durchaus innovative Ansätze auf dem Tisch. Die Schweiz und Indien etwa schlugen vor, dass jedes Land 0,01 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts einspeist. Und Britannien suchte die Pharmaindustrie mit dem Prinzip «play or pay» in die Pflicht zu nehmen: Entweder engagiert sich die Pharma aktiv in der Forschung und Entwicklung zugunsten vernachlässigter Krankheiten, oder sie zahlt Steuern für das Unterlassen.

Die auf profitable Patente ausgerichtete Forschung und Entwicklung der Pharma zielt in der Tat völlig an den medizinischen Bedürfnissen und gesundheitlichen Problemen der grossen Mehrheit der Weltbevölkerung vorbei, weil es für die Industrie schlicht nicht lukrativ ist, Medikamente oder Impfstoffe zu entwickeln, für die keine kaufkräftige Kundschaft existiert. Mit dem WTO-Abkommen zum geistigen Eigentum 1995 hat sich die Situation für die Entwicklungs- und Schwellenländer noch verschärft. Die Pharma darf seither für ihre Medikamente überall auf der Welt denselben Preis verlangen.

Das kommt einer Benachteiligung, ja Diskriminierung von Armen im Süden gleich, die so systematisch ist, dass man auch von Rassismus sprechen könnte. Denn es geht nicht einfach um vernachlässigte Krankheiten, sondern um vernachlässigte Menschen. Allein der Pharma dafür die Schuld zu geben, wäre falsch. Es geht um ein strukturelles Versagen, um ein systematisches Wegschauen der gesamten industrialisierten westlichen Welt.

Es sei denn, sie ist plötzlich selbst betroffen. Wie im Fall des Zika-Virus. Warum sonst standen beim WHA letzte Woche auf einmal Diskussionen um einen Aktionsplan für globale Notfälle wie Zika im Zentrum? Oder das Problem der weltweit wachsenden Antibiotikaresistenzen? Grosse Einigkeit demonstrierten die WHA-Mitglieder auch in Bezug auf die Notwendigkeit, Forschungs- und Entwicklungskosten endlich von den Medikamentenpreisen zu entkoppeln. Kein Wunder: Reiche Nationen ächzen zunehmend unter der Last ihrer Gesundheitskosten, die von explodierenden Medikamentenpreisen in die Höhe geschraubt werden.

Diese Probleme gilt es anzupacken, keine Frage. Doch darf das Engagement für die Forschung und Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen vernachlässigte Krankheiten dabei nicht erneut aus dem Fokus fallen.

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