Von oben herab: Der Präsident schellt

Nr. 22 –

Stefan Gärtner über lärmige Demonstrationen

Ist die Schweiz ein lautes Land? Schliesse ich (und seis metaphorisch) die Augen, höre ich Kuhglocken; das Rascheln der Stimmzettel, wie sie bei einer der täglich stattfindenden Volksabstimmungen ins Ürnli sausen; das Wasser, wie es mir bei Zürcher Geschnetzeltem in die Backen schiesst, das wer am Nebentisch bestellt hat, weil ich ja keine Fleischgerichte mehr ordere oder höchstens Fisch oder höchstens manchmal. Nein, dieses «vernünftige Volk, das sich nicht zügellos in die Zeit stürzt» (Thomas Mann, Tagebuch 8. 9. 35), ist die Ruhe selbst, und wenn meinem Freund Ruedi (Winterthur) der Kragen platzt, weil seine Kinder nicht folgen (theoretisch!), dann hört man nichts, weil er immer nur Herrenoberbekleidung ohne Kragen (T-Shirts o. Ä.) trägt.

Und trotzdem gilt seit 1925, dass auf dem Berner Bundesplatz keine Demonstrationen stattfinden dürfen, wenn im Bundeshaus Sessionen sind. «Der Auslöser scheint unbedeutend», erinnert sich «Der Bund»: «Für den 19. Juni 1925 rief die Arbeiterunion Bern, ein Zusammenschluss der Gewerkschaften mit Nähe zur SP, zu einer Kundgebung zum Thema ‹Militarismus und Sozialversicherung› auf. Die Parolen waren kämpferisch: ‹Für neue Gewehre und Munition haben die Herren Geld im Überfluss, aber Mittel aufzubringen für die Alten und Invaliden ist ihnen eine Unmöglichkeit.›» Zu der Demo kamen nur 300 Leute, «trotzdem kam es im Parlamentsgebäude zu einer Massenschlägerei», halt: «kurzen Aufwallung, indem der liberale Neuenburger Nationalrat Otto de Dardel am Schluss der Nachmittagssitzung mit lauter Stimme gegen ‹diese linken Wichser›», Moment: «‹die Unbotmässigkeit› der Versammlung protestierte». – «Hierauf», zitiert der «Bund» von 2016 jenen von 1925, «erhebt sich ein grosser Lärm, der Präsident schellt, so dass die übrigen Worte de Dardels vollständig untergehen.»

Worte, die in einem Lärm untergehen: bis zum ersten DJ-Bobo-Konzert Jahrzehnte später eine unerträgliche Vorstellung im stillen Land zwischen Bodensee und Bellinzona, weshalb das Demonstrations- und Versammlungsrecht zwar nach wie vor gilt, nicht aber, wenn die, gegen die demonstriert wird, es womöglich hören könnten, was man mit Blick auf die Schweiz, wo einem das Volk ja nun wirklich ständig mit Initiativen in den Ohren liegt, gut verstehen kann. Andererseits haben wir in der freien Welt ja (offiziell) Demokratie und Transparenz und diesen ganzen Unsinn, weshalb das Stadtberner Parlament im Februar entschieden hat, «dass der Bundesplatz künftig immer für Kundgebungen zur Verfügung stehen soll» («SonntagsBlick»).

Das Bundesparlament möchte aber auch weiterhin seine Ruhe, weshalb der Berner «Sicherheitsdirektor Reto Nause (44)» jetzt einen guten Kompromiss vorgestellt hat: «Möglich wäre etwa, ‹Demonstrationen während der Sitzungszeiten zu untersagen›. Das heisst: Demonstrationen könnten vor 8 Uhr morgens, zwischen 13 und 14.30 Uhr und nach 20 Uhr stattfinden.»

Ja. Bzw., das tönt doch guet! Und kommt nicht nur den Schweizer Ständeräten, sondern auch der klischeeverarbeitenden Industrie (mir) zupass, die ja sonst gezwungen wäre, ihre Kundgebungen in puncto der helvetischen «Wohlgehaltenheit» (Mann, 24. 7. 35) bleiben zu lassen. Trotzdem muss ich freilich von links dagegen sein; denn Demos nur mehr vor acht Uhr früh, damit wäre dem Weltkommunismus wohl endgültig das Genick gebrochen …

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.