Türkei: Dem Testament der Angst etwas entgegensetzen

Nr. 46 –

Politische Raves, neue Allianzen und Flashmobs: Der Widerstand gegen den türkischen Präsidenten müsse auch im Ausland belebt werden, schreibt Gastautor Imran Ayata.

Spätestens seit dem gescheiterten Coup d’État vollzieht sich in der Türkei unter der Dirigentschaft von Präsident Recep Tayyip Erdogan der brutale Übergang zu einem autoritären Präsidialregime. Dennoch scheint noch keine politische Definition gefunden, die Erdogans System präzise erfasst: eine neuartige Diktatur, die die Islamisierung der Gesellschaft und einen Wechsel des politischen Systems vorantreibt, auf einer sunnitisch-türkischen Ideologie basiert, Medien und gesellschaftliche Apparate kontrolliert, mit Gewalt gegen die Opposition vorgeht und von neoosmanischen Expansionsfantasien getrieben ist.

Erdogans politischer Putsch hat rechtsstaatliche Prinzipien ausser Kraft gesetzt, den Bürgerkrieg in die kurdischen Regionen zurückgebracht und zivilgesellschaftliche Strukturen im ganzen Land ausgehöhlt. Seit Juli wurden mehrere Tausend Mitglieder der HDP festgenommen, darunter Parlamentsabgeordnete und die beiden Kovorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas. Letzte Woche wurden 370 Vereine wegen angeblicher Verbindung zum Terrorismus verboten, darunter eine Organisation, die sich für die Rechte von Kindern einsetzt.

Selbst Abgeordneten der sozialdemokratischen CHP und deren Vorsitzendem Kemal Kilicdaroglu drohen Strafverfahren, die Erdogan höchstpersönlich auf den Weg gebracht hat. Die alte Parole der Linken «Susma, sustukca, sira sana gelecek» (Hör auf zu schweigen, wenn du weiterhin schweigst, kommst du selbst an die Reihe) ist zur neuen Realität geworden.

Nur punktueller Protest

Was wie eine Dämonisierung Erdogans klingt, ist vielmehr eine Momentaufnahme. Mehr denn je ist das Land gespalten in Gegensätze wie Türke oder Kurdin, Laizistin oder Islamist, Sunnit oder Alevitin, AKP-Anhänger oder Gülenistin. In grossen Teilen der Gesellschaft existiert obendrein eine obsessive Fixierung auf autoritäre Anführer – Parteien und Regierungen verkümmern zur One-Man-Show. Auch deswegen geniesst Erdogan bei seinen AnhängerInnen Rückhalt. Die nationalistische Propaganda trägt derweil bereits Früchte: Der Hass auf KurdInnen entlädt sich nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch auf der Strasse.

Angst geht um. Und wer sich regierungskritisch äussert oder gar emphatisch die Lebensbedingungen in kurdischen Regionen thematisiert, muss mit Konsequenzen rechnen. Noch immer artikuliert sich im Land Protest, wenn auch eher punktuell: Gegen die Verhaftungen der HDP-Abgeordneten gingen in Istanbul Bauarbeiter auf die Strasse, täglich halten Menschen Wache vor dem Gebäude der Oppositionszeitung «Cumhuriyet» und singen mit linken MusikerInnen Widerstandssongs. Das Team der verbotenen Tageszeitung «Özgür Gündem» arbeitet mit der Zeitung «Özgürlükcü Demokrasi» weiter, dort führen derzeit viele AutorInnen auch die Kolumne der verhafteten Schriftstellerin Asli Erdogan fort. Künstler wie Hayko Bagdat nutzen mutig die sozialen Medien, um Erdogans Repressionspolitik zu kritisieren. Trotz des Ausnahmezustands kommt es in kurdischen Städten zu Protesten und Solidaritätsbekundungen mit der HDP. Von einer breiten Widerstandsbewegung ist jedoch nichts zu sehen.

Es ist nicht nur die Furcht vor Repression oder die eigene Ohnmacht, die einer politischen Formierung gegen die AKP im Weg steht. Die Schwäche der Opposition hat auch mit dem dogmatischen Festhalten der CHP an der Doktrin von Staatsgründer Kemal Atatürk zu tun. Noch immer ist die CHP nicht in der Lage, Laizismus ohne Kemalismus zu denken. Sie kann sich vom kemalistischen Nationalismus nicht verabschieden, findet keine Antworten auf den anatolischen Neoliberalismus der AKP. Zudem zieht jede – auch nur kleine – Annäherung an die HDP den Vorwurf des Landesverrats nach sich. Der Umgang mit der Partei hat dabei etwas Selbstzerstörerisches: Wohl jedeR in der Türkei weiss, dass eine Lösung der «kurdischen Frage», die im Grunde eine Frage der Demokratie ist, ohne die HDP und auch ohne die PKK nicht möglich ist.

Am letzten Samstag haben derweil mehr als 10 000 Menschen in Köln gegen Erdogans Politik demonstriert. Zur Kundgebung hatten alevitische und kurdische Organisationen gemeinsam aufgerufen – was hohe symbolische Bedeutung hatte. Dass die als sozialdemokratisch und kemalistisch geltenden AlevitInnen gemeinsam mit KurdInnen auf die Strasse gehen, war zuvor kaum vorstellbar. Nach der Grossdemonstration fror die Alevitische Union ihre Zusammenarbeit mit dem neu geschmiedeten Bündnis ein. Sie war massiver Kritik von der türkischen Community innerhalb und ausserhalb Deutschlands ausgesetzt, weil sie nicht verhindert hatte, dass auf der Demo Fahnen mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan geschwenkt wurden.

Solche Proteste bleiben umso wichtiger, als die Opposition in der Türkei nicht mehr wahrnehmbar auf ihre Anliegen aufmerksam machen kann. In der AKP-Ära ist nicht nur die Medienlandschaft im Land zerschlagen worden; auch die «yandas medya» (Befürwortermedien), wie die Opposition diese Organe nennt, wurden in dieser Zeit etabliert, eine erdrückende PR-Maschinerie, die mit Journalismus so viel gemein hat wie Donald Trump mit Feminismus. In grossen Lettern und devoten Kommentaren beteuern regimetreue JournalistInnen Erdogan ihre Gefolgschaft und hetzen in faschistoider Propagandamanier gegen Oppositionelle.

Ein Akt der Solidarität

Während die Türkei politisch gegen die Wand fährt, stellt sich die Frage nach der Haltung der EU gegenüber der türkischen Regierung. Längst müsste sie ihren Kurs grundlegend ändern und den Druck erhöhen. Doch offenbar geniessen der «Flüchtlingsdeal» sowie wirtschaftliche und strategische Interessen Priorität. Dabei liesse sich bereits mit der Androhung ökonomischer Sanktionen Erdogan auf seinem Weg in eine Diktatur «à la turca» ein Bein stellen und zugleich den demokratischen Kräften auf die Beine helfen. Mittel- und langfristig müsste dies im Interesse der europäischen Staaten sein. Denn sollte die aktuelle Krise zu einer dauerhaften werden, bekäme Europa das nicht nur mit einer Flüchtlingsbewegung aus der Türkei zu spüren.

Wirtschaftliche Sanktionen würden die türkische Ökonomie treffen, da sie extrem abhängig vom Ausland – vor allem von Europa – ist. Seit einiger Zeit ist die türkische Volkswirtschaft ins Stottern geraten. Lange basierte die politische Macht von Erdogan und seiner AKP auf ökonomischem Erfolg und einer mehrheitlich erzkonservativ und islamisch-autoritär geprägten Gesellschaft. Eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage passt so gar nicht in das Bild der neuen Türkei als Gewinnerin der globalisierten Ökonomie.

Noch sind europäische PolitikerInnen überwiegend im Modus des «Ernsthaft besorgt»-Seins, den Erdogan belächelt und für seine Mobilisierung im Land instrumentalisiert. Erdogan treibt die EU vor sich her. Dass Verantwortliche in der EU dennoch in ihrer verbalen Komfortzone verharren, hat auch damit zu tun, dass sie keinen nennenswerten Druck aus den nationalen Parlamenten und der Zivilgesellschaft zu spüren bekommen. Erst wenn der Druck erhöht wird, werden EU-PolitikerInnen wohl in Erwägung ziehen, ihre Strategie gegenüber Erdogan fundamental zu ändern. Es bedarf neuer Allianzen und Protestformen, politischer Raves vor türkischen Konsulaten und den EU-Institutionen, Flashmobs oder publizistischer Interventionen.

Gerade jetzt, da die Rechte in den USA und in Europa reaktionäre Exempel statuiert, könnten progressive Kräfte in Europa gemeinsam mit anatolischen MigrantInnen-Communitys Europas Regierungen zum Politikwechsel gegenüber der Erdokratur zwingen. So würden demokratische Kräfte und die türkische Opposition gestärkt und dem Testament der Angst, das Erdogan der Türkei diktiert, etwas entgegengestellt. Um nichts Geringeres als diesen Akt der Solidarität geht es.

Vielleicht beginnt dieser damit, dass die WOZ AutorInnen aus der Türkei und Kurdistan eine Plattform bietet und LeserInnen dieser Zeitung progressive kurdische und türkische Vereine in der Schweiz einmal von innen kennenlernen und gemeinsam mit den dortigen AktivistInnen darüber diskutieren, was zu tun ist. Noch ist es dafür nicht zu spät.

Imran Ayata (47) ist Mitbegründer der Gruppierung Kanak Attak, Buchautor («Ruhm und Ruin», 2016) und Campaigner.

Ab der nächsten Ausgabe wird die türkische Schriftstellerin Ece Temelkuran für die WOZ eine wöchentliche Kolumne aus der Türkei verfassen.