69. Filmfestival Locarno: Die Zukunft gehört den Tieren

Nr. 32 –

Rambo ist gestorben, und ein Vogelkundler irrt durch die Wildnis: Das Filmfestival in Locarno zeigt sich als vieldeutiges Bestiarium zwischen Schlachthof und Ekstase.

Eine unbesinnliche Meditation über die Würde der Kreatur: Ein Schaf im Schlachthaus in Maud Alpis Film «Gorge Cœur Ventre».

Da sitzt sie, die Diva. Sie ist nicht mehr die Jüngste, schliesslich hat sie, wie der Mann neben ihr stolz erklärt, schon mit Federico Fellini gearbeitet. Aber muss sie sich im Alter denn gleich so gehen lassen, dass sie jetzt mit breitem Grinsen in diesem Plastikstuhl lümmelt? Nun, es ist halt ihre Art. Sie ist ein Schimpansenweibchen.

So ist das am Filmfestival in Locarno. Wenn kaum Stars hier sind, wie es die alte Leier will, reden wir halt über: Tiere. Ist sowieso interessanter. Weil es uns fortwährend auf die elementaren Fragen zurückwirft: Was für ein Tier sind wir? Was macht uns zu Menschen, und woher wollen wir das so genau wissen? Es sind Fragen, die uns gleich zum Auftakt in den Kopf gepflanzt wurden, als die Piazza Grande in «The Girl with All the Gifts» von Zombies überfallen wurde. Als Eröffnungsfilm zur Primetime eine Fehlbesetzung, aber so intelligent war das Zombiekino seit «28 Days Later» nicht mehr. Endlich ein Horrorfilm, der die Schauermär von den Untoten nach den obligaten Massakern zu Beginn dialektisch weiterdenkt: Die Hoffnung auf einen Impfstoff und die kriegerische Fixierung auf das Andere werden hier abgelöst durch die prekäre Utopie einer Gesellschaft neuer Mischwesen.

Politische Strenge statt Moral

Fachgerechter geschlachtet wurde dann in «Gorge Cœur Ventre», dem gnadenlosen Erstling der Französin Maud Alpi. Die Tonspur: metallischer Lärm, tierisches Geschrei. Wir befinden uns in einem Schlachthaus, mit einem jungen Punk, der hier als Hilfskraft jede Nacht das Vieh in den Schlachtraum treibt. Draussen wartet derweil sein Hund an der Leine und hört die Schreie der todgeweihten Tiere.

Man befürchtet einen didaktischen Horrorfilm über die Barbarei der Fleischproduktion, aber Maud Alpi hält ihre Exkursion in die tierische Nacht viel offener: poetische Strenge statt Moral. Man könnte es eine unbesinnliche Meditation über die Würde der Kreatur nennen. Der Mensch ist mitgemeint, aber die Zukunft gehört den Hunden.

Oder war der ganze Film eine bitterböse Allegorie auf den schädlichen Einfluss von Filmschulen? So konnte das sehen, wer tags davor Jonas Mekas gehört hatte, den 93-jährigen Erfinder des freihändigen Tagebuchfilms. «Filmschulen sind Schlachthäuser, man sollte sie alle schliessen!», hatte der fröhliche Greis ins Schulzimmer gerufen, und vor ihm sassen junge Filmschaffende: aufmerksame Lämmer, die nach dem Festival wieder an den Filmschulen dieser Welt die Schlachtbank drücken werden. Wenn sie Glück haben, wird ihre künstlerische Fantasie dort nicht massakriert, sondern dressiert wie ein Zirkustier, das dereinst das Kunststück namens «Festivalfilm» vollführen soll.

Was aber hat es denn nun mit der betagten Schimpansin auf sich, die Federico Fellini in ihrem Lebenslauf stehen hat? Die hat einen kurzen Gastauftritt in «Mister Universo», dem neuen Spielfilm des österreichischen Regieduos Tizza Covi und Rainer Frimmel. Die beiden kehren darin zurück in die italienische Provinz, zu den Menschen aus ihrem vorletzten Film, «La pivellina». Der Zirkusbub Tairo, damals noch ein Teenager, ist jetzt ein Löwenbändiger von zwanzig Jahren. Wir sind also im Showbusiness, aber viel Business ist mit dieser Show nicht mehr zu machen, und wer von diesem Zirkusfilm ein opulentes Felliniorama mit eingebautem Nostalgieeffekt erwartet, landet hart auf dem Boden eines sehr gegenwärtigen Märchens. Denn der Weg zum Zauber führt hier nicht über Extravaganz, sondern über eine beiläufige dokumentarische Genauigkeit.

Tairo trauert um Rambo. So hiess der Tiger, der gestorben ist, und als ihm auch noch sein Talisman abhandenkommt, befallen ihn existenzielle Zweifel. Der junge Dompteur macht sich auf die Suche nach einem Helden seiner Kindheit: dem sagenhaften Muskelmann, der einst das Stück Eisen, das für Tairo zum Glücksbringer wurde, eigenhändig zum Hufeisen gebogen hatte. Dabei ist der junge Mann nicht mal abergläubisch, aber sein Metier lebt nun mal davon: Was bleibt vom Zirkus, wenn man ihm den Aberglauben entzieht, der seine rituelle Grundlage und sein symbolischer Goldstandard ist?

Es ist ein wenig wie mit der seltsamen Strasse in der Nähe von Rom, die dem Film seinen metaphorischen Kern schenkt, der in Variationen immer wieder aufscheint: Da ist eine Steigung, aber irgendetwas ist verkehrt, denn die Dinge rollen scheinbar aufwärts. In dieser Episode ist der ganze Film aufgehoben: «Mister Universo» ist ein ergreifend nüchternes Roadmovie über die Krümmungen des Lebens, von denen wir manchmal gar nicht sagen können, ob sie jetzt abwärtsführen oder ob es sich nur so anfühlt. Und wenn du glaubst, alles geht den Bach runter, ist es vielleicht nur eine optische Täuschung.

Christinnen mit abseitigen Gelüsten

Es gibt Dinge, die muss man nicht verstehen, das merkt irgendwann auch der Vogelkundler Fernando, der in «O Ornitólogo» in die Wildnis abtaucht – und dann eine bizarre Begegnung nach der anderen hat. Erst wird er von zwei chinesischen Pilgerinnen aufgelesen, die sich unterwegs nach Compostela verirrt haben. Aber dafür, dass sie angeblich gute Christinnen sind, zeigen sie sehr abseitige Gelüste. Später erwacht Fernando, als eine gespenstische heidnische Fasnacht um sein Zelt tanzt, und dann säumen ausgestopfte Tiere seinen Weg durch den Wald: Wolf und Reh, aber auch ein Nashorn und sogar eine Giraffe. Und gerade, wenn man denkt, jetzt überrascht dich gar nichts mehr, reiten drei barbusige Amazonen zu Pferd daher und reden auf den armen Ornithologen ein – auf Lateinisch.

Es ist ein surrealer Trip in den Selbstverlust, den der portugiesische Regisseur João Pedro Rodrigues hier entfaltet: eine Odyssee zwischen Beklemmung und Beglückung, furchtlos auch in der Albernheit. Die wilde Natur dient nicht als meditative Kulisse für eine Selbstfindung, sondern sie entwickelt ein abgefahrenes Eigenleben, das letztlich in die Auflösung der Identität mündet. Das ist Kino der Entgrenzung, das mit bescheidenen Mitteln eine sehr eigensinnige halluzinatorische Kraft schöpft. Und der Atheist wird zum Heiligen.

Schweizer Filme : Ausser Konkurrenz

Letztes Jahr hatte er in Locarno einen selbstironischen Gastauftritt in «Heimatland», diesmal bekam er gleich einen ganzen Film: Jean Ziegler, unermüdlicher Missionar für eine bessere Welt. Sein einstiger Student Nicolas Wadimoff («Spartiates») hat ihm einen Dokumentarfilm gewidmet. Und auch wenn klar ist, dass der Regisseur mit seinem Protagonisten politisch weitgehend einig ist: Eine Hagiografie ist das nicht. Jean Ziegler, wir kennen das, redet wahnsinnig viel und meist klug, aber immer wieder funken im Film auch Widersprüche dazwischen. Etwa in der sehr lustigen Szene nachts in Kuba, wo sich Ziegler begeistert darüber zeigt, dass die Strassen so schwach beleuchtet sind und kaum Werbung zu sehen ist – aber als an einer Fassade ein riesiges Profil von Che Guevara aufleuchtet, findet er das natürlich super.

Der andere Schweizer Film, über den noch zu reden sein wird, ist «Un Juif pour l’Exemple», Jacob Bergers Verfilmung der gleichnamigen Novelle von Jacques Chessex, der darin einen Fall von mörderischem Antisemitismus in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs bezeugt. Dabei gibt sich Berger nicht mit einem Lehrstück im historischen Gewand zufrieden, sondern er inszeniert die Rezeption des Buchs und die Tiraden gegen den Autor gleich mit – und erzeugt so mal plakative, mal raffinierte Interferenzen zwischen damals und heute. Ambitioniertes politisches Kino, das in Locarno aber ausser Konkurrenz in Randzeiten versorgt wurde. Offenbar möchte man auch hier die lästigen alten Geschichten lieber ruhen lassen.

Florian Keller