Initiative AHV plus: «Schwarzmalerei bei der AHV diente stets dem Abbau»

Nr. 36 –

Die Geschichte der AHV ist auch eine der Prognosen über ihre Zukunft. Der Historiker Matthieu Leimgruber hat sie untersucht und stellt fest: Das System ist erstaunlich stabil und wird einen Ausbau verkraften.

Matthieu Leimgruber: «Der eingeschränkte Blick auf die Demografie verzerrt die ­Realität; die AHV ist nicht verschuldet.» Foto: Magali Girardin

WOZ: Herr Leimgruber, derzeit malen Versicherungs- und Bankenvertreter sowie das bürgerliche Leitmedium NZZ im Tagesrhythmus Schreckensszenarien über die Zukunft der AHV an die Wand. Das zentrale Argument ist die demografische Entwicklung.
Matthieu Leimgruber: Das ist nicht neu. Das Demografieargument war bereits in den neunziger Jahren präsent. Jetzt wird es aber auffällig oft verwendet. Es ist ein nützliches Werkzeug, um politische Ziele wie Rentensenkungen durchzusetzen. Es scheint bestechend logisch, ja mathematisch gewiss. Es suggeriert einen alternativlosen Weg: Rentenkürzungen und Rentenaltererhöhungen. Aber so einfach ist es nicht. Die steigende Lebenserwartung lenkt ab von anderen Aspekten, die zu diskutieren wären, um ein realistisches Bild über den Zustand der Altersvorsorge zu erhalten.

Welche Aspekte kommen zu kurz?
Kaum diskutiert wird die Tatsache, dass bereits heute viele ältere Menschen, die ihren Job verlieren, keinen mehr finden, also in der Arbeitslosigkeit landen, ausgesteuert werden und schliesslich von der Sozialhilfe leben müssen. Später sind sie auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Diese Kosten werden ausgeblendet. Ausserdem verweisen die bürgerlichen Politiker und Politikerinnen auf Staaten, die bereits ein höheres Rentenalter eingeführt haben. Aber sie verschweigen, dass das gesetzliche Rentenalter dort zwar bei 67 Jahren liegt, der tatsächliche Renteneinstieg aber häufig darunter.

Trotzdem, die Frage der Generationengerechtigkeit bleibt: Die wird doch strapaziert, wenn heutige Rentnerinnen und Rentner auf Kosten einer jüngeren Generation eine nicht mehr finanzierbare Rente beziehen?
Auch bei dieser Frage wird einiges ausgeblendet: Pensionierte Grosseltern erbringen in den Statistiken nicht erfasste Leistungen. Die machen ja nicht einfach Ferien. Viele von ihnen kümmern sich um die Enkel, oder sie leisten Freiwilligenarbeit in der Pflege. Sie leihen ihren Kindern oft Kapital für den Kauf einer Wohnung oder eines Hauses. All diese Leistungen, die letztlich die Kosten für Familien senken, tauchen in den Prognosen nicht auf.

Wie real ist die Gefahr, dass die AHV bei gleichbleibenden oder verbesserten Leistungen, wie sie die Gewerkschaften mit ihrer AHV-plus-Initiative fordern, bankrottgeht?
Geht die AHV bankrott, ist die Schweiz bankrott. Aber wir leben nicht in griechischen Verhältnissen. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder, die Wirtschaft läuft gut. Die AHV ist nicht verschuldet, sie ist extrem stabil. Sie kostet im Verhältnis genau so viel wie 1975, nämlich acht Prozent des Bruttosozialprodukts, obwohl sich die Zahl der Rentner verdoppelt hat. Es ist also falsch zu sagen, die AHV koste immer mehr. Die Schwarzmalerei in den Prognosen diente stets dem Abbau. Ich sage nicht, man müsse nichts machen. Aber der eingeschränkte Blick auf die Demografie verzerrt die Realität.

Die AHV-plus-Initiative verlangt eine generelle Erhöhung der Renten um zehn Prozent. Ist diese Erhöhung finanzierbar?
Ich vertraue den Berechnungsgrundlagen der Gewerkschaften. Vier Milliarden Franken pro Jahr Mehrausgaben sind vergleichsweise moderat, das liesse sich finanzieren. 0,4 Lohnprozente mehr sind verkraftbar. Zumal diese seit 1975 nicht erhöht wurden. Allerdings kommen Lohnprozenterhöhungen bislang als ernsthafte Option nicht in der Debatte vor – ein weiteres Tabu. Dabei hat eine Umfrage eines Sozialwissenschaftlers unter den Beschäftigten ergeben, dass eine Mehrheit einer Erhöhung positiv gegenübersteht, untere und mittlere Einkommen mehr als höhere.

Die Bürgerlichen möchten im Gegenteil mit einer Schuldenbremse das Rentenalter schrittweise erhöhen.
Ein Automatismus würde die Altersvorsorge entpolitisieren und sie der demokratischen Debatte entziehen. Dahinter steckt eine klare Absicht. Wer für ein höheres Rentenalter eintritt, weiss aufgrund der AHV-Abstimmungen der vergangenen zwei Jahrzehnte, dass es extrem schwierig ist, an der Urne damit durchzukommen. Rentenabbau ist in einer Demokratie kaum zu vermitteln, sofern ein Land nicht in eine schwere soziale und wirtschaftliche Krise gerät, wie das bei Griechenland der Fall war.

Sie haben sich in Ihrer Forschung mit der Gründung der AHV beschäftigt. Erfolgte sie im internationalen Vergleich früh oder spät?
Die Einführung von Rentensystemen war seit dem 19. Jahrhundert in allen Industrieländern auf der sozialen und politischen Agenda. Auch in der Schweiz. Aber die Schweiz führte im Vergleich zu Deutschland oder den Vereinigten Staaten mit der AHV erst spät, 1947, ein obligatorisches Rentensystem ein.

Blockierten die privaten Lebensversicherer ihre Einführung?
Im Gegenteil. Die Lebensversicherer hatten kein Interesse, eine risikohafte Basisversicherung zu garantieren. Der Bundesrat fragte sie bereits in den zwanziger Jahren, ob sie bereit wären, eine Basisrentenversicherung zu verwalten. In den Protokollen, die ich gelesen habe, stellte sich die Branche auf den Standpunkt, das sei nicht wünschenswert. Die Versicherer wollten die berufliche und individuelle Vorsorge entwickeln. Die Frage lautete also nicht, ob es eine obligatorische Rentenversicherung bräuchte, sondern wie hoch sie ausfallen sollte: Eine starke AHV schränkt die Geschäfte der Versicherungen ein, eine schwache AHV öffnet Märkte für die Zusatzvorsorge. Das gilt bis heute.

Und wie haben sich die Gewerkschaften damals verhalten?
Als es 1947 um die Einführung der AHV ging, war die grösste Industriegewerkschaft, der Smuv, hinter den Kulissen gegenüber der Idee sehr zurückhaltend. Der Smuv bevorzugte eine paritätische Lösung zwischen der Industrie und den Gewerkschaften. Bloss sagte er das nicht öffentlich, weil es der kommunistischen Opposition Munition geliefert hätte. Offiziell war der Smuv für die AHV. Andere Gewerkschaften sowie der Gewerkschaftsbund traten aus Überzeugung dafür ein.

Die AHV ist ein starker Umverteilungshebel von oben nach unten. Weshalb leisteten die Bürgerlichen dagegen keinen Widerstand?
Sie haben die Wirkung des Umlageverfahrens schlicht unterschätzt. Ausserdem hatte das Umlageverfahren den Vorteil, dass man es sofort einführen konnte. Was an AHV-Beiträgen einbezahlt wurde, konnte gleich an die Rentnerinnen und Rentner ausbezahlt werden. Um 1950 war der AHV-Fonds bereits prall gefüllt – er muss über Anlagen sämtliche Rentenzahlungen für ein Jahr garantieren. Der Erfolg war ein Problem für die Pensionskassen, der AHV-Fonds war eine Konkurrenz im Anlagemarkt. Die Bürgerlichen waren für eine Erhöhung der Renten, damit sich der AHV-Fonds leert.

In den siebziger Jahren wurde das Dreisäulenprinzip offiziell festgeschrieben. Welcher politische Konflikt stand dahinter?
Die zentrale Diskussion drehte sich um die Frage, ob das Umlageverfahren der AHV oder das Kapitaldeckungsverfahren der Pensionskassen bessere Renten erzielen würde. Die Initiativen der PdA, die eine Volkspension forderten, stellten für die bürgerlichen Parteien, die Wirtschaftsverbände und die Versicherer einen direkten Angriff auf die Pensionskassen dar. Sie wollten die AHV zugunsten der Pensionskassen zurückbinden – auch weil die Einbindung der Gewerkschaften in die Kassen für den Arbeitsfrieden nützlich war. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die AHV die demografische Entwicklung bis heute gut verkraftet, während die Pensionskassen die Renten wegen der extrem tiefen Zinsen erheblich werden senken müssen.

Die AHV hat bereits zehn Revisionen hinter sich. Diese wurden immer politisch verhandelt. Die Pensionskassen sind noch nicht lange Thema in der politischen Diskussion.
Tatsächlich standen die Pensionskassen lange ausserhalb der politischen Debatte. Einen Zugriff darauf gibt es nur über ein Rahmengesetz, das BVG. Dass die Vorsorgeeinrichtungen synchron diskutiert werden, ist eine neue Entwicklung. Sie setzte erst um das Jahr 2000 ein. Das ist auch richtig, gehören doch die Pensionskassen inzwischen zum Kern der Altersvorsorge. Heute sind rund neunzig Prozent der Arbeitenden pensionskassenversichert.

Alain Bersets Zusammenschau der beiden Systeme in seiner Reformvorlage 2020 ist also richtig?
Die Reform an sich versucht, kontroverse Anliegen zu vereinbaren. Das ist richtig, aber auch riskant, weil die linke wie die rechte Seite kaum zu Kompromissen bereit ist. Setzen sich die Bürgerlichen durch, kann es zu Leistungseinbussen kommen. Mit der Erhöhung des Frauenrentenalters erreichen sie ein erstes Ziel: Denn ein Rentenalter 67 kann man womöglich erst durchsetzen, wenn Männer und Frauen das gleich hohe Rentenalter haben. Entscheidend wird sein, wie die AHV-plus-Abstimmung ausgeht. Eine krachende Niederlage, das legen die Umfragen nahe, wird es nicht geben. Auch eine knappe Niederlage könnte weitere Rentenverschlechterungen in der Reform abblocken. Ein Sieg hingegen würde die AHV stärken und die Abbaukampagnen der letzten Jahre infrage stellen. So lässt sich auch die massive Gegenkampagne der Bürgerlichen erklären. Die AHV-plus-Abstimmung ist übrigens insofern eine historische Abstimmung, als die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das erste Mal seit 1947 über eine AHV-Rentenerhöhung abstimmen können.

Sie lehren seit einem Jahr an der Universität Zürich. Stichwort Generationenvertrag: Wie stark ist das Interesse Ihrer Studentinnen und Studenten an der AHV?
Meine Vorlesung über soziale Sicherheit war gut besucht. Dabei behandeln wir jeweils auch den Propagandafilm «Lasst uns tapfer beginnen», den die Gewerkschaften 1947 in die Kinos brachten, um für die Einführung der AHV zu werben. Die Diskussionen der Studierenden darüber sind interessant: An einer Stelle heisst es im Film: «Bedürftige Menschen sind keine freien Menschen.» Den Studierenden wird plötzlich klar: Es geht bei der Geschichte der sozialen Sicherheit nicht um technische Fragen, es geht um politische Verteilkämpfe. Die Risikodeckung im Sozialstaat ermöglicht erst die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger.

Matthieu Leimgruber

Die Geschichte der sozialen Sicherheit hat er sich zum Forschungsthema genommen, weil sie sich noch immer fortentwickelt: Der aus Lausanne stammende Matthieu Leimgruber (44) ist seit einem Jahr ausserordentlicher Professor für die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich, wo er die Nachfolge von Jakob Tanner angetreten hat.