Auf allen Kanälen: Freiertipps von der «Rundschau»

Nr. 32 –

Fernsehreporter waren undercover auf dem Strassenstrich. Die Folgen können jetzt die Sexarbeiterinnen ausbaden.

«Sex ohne Gummi» lautete der Titel eines Beitrags der «Rundschau», der Ende Juni ausgestrahlt wurde. «Unsere Reporter Thomas Vogel und Jürg Brandenberger haben im Rotlichtmilieu jenen Frauen zugehört, die sich gezwungen sehen, auch riskante Wünsche der Freier zu erfüllen. Heisst: für Geld alles zu opfern, auch die eigene Gesundheit» – mit diesen Worten moderierte Susanne Wille den Beitrag an. Wobei «zugehört» nicht wirklich das passende Wort ist.

Auslöser für den Beitrag war eine Statistik, nach der Geschlechtskrankheiten in der Schweiz zunehmen, weil mehr ungeschützter Geschlechtsverkehr praktiziert wird. Um herauszufinden, ob das wirklich stimmt, machen sich die zwei Reporter auf den Weg auf den Strassenstrich in Olten. Hier reden sie allerdings nicht mit Freiern, sondern fokussieren sich ganz auf die Sexarbeiterinnen. Im ersten Teil des Beitrags befragen sie ganz offiziell Sexarbeiterinnen, ob sie Geschlechtsverkehr ohne Gummi anböten, was jedoch alle verneinen. Doch dann gehen die Reporter undercover an die Arbeit: Mit versteckter Kamera fahren sie den Strassenstrich in Olten ab, zuerst am Abend, dann nochmals spätnachts: «Schnell merken wir: Frauen, die zunächst Geschlechtsverkehr ohne Kondom ablehnten, sind zur späten Stunde zu allem bereit.»

Jede Frau erkannt

Melanie Muñoz, Koordinatorin von Lysistrada, der Fachstelle für Sexarbeit im Kanton Solothurn, ist schockiert über den «reisserischen» Bericht und kritisiert ihn in mehreren Punkten: «Man filmt mit der versteckten Kamera die Frauen, die unter ökonomischem Druck einen Dienst anbieten, und nicht die Kunden, die diesen nachfragen. Das finde ich höchst fragwürdig. Ausserdem ist fatal, dass im Beitrag konkrete Preise für die Dienstleistungen genannt werden. Am meisten schockiert hat mich aber, dass ich jede Frau erkannt habe, da nur deren Gesicht verpixelt wurde. Nicht einmal die Stimme haben sie verzerrt.»

Der Beitrag ist auf der Bildebene voyeuristisch aufgemacht. Immer wieder sind nackte Frauenbeine in hochhackigen Schuhen und mit knappen Höschen bedeckte Hintern zu sehen. Als Muñoz den Beitrag zusammen mit den Sexarbeiterinnen anschaut, sind diese schockiert, wie gut man sie erkennt. Viele Frauen hätten nun Angst vor einem Zwangsouting. «Mit dieser Art von Journalismus liefert man diese Frauen ans Messer», sagt Muñoz. «Ich glaube, dass die Absichten der Journalisten nicht schlecht waren, sie wollten mit ihrem superinvestigativen Journalismus Missstände aufzeigen. Aber die Konsequenzen dieses Beitrags sind verheerend.»

Nachahmungsfreier

Pikant ist zudem, dass die von der «Rundschau» im Beitrag als «Szenenkennerin» eingeführte Frau tatsächlich eine Vermieterin ist, die selber vom Gewerbe profitiert. Und dass eine Fehlinformation geliefert wird: Im Kanton Solothurn gilt eine Kondompflicht für Kunden von Sexarbeiterinnen. Entgegen den Aussagen der «Rundschau», machen sich bei Nichteinhaltung jedoch nicht die Sexarbeiterin und der Freier, sondern nur der Freier strafbar. Lysistrada hat Anfang Juli bei der Ombudsstelle der SRG eine Beanstandung eingereicht, die der WOZ vorliegt. Der Beitrag sei «einseitig, unfair und teilweise inhaltlich falsch. Es wurden journalistische und ethische Regeln verletzt.»

Mario Poletti, Redaktionsleiter der «Rundschau», weist die in der Beanstandung erhobenen Vorwürfe zurück. «Die Anonymisierungsmassnahmen waren genügend und die Stimmen derart schwer verständlich, dass die Aussagen untertitelt werden mussten.» Der «Rundschau»-Beitrag habe dokumentiert, dass der Konkurrenzdruck immer mehr Frauen dazu zwinge, Sex ohne Gummi «zu tiefem Preis» anzubieten und sich in der Folge Geschlechtskrankheiten vermehrt ausbreiten. Damit erfülle die «verfilmte Vorortrecherche eine wichtige präventive Funktion».

Wie «präventiv» konkrete Preisnennungen im Sexarbeitskontext wirken, ist eigentlich bekannt. Michael Herzig, damals Bereichsleiter Sucht und Drogen der Stadt Zürich, sagte schon vor vier Jahren im Gespräch mit der WOZ: «Es ist fatal, wenn in Berichten über das Thema Strassenstrich konkrete Preise genannt werden, weil die Freier dann auf diesem Preis beharren oder ihn unterbieten wollen.»