#SchweizerAufschrei: Mit Mythen die Rape Culture aufrechterhalten

Nr. 42 –

Wie Andrea Geissbühler und Roger Köppel dazu beitragen, dass sexuelle Gewalt verharmlost, geleugnet oder gar gerechtfertigt wird.

Das Schlagwort beziehungsweise Hashtag #SchweizerAufschrei verbreitete sich Ende letzter Woche wie ein Lauffeuer in sozialen Medien. Allein auf Twitter berichteten Hunderte Frauen von übergriffigen Erlebnissen. Beim Lesen der Tweets schockiert auch, dass man viele der geschilderten Situationen aus dem eigenen Alltag kennt und aufgehört hat, sich aufzuregen. Der Aktion ging eine Aussage der Expolizistin und SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler voraus, die damit unabsichtlich eine Lawine lostrat: «Naive Frauen, die fremde Männer nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen und dann ein bisschen mitmachen, aber plötzlich dennoch nicht wollen, tragen ja auch ein wenig eine Mitschuld. Da sind die bedingten Strafen vielleicht gerechtfertigt.»

So eine Aussage von einer Politikerin, vor allem von einer ehemaligen Polizistin, ist zwar schockierend, aber auch repräsentativ für bestehende sexistische Strukturen: Jede fünfte Frau in der Schweiz macht in ihrem Leben Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Bundesrat und Frauenberatungsstelle vermuten, die Dunkelziffer von Vergewaltigungen liege bei achtzig oder neunzig Prozent. Nach diesen Schätzungen müssen nur fünf bis neun Prozent der Vergewaltiger mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Als ehemalige Polizistin, also Freundin und Helferin, die auch Opfer von Vergewaltigungen einvernahm, dürfte Geissbühler mit diesen Zahlen vertraut sein. Doch sie erstaunte aufs Neue. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» präzisierte sie ihre Aussage und antwortete auf die Frage, ob sie Rückmeldungen erhalten habe: «Ja, viele. Da gibt es Leute, die glauben, ich gebe ihnen die Schuld an dem erlebten Missbrauch. Das ist nicht so. Ich sprach nicht vom typischen Fall, wo eine Frau ins Auto gezerrt und vergewaltigt wird.»

Dieser Fall ist ganz und gar nicht typisch. Geissbühler nutzt ein altbekanntes Narrativ: den Vergewaltigungsmythos des bösen Mannes, der einer Frau auflauert und sie missbraucht. Tatsächlich geht man aber davon aus, dass sich in achtzig Prozent der Vergewaltigungsfälle Opfer und Täter schon kannten. Die Verwendung solcher Mythen ist ein Instrument der Rape Culture: Sie dient dazu, sexuelle Gewalt zu verharmlosen, zu leugnen oder gar zu rechtfertigen.

Dasselbe tut SVP-Nationalrat und Verleger Roger Köppel in der jüngsten «Weltwoche». Er benutzt ein Moralverständnis, um Hillary Clinton das Recht abzusprechen, sich gegen Sexismus zu positionieren: «Hillary liess ihrem Ehemann Bill bis heute die strübsten Seitensprünge und schmierigsten Affären durchgehen, so dass ihre Empörung über Trump einigermassen aufgesetzt und künstlich wirkte. Alles, was Bill als Präsident mit Frauen praktizierte, ist, wenn man es denn schon bewerten will, schimpflicher als das, was Kandidat Trump vor elf Jahren über Frauen sagte. Wäre es Hillary mit ihrer Empörung ernst, hätte sie sich längst scheiden lassen müssen.»

Köppels Vergleich ist exemplarisch, er vergleicht Äpfel mit Birnen: Während Bill Clinton mit seinen Affären einvernehmlichen Sex hatte, prahlt Donald Trump mit seinen Übergriffen, die er sich aufgrund seines Prominentenstatus leisten könne. Das eine ist eine Straftat, das andere ein Lebensstil, den Köppel frevelhaft findet.

Das ist Rape Culture: eine Gesellschaft, in der Vergewaltigungen geschehen, aber von Angehörigen, Medien oder PolitikerInnen heruntergespielt werden. Den Opfern wird misstraut oder eine Mitschuld zugeschoben. Unterschwellige Implikationen wie der Fingerzeig auf den Minirock oder die Nachfrage eines Polizisten, ob man sich wirklich sicher sei, dass man nicht habe geküsst werden wollen, gehören zum Alltag. In diesem System resignieren Mütter und halten ihre Töchter dazu an, die Bluse zuzuknöpfen, früher nach Hause zu kommen, ihre Wut nicht zu laut kundzutun und ihre Sexualität zum behüteten Schatz zu machen, der an Wert verliert, wenn er herumgereicht wird.

Nicht die Vergewaltiger allein machen diese strukturelle Vergewaltigungskultur aus, sondern der gesellschaftliche Umgang mit ihnen. Deshalb ist es eben nicht egal, was Politikerinnen sagen: Sie tragen Verantwortung dafür, die Öffentlichkeit in ihrem Umgang mit Sexismus und Vergewaltigungsverharmlosung zu sensibilisieren. Es ist nicht egal, was Chefredaktoren schreiben: Sie bestimmen mit, was gedacht werden soll und gesagt werden darf. Und es ist auch nicht egal, dass Frauen seit Jahren versuchen, auf diese Vergewaltigungskultur aufmerksam zu machen, und User des bekanntesten Pendlerblatts der Schweiz in Kommentarspalten schreiben: «Ich geh zum Militärdienst. Die Feministinnen sollen die Fresse halten.» Alltäglicher Sexismus und Übergriffe sind keine Ungleichbehandlung wie die Verpflichtung zum Militärdienst. Sie sind Gewalt. Und das Erdulden von Gewalt darf nicht länger als gegeben und unveränderbar hingenommen werden.

Nadja Brenneisen ist Journalistin bei «Vice». Sie brachte mit einem Text über Andrea Geissbühlers Aussagen den #SchweizerAufschrei mit ins Rollen.

Viele Hashtags, ein Kampf

«Schreit auf!», tönt es derzeit von Boston bis Berlin. Losgetreten durch die Sexismusdebatte in der CDU, wurde in Deutschland unlängst die #Aufschrei-Kampagne von 2013 wiederbelebt. In den USA twittern Frauen und Männer unter #NotOkay über ihre Sexismuserfahrungen.

SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühlers Aussage über vergewaltigte Frauen hat nun auch in der Schweiz eine Sexismusdiskussion angestossen. Zunächst vor allem in den sozialen Medien geführt, ist die #SchweizerAufschrei-Kampagne mittlerweile auf den Titelseiten der grossen Zeitungen angekommen.