«Toni Erdmann»: Papa Troll

Nr. 28 –

Mit falschen Zähnen gegen den Irrsinn der Profitkultur: Wer im Kino lachen, dabei aber nicht verblöden will, muss sich «Toni Erdmann» anschauen.

Komisch? Berührend? Befremdend? Die performancefixierte Ines (Sandra Hüller) in den Armen ihres zum mythologischen Fellmonster kostümierten Vaters. Foto: Filmcoopi

Kann man den Irrsinn einer zynischen Profitkultur mit Schabernack entlarven? Lässt sich eine gestählte Unternehmensberaterin mit komödiantischen Maskeraden weichklopfen? Und helfen Scherzartikel wie ein falsches Gebiss, eine Perücke und ein Furzkissen gegen die neoliberale Gefühlserkaltung? Solche seltsamen Fragen stellen sich angesichts von «Toni Erdmann», dem brutal witzigen neuen Film der deutschen Regisseurin und Drehbuchautorin Maren Ade. Erst mit der Zeit merkt man, dass diese eigensinnige Komödie, die in Aachen und Bukarest spielt, weit über solche moralischen Ansätze hinausragt.

Nachdem sein Hund an Altersschwäche gestorben ist, fliegt der pensionierte Musiklehrer Winfried Conradi (Peter Simonischek) in die rumänische Hauptstadt, um seiner Tochter Ines (Sandra Hüller), die dort für eine internationale Unternehmensberatungsfirma arbeitet, einen Überraschungsbesuch abzustatten. Ines steht kurz vor einer wichtigen Präsentation für einen Grosskunden, der nicht gerade pflegeleichte Gast kommt entsprechend ungelegen. Schon nach wenigen Stunden und einigen peinlich-komischen Kollisionen fragt sie ihn, wie lange er denn noch bleiben wolle.

«Bist eigentlich ein Mensch?»

Die augenfällige Entfremdung zwischen Tochter und Vater, zwischen der ehrgeizigen Gastarbeiterin im Deux-Pièces und dem bärigen Klavierlehrer mit der schmuddeligen Stofftasche, schwankt zwischen aggressivem Unverständnis und alter Verbundenheit. «Bist eigentlich ein Mensch?», fragt er sie einmal unverwandt. Und ob sie denn ein bisschen glücklich sei in ihrem Leben. «Glücklich? Das ist aber ein starkes Wort!», gibt sie patzig zurück. Manche würden über diese eisige Kluft zwischen Vater und Tochter einen ganzen Film drehen. Aber für Maren Ade, die uns in ihrem letzten Film «Alle anderen» (2009) bereits in die intime Hölle eines Paares mitgenommen hat, ist das alles bloss ein Anfang.

Kaum hat er vermeintlich seine überstürzte Heimreise angetreten, kehrt Winfried Conradi als Toni Erdmann zurück. Erdmann ist sein Alter Ego, eine albtraumhafte Witzfigur direkt aus dem Kostümverleih: schlecht sitzende Zähne, schlecht sitzender Anzug, schlecht sitzende Perücke. Dieser stets deplatziert wirkende Toni Erdmann heftet sich nun an Ines Conradis Fersen und gibt sich – ganz Zerrspiegel seiner Umgebung – als «Coach», «Consultant» oder gar als deutscher Botschafter aus: an Partys, in Restaurants, an Ines’ Arbeitsplatz. Eines frühen Morgens springt er ihr sogar aus ihrem Kleiderschrank entgegen. Zuerst treibt der lächerlich verkleidete Vater sie damit zur Weissglut, dann lässt sie sich immer mehr auf sein Theater ein.

Die beiden Theaterleute Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen die Hauptfiguren mal zart, mal wuchtig als Ertappte, Entfremdete, Verzweifelte, Widersprüchliche, Verkrampfte. Das klingt ungemütlich und ist es oft auch. Zum Glück bleibt uns das Lachen als kleine Erlösung zwischendurch.

Echte Sprüche, falsches Englisch

Auch die Stadt Bukarest spielt mit echten Werbesprüchen in falschem Euroenglisch mit. «Curse Charters» kann man da an einer Strassenecke lesen: «Fluchvermietungen», wo es wohl richtig hätte heissen sollen: «Cruise Charters», «Kreuzfahrten buchen». So verwebt sich Maren Ades Film mühelos mit der pseudointernationalen Konsumoberfläche der rumänischen Stadt, die eine wohlstandsverwahrloste Parallelgesellschaft aus Expats beherbergt. Diese bleiben in einer künstlichen Blase aus Büros, Restaurants, Spas und Clubs schön unter sich. Nur ja nicht mit realen Unebenheiten der fremden Gaststadt in Berührung kommen.

Alles Unangenehme wird delegiert oder ausgeblendet. Wie auch Ines’ Beratungsfirma nur angeheuert wird, um Entlassungen, pardon, «Umstrukturierungsmassnahmen» als notwendigen nächsten Geschäftsschritt zu empfehlen. Der teure Umweg über solche Beratungsfirmen soll nicht zuletzt von aller Entscheidungsverantwortung befreien: Profitmaximierung ohne Schuldgefühle. Sandra Hüllers Ines zeigt alle Facetten dieser rücksichtslosen Corporate Culture auch am eigenen Körperausdruck. Nach einer «erfolgreichen» Präsentation kommentiert der Chef anerkennend: «Bist ein Tier, Ines.» Doch ihr geht es eigentlich eher darum, sich noch die letzten unkontrollierten, instinktiven Regungen aus ihrer «Performance» auszutreiben. Immer bloss an die eigene Aussage denken und dem Gegenüber besser nur zum Schein zuhören, rät auch der per Skype zugeschaltete Gesprächscoach. Businessgebrauchswissen für Fortgeschrittene.

Gefühle aus der Dose

«Toni Erdmann» ersetzt aber auch die unterhaltsamsten Einführungsseminare in die postmoderne Kultur, die man sich denken kann. In den neunziger Jahren hat man da über eingespieltes Dosengelächter diskutiert, das uns vor dem Fernseher beim Lachen hilft oder uns das Lachen irgendwann ganz abnimmt. Heute sind wir einen Schritt weiter. Heute werden ganze Gefühlsuniversen in Dosen verpackt. Denn es geht nicht mehr bloss darum, wie man seine Gefühle zeigt oder wenigstens delegiert, sondern wie man überhaupt noch Gefühle haben kann. «Toni Erdmann» führt das präzis vor, als Ines an einem rumänischen Familienfest Whitney Houstons Kitschballade «The Greatest Love of All» vorträgt – eine weitere dieser verrückten Situationen, in die sie das väterliche Alter Ego hineinmanövriert hat. Er sitzt am Keyboard, sie singt mit Inbrunst und Bravour und liefert eine hoch konzentrierte, echte Dosenemotion, verkapselt in ein paar knappe entrückte Minuten. Dann stapft sie abrupt davon.

Man kann diese Szene echt berührend, komisch oder befremdend finden. Bloss sollte man nicht den Fehler machen, sie als grosse Erkenntnis oder als Wendepunkt für Ines zu interpretieren. Denn Maren Ades Film zeigt gerade nicht, wie eine künstlich grenzwertige Figur diesen ganz real grenzwertigen Figuren den Meister zeigt oder einen Spiegel vorhält. Unerbittlicherweise ist es umgekehrt. Die hochintelligente Ines Conradi hat diesen Toni Erdmann bald durchschaut und mühelos in ihr eigenes Betriebssystem integriert. Gerade so, wie das auch der Kapitalismus macht. Er frisst einfach alles in sich auf, sogar die faulen Eier, mit denen er beworfen wird, und die furchterregenden Gebisse, die nach ihm schnappen.

Teambuilding, splitternackt

Was uns «Toni Erdmann» auch beibringt: dass die Formel «anything goes» nicht bloss ein postmodernes Accessoire der herrschenden Wirtschaftsordnung ist, sondern vielmehr der heimliche Motor dieser Ordnung. Sogar die haarsträubendsten Auftritte eines Toni Erdmann bringen diese glatten Geschäftsleute nicht ernsthaft aus der Fassung. Viele stecken ihm zum Abschied gar noch ihre Visitenkarten zu. Oder mit Ines’ ganz eigener Zuspitzung der erdmannschen Scharaden: Sogar wenn sie ihren Chef zum Geburtstagsbrunch splitternackt empfängt und ihn auffordert, sich im Zeichen des Teambuildings ebenfalls auszuziehen, bricht ihr das nicht das Genick. Im Gegenteil. Die erbarmungslos abgespulte finale Pointe: Ines Conradi ist auf dem Sprung zu ihrem neuen Job in Schanghai.

So betrachtet kann man die ganze skurrile Geschichte auch schlicht als erfolgreiches Kapitel in der Karriere einer aufstrebenden Unternehmensberaterin lesen. Am Ende überlegt sich ihr alter Vater in Aachen immer noch, ob es ihr wohl gut gehe. Und sie kann mit dieser Frage weiterhin nicht viel anfangen.

«Toni Erdmann» läuft ab 21. Juli 2016 in den Kinos. Leibhaftig singen sehen kann man Sandra Hüller diesen Herbst im Theater Neumarkt in Zürich, bei der Wiederaufnahme von «Bilder deiner grossen Liebe».