Nobelpreis: Jeder ihren Dylan!

Nr. 42 –

Bob Dylan erhält mit dem Literaturnobelpreis die Weihen der Hochkultur. Kann man ihn noch für sich entdecken, wenn man unter fünfzig ist? Das Wort hat unser jüngster Popkritiker.

Da war er auch noch etwas jünger: Bob Dylan, mit Jazzbass, 1965 bei den Studioaufnahmen zu «Highway 61 Revisited». Foto: Ronald Grant Archive / Alamy Stock Foto

Herr Schneider muss es damals gemocht haben, das Lied «Wie viele Strassen» im Mittelstufensingbuch «Sing Ais». Sonst hätte er uns diese deutsche Adaption von Bob Dylans «Blowing in the Wind» nicht immer wieder durchexerzieren lassen. Sangen wir doch «Ds Zündhölzli» oder «Tschau, Tschau, Svizzera» viel lieber.

Heute bin ich dankbar. Nicht dafür, dass wir damals schon einen Dylan-Song trällern durften, sondern dass ich hinter dieser platten Übersetzung niemals Dylan erkennen konnte. Anders als die Beatles wurde er mir so nicht schon früh vermiest. Das dürfte in Zukunft schwieriger werden, wenn er nun auch noch vom Weihrauch des Literaturnobelpreises umwabert wird. Immerhin hat Dylan den Anruf der Stockholmer Akademie noch nicht entgegengenommen.

Wenn Lob einschüchtert

Nach der unbewussten Begegnung im Singunterricht folgte eine weitere im Bühnennebel des «Rohstofflagers» in Zürich. Es spielte der Black Rebel Motorcycle Club, und nach einem hypnotischen Konzert schnallte sich Sänger Peter Hayes zu einer Zugabe die akustische Gitarre um. Der folgende Song ging mir Wochen nicht mehr aus dem Kopf. Später sollte ich ihn auf einer Schallplatte für zwei Franken aus dem Brockenhaus wiederfinden: «The Lonesome Death of Hattie Carroll» von Dylans engagiertem «The Times they Are a-Changin’» (1964). Wenn man wie ich erst 1991 geboren ist, heisst das für den Zugang zu Dylans Werk: Seine Songs begegnen einem zuerst in den Versionen anderer. Das schmälert die Anziehung nicht. Es demokratisiert vielmehr die Zugänge zu einem, der inzwischen in den Hallen der Hochkultur angekommen ist.

Die Hymnen einiger Dylanologen der letzten Tage lesen sich ja wie eine Einschüchterung: Als müsste man erst ein literaturwissenschaftliches Seminar belegen, bevor man zu «Mr. Tambourine Man» mitsummen darf. So schreibt Heinrich Detering, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, in der FAZ: «Keiner in seiner Generation hat die musikalischen und poetischen Traditionen einer zweihundertjährigen amerikanischen Populärkultur so vielfältig, so überraschend, so schöpferisch mit dem Kanon der Bildungskultur zusammengeführt.»

Detering beansprucht einen für sich und seine Kreise, der sich von niemandem beanspruchen lässt, beruft sich doch gerade der 75-jährige Dylan selbst auf einen anderen grossen Selbstverschwinder der Kulturgeschichte: «Ich ist ein anderer», schrieb der französische Dichter Arthur Rimbaud im 19. Jahrhundert an einen Freund. Knapp hundert Jahre später sollte einem jüdischen Zwanzigjährigen aus der US-amerikanischen Pampa seine New Yorker Freundin ein Buch von Rimbaud zustecken. In seiner Autobiografie erinnerte sich Dylan später, was er bei der Lektüre des Satzes von Rimbaud dachte: «Das ergibt total Sinn. Ich wünschte, jemand hätte mir den früher gezeigt.»

Das zeigt, wie beim Meister selbst der Referenzrahmen für sein Werk durch persönliche Beziehungen geschaffen wurde. Dylans lyrischen Popsongs, zugesteckt von FreundInnen, lässt sich auch heute noch unvoreingenommen begegnen.

Gegen die Liebhaber verteidigt

Es war kurz nach dem Konzert von Black Rebel Motorcycle Club, als ich angefixt von der Brocki-Platte versuchte, mich näher an Dylan heranzuschleichen. Mein Bruder roch den Braten und schenkte mir «Blonde on Blonde» als Schallplatte zu Weihnachten. Ich merkte rasch, dass sich darauf der Soundtrack für die Lebensphase befand, die nun folgte. Bei kaum einem findet man so viele kluge Lovesongs. Es braucht nicht viel, um einzustimmen: Mit drei, vier Akkorden hat man sie sich angeeignet. Auch dadurch steht Dylan quer zu seinen Liebhabern: So zeichnen sich die musikalischen Strukturen seiner Songs meist durch handwerkliche Zugänglichkeit aus. Anders in seinen Texten: «How does it feel?», heisst es in «Like a Rolling Stone» vom elektronischen «Highway 61 Revisited». Man kann tatsächlich bis heute rätseln, wen er hier verhöhnt.

Doch darüber hinaus vermittelt kein anderer Song ein derartiges Gefühl dafür, dass man als Aussenseiter unverwundbar ist. Das ist es, was in der aktuellen Diskussion um Dylans literarische Qualität, in dieser beflissenen Suche nach den literaturgeschichtlichen Anspielungen seiner Texte, zu kurz kommt: das Gefühl für die Interaktion mit der Musik. Über dieses Gefühl kann man Dylan verstehen, ohne ihn erklären zu müssen. Die Fokussierung auf die Texte beim Songschreiber Dylan ist eine falsche Reduktion, die wohl leider mit der Verleihung des Nobelpreises noch verstärkt wird.

Irgendwann kam der Jokerman selbst in die Schweiz. Von den überteuerten Sitzen (Sitzen!) weit hinten konnte man ihn nur schemenhaft erkennen. Was währenddessen aus den Lautsprechern kam, liess mich unberührt zurück. Darum ging es auch nicht. Man feierte, dass es ihn noch gab. Begeisterung für Dylan mit 1991er-Jahrgang bedeutet auch, auf Bob-Dylan-Konzerte zu gehen, bloss um dort gewesen zu sein. Wenn irgendwann auch die letzte Version seiner selbst nicht mehr auftritt, spielen alle anderen in seinen Platten weiter. So wie in den Versionen anderer, zugesteckt von FreundInnen. So wird auch beim «Song and Dance Man», wie er sich selbst mal beschrieb, der Literaturnobelpreis eine Nebensache bleiben. Bob Dylan ist weder der Homer noch der Shakespeare unserer Zeit. Bob ist der Dylan unserer Zeit – und wir alle haben unseren eigenen.