Schweiz / China: Bloss keine Politik!

Nr. 38 –

Quellen belegen, dass die Zerrüttungen der Kulturrevolution vor fünfzig Jahren fast zum Abbruch der Beziehungen zwischen der Schweiz und China führten. Noch vor Maos Tod 1976 bemühte sich die Exportwirtschaft dann wieder um den «künftigen Handelspartner».

Bundesrat Pierre Graber (Dritter von rechts) mit einer Delegation in Meijiawu, Ostchina, im August 1974 (weitere Informationen zum Bild auf www.dodis.ch/40501). Foto: Gosteli-Stiftung – Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung / Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bern.

Mit «Traurige Rückkehr nach Peking» betitelte der schweizerische Botschafter in China seinen Bericht, den er vor fünfzig Jahren, im September 1966, verfasst hatte. Nach längeren Konsultationen in Bern kehrte Hans Keller im Frühherbst mit der Eisenbahn in sein Residenzland zurück. Bereits am Grenzübergang empfingen ihn «mit voller Lautstärke lärmende Lautsprecher, überall hängende, stehende oder aufgemalte, blutrot gefärbte Slogans aus Maos Werken, Sprechchöre». In Beijing belagerten «zehntausende von Rotgardisten beiderlei Geschlechts (…) Perrons, Treppen, Hallen und den grossen Bahnhofsplatz, warfen feindliche oder bestenfalls missbilligende Blicke auf die Ankömmlinge mit ihren hier verpönten westlichen Kleidern, Koffern usw. und versperrten überall den Durchgang». Keller hielt fest: «Unser vollständiges Botschaftspersonal sowie das befreundete dänische Botschafterpaar waren zum Glück bis zu unserem Wagen vorgedrungen, um uns die ersten Schritte in einem Lande zu erleichtern, das ich kaum wieder erkannte.»

Seit Kellers Abreise hatte die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» das Reich der Mitte in Chaos und Gewalt gestürzt (vgl. «Gewaltexzesse der Roten Garden» im Anschluss an diesen Text). «Wie Ungeziefer» erschienen dem Botschafter die mobilisierten Jugendlichen, die «überall massenhaft herumlungerten». Wenn die Roten Garden «‹entlarvte Kapitalisten› und ‹Reaktionäre›, meist in Ehren ergraute alte Männer und Frauen», auf offener Strasse verhöhnten und schlugen, musste sich der altgediente Diplomat abwenden, «um nicht vor Zorn mit dem nächstbesten Schlaginstrument auf das jugendliche Gesindel loszuhauen und die wehrlosen Opfer zu befreien». «Ich habe 1938–39 den Naziterror in Wien, später den Antisemitismus in der Slowakei und die Eroberung von Bratislava durch die ausser Rand und Band geratene Rote Armee, dann die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei, dann die Terrormethoden sowjetischer Konzentrationslager im Kaukasus und damit wahrscheinlich gefährlichere Tage erlebt als in China», so Keller. «Noch nie aber empfand ich in meinem Leben einen derartigen Ekel wie vor den Ausschreitungen der Roten Garde, in einem Land, das seit Jahrtausenden den Respekt und die Hochachtung für das Alter und kulturelle Werte zu seinen höchsten und schönsten Tugenden zählte.»

«Gute Miene zum bösen Spiel»

Die Schweiz hatte in China lange eine privilegierte Stellung genossen. Im Januar 1950 hatte das Land als einer der ersten westlichen Staaten mit dem kommunistischen Regime Mao Zedongs diplomatische Beziehungen aufgenommen. 1954 bereitete der Bundesrat Ministerpräsident Zhou Enlai, der anlässlich der Genfer Indochinakonferenz in der Schweiz weilte, einen staatsmännischen Empfang. Die chinesische Botschaft in Bern wurde zu einem der wichtigsten diplomatischen Posten der Volksrepublik im kapitalistischen Ausland. Nun schien das alles nichts mehr wert zu sein. Indem führende Diplomaten in den «freiwilligen Landdienst» verschickt wurden, trimmte man das Aussenministerium auf einen aggressiven kulturrevolutionären Kurs. Keller blitzte ab, wenn er wegen Schikanen gegenüber der kleinen «Schweizer Kolonie» im Gastland, wegen der «ausländerfeindlichen Slogans» vor dem Botschaftsgebäude, der «Drohungen und Gefahren, denen unser Bundespersonal hier stets ausgesetzt ist», oder der in seinen Augen «grotesken Reaktion (…) auf das prächtige Chinabuch unseres Meisterphotographen Emil Schulthess» vorsprach. Er mache «weiterhin gute Miene zum bösen Spiel», rapportierte Keller nach Bern, doch «meine Geduld nähert sich dem Ende».

Eskalation wegen Tibet

Wut und Empörung, die aus Kellers Berichten sprachen, hatten auch den Zweck, in Bern die baldmöglichste Versetzung zu erwirken. Sein Nachfolger, Botschafter Oscar Rossetti, sah sich nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 1967 ebenfalls mit heftigen Attacken konfrontiert. Schliesslich eskalierte der Konflikt in Bern. Beijing hatte sich schon oft über die Anwesenheit der vielen Flüchtlinge aus Tibet und die Aktivitäten von Emissären des Dalai Lama in der Schweiz beschwert. Im Sommer 1967 «verlangte» nun der chinesische Geschäftsträger anlässlich der Eröffnung des Tibet-Instituts in Rikon ZH ultimativ, dass Bern «seine Haltung ändere». Dies brachte wiederum Generalsekretär Pierre Micheli in Rage: Die souveräne Schweiz anerkenne keiner Regierung das Recht zu, Forderungen anzubringen, deklarierte der Chefdiplomat der Eidgenossenschaft. Entgegen diplomatischem Usus trug die Volksrepublik den Streit auch über die Presse aus. Das war dem Bundesrat zu viel. Zwar beteuerte die Landesregierung, sie wolle keinen Abbruch der Beziehungen zu Beijing. Sie nahm ihn jedoch, angesichts des damals noch geringen Handelsvolumens mit «Rotchina», explizit in Kauf, denn – so der Wortlaut des Sitzungsprotokolls des Bundesrats – «das wäre nicht so schlimm». Mit Berufung auf die «humanitäre Tradition» beschied man Beijing öffentlich, auf eine Diskussion über die tibetischen Flüchtlinge wolle man sich weiter nicht einlassen.

Rossetti in Beijing setzte derweil auf Zeit. «China muss im gegenwärtigen Moment mit einem kranken Mann verglichen werden, der von Wahnsinns- und Tobsuchtsanfällen geschüttelt wird», schrieb er an die Zentrale. «Eine sachliche Diskussion irgendeines Problems ist nicht möglich.» Es gelte, die Krise auszusitzen.

«Wir sind fast Albaner»

Tatsächlich konnte Rossetti bei seiner Abberufung 1972 bereits eine Besserung des bilateralen Verhältnisses konstatieren. Vornehmlich im wirtschaftlichen Bereich schien Beijing nach wie vor an Kontakten interessiert. Unter seinem Nachfolger, dem Genfer Albert Natural, erfuhren die Beziehungen gar einen regelrechten Boom. Dieser manifestierte sich insbesondere in der Besuchsdiplomatie. Im Frühjahr und Sommer 1973 besuchten die beiden Altbundesräte Max Petitpierre und Willy Spühler das Reich der Mitte. Zur Eröffnung einer schweizerischen Industrieausstellung weilte – als erster amtierender Bundesrat überhaupt – im August 1974 Aussenminister Pierre Graber in China. Im April 1975 weihte Verkehrsminister Willi Ritschard die Swissair-Linie zwischen Zürich und Beijing ein. Euphorisch schrieb Botschafter Natural nach Bern: «Nous sommes presque des Albanais.» Lediglich Chinas treuster Verbündeter, das Regime Enver Hoxhas in Tirana, erfahre durch die staatlich gelenkten Medien «noch inbrünstigeres Lob» als die Eidgenossenschaft. Deng Xiaoping, der als Vizepremier aus der kulturrevolutionären Versenkung auftauchte und bald schon die führende Rolle in Chinas Reformpolitik einnehmen sollte, wiederholte wieder das Diktum von der «traditionellen Freundschaft» zur Schweiz.

Vom ärgsten Krach war das Verhältnis in neue Flitterwochen gekippt. Anstatt dass Wandplakate und Parolen gegen die «fremden Teufel» hetzten, war das Regime in Beijing nun gewillt, «vom Ausland zu lernen» und «auf der Grundlage der Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils» Handel zu treiben. Dies kam der schweizerischen Exportwirtschaft zupass. Nach dem «Ölschock» von 1973 stürzten die westlichen Industriestaaten in die schwerste Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Traditionelle Absatzmärkte brachen weg. Diversifikation war das neue Zauberwort, unter dem versucht wurde, auch dem Wirtschaftsverkehr mit China neue Impulse zu verleihen. Zwar gemahnte man in Bern zu Nüchternheit und warnte vor «euphorischen Vorstellungen». Dennoch schwärmte der massgebliche Handelsdiplomat Raymond Probst von den «beträchtlichen Entwicklungsperspektiven» im «riesigen chinesischen Reich mit seinen 800 Millionen potentieller Kunden». Im Dezember 1974 schon signierte Probst für den Bundesrat ein neues Handelsabkommen mit China.

Der Bundesrat demonstrierte bei den empfindlichen Dossiers – gegen die Widerstände des antikommunistischen Justizministers Kurt Furgler – Entgegenkommen, um die Entwicklung Chinas zum «künftigen Handelspartner» zu begünstigen. Als der Dalai Lama im Oktober 1973 die Schweiz besuchte, erteilte man ihm ein striktes Redeverbot. 1975 wurde die Volksrepublik als Ehrengastland zur Lausanner Herbstmesse eingeladen. Einem Jugendmusikorchester aus Taiwan, das zur selben Zeit in der Schweiz gastierte, wurden strenge Restriktionen auferlegt. Indem solch delikate Fragen ganz im Sinn Beijings diskret gelöst wurden, spurte man in Bern einen Weg vor, an den man sich bei den Beziehungen zu China auch in den kommenden Jahrzehnten halten sollte. Solange sich Geld verdienen liess, schien die wichtigste Lehre aus der Geschichte zu sein: Bloss keine Politik!

Die zitierten diplomatischen Dokumente sind unter www.dodis.ch/30920, www.dodis.ch/30917, www.dodis.ch/33131, www.dodis.ch/33530, www.dodis.ch/33528, www.dodis.ch/37700, www.dodis.ch/37698 und www.dodis.ch/37693 einsehbar.

Der Historiker und WOZ-Autor Thomas Bürgisser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) in Bern.

Die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» : Gewaltexzesse der Roten Garden

Riesige wirtschaftliche Fehlplanungen um 1960 führten in China zu einer katastrophalen Hungersnot. Dem vermeintlich «Grossen Sprung nach vorn» fielen Millionen Menschen zum Opfer. Danach formierte sich in der Kommunistischen Partei eine wachsende Opposition gegen Generalsekretär Mao Zedong. Mit der Kulturrevolution trat der «Grosse Vorsitzende» 1966 eine politische Massenkampagne los, um die Reihen zu «säubern» und die Kader auf Linie zu bringen.

Mao beschwor einen drohenden Staatsstreich der «Bourgeoisie» und rief die Jugend des Reichs auf, die Missstände in Staat und Gesellschaft radikal zu beseitigen. Arbeiter, Studentinnen und Schüler sollten alte Denkweisen, Kulturen, Gewohnheiten und Sitten zerstören und somit den bestehenden Partei- und Staatsapparat zerschlagen. Die Gewaltexzesse der Roten Garden richteten sich vornehmlich gegen Fachleute und Intellektuelle. Unterstützt vom wütenden Mob auf der Strasse und der Schlagkraft der ihm treu verpflichteten Armee, gelang es Mao so, die «liberalen» Kräfte um den Reformer Deng Xiaoping und Staatspräsident Liu Shaoqi zu entmachten. Ein Grossteil der führenden FunktionärInnen in Partei und Verwaltung wurde abgesetzt, verhaftet, deportiert oder ermordet.

Im Zuge der Umbrüche von 1968 übte der radikale klassenkämpferische Geist der chinesischen Kulturrevolution in Westeuropa auch über die maoistische Linke hinaus eine gewisse Faszination aus. Gleichzeitig begann in China die Armee, gegen die zügellosen Roten Garden vorzugehen. Die schwer kontrollierbare Dynamik, die Mao entfesselt hatte, wurde auf sein Geheiss hin mit massiver Gewalt gebrochen. Über parteiinterne Flügelkämpfe setzte sich die Kulturrevolution bis zu Maos Tod 1976 fort.

Im Prozess gegen die sogenannte Viererbande wurde schliesslich ein enger Kreis um Maos Witwe Jian Qing für viele Exzesse und Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht. Die nach offizieller Lesart «tragische Episode» der Kulturrevolution ist in China bis heute mit vielen Tabus behaftet.

Thomas Bürgisser