Kleine Verwahrung: Lange Haft jenseits der Strafe

Nr. 50 –

Ein Mann ist seit elf Jahren in einer sogenannt kleinen Verwahrung, obwohl er nur zu einer Strafe von knapp drei Jahren verurteilt wurde. Zweimal ging sein Anwalt vor Bundesgericht, zweimal bekam er recht. Der Fall wurde am Montag neu verhandelt – die Medien waren ausgesperrt.

Illustration: Maria Sulymenko

Montagmorgen beim Obergericht in Bern. «Nein», sagt die Frau am Empfang, «Sie können nicht rein – der Prozess ist nicht öffentlich.»

Das brauchen wir schriftlich. Die Frau holt die Gerichtsschreiberin. Diese wiederholt, das Gericht habe definitiv entschieden, dass Medienschaffende nicht zugelassen seien. Die WOZ verlangt eine beschwerdefähige Verfügung, um sich gerichtlich dagegen zu wehren.

Für Beschuldigte ist es existenziell, dass Gerichtsverfahren nicht hinter verschlossener Tür stattfinden. Das macht einen Rechtsstaat aus. Es gibt zwar Ausnahmen, in denen es sinnvoll ist, das Publikum auszusperren – wenn zum Beispiel Opfer, die aussagen, geschützt werden müssen oder die öffentliche Sicherheit bedroht ist oder zu grosser Andrang herrscht. Nichts davon trifft an diesem Morgen zu. Medien sind sonst keine anwesend.

Beim Fall, der an diesem Morgen verhandelt wird, geht es um einen Mann, der 2005 verhaftet wurde und 2008 in zweiter Instanz vom Berner Obergericht wegen sexueller Handlungen mit Kindern zu einer Freiheitsstrafe von 35 Monaten verurteilt worden ist. Nennen wir den 56-Jährigen Ralf Scherrer.

Das Gericht ordnete damals eine «stationäre Therapie» an. Scherrer hat die letzten Jahre in verschiedenen Gefängnissen und Anstalten verbracht, heute sitzt er im Massnahmenzentrum in St. Johannsen, das zwischen Bieler- und Neuenburgersee liegt. Da herrscht ein etwas offeneres Regime, aber ein wirklich grosser Unterschied zu halb offenen Gefängnissen wie Saxerriet besteht nicht.

Scherrer steht zu seiner Tat, macht bei der Therapie mit. Die Jahre vergehen, er kommt trotzdem nicht raus. Er verzweifelt, wehrt sich, schreibt Briefe, wird lästig – womit er seine Chancen auf Entlassung wieder verschlechtert. Denn der heikle Punkt ist: Seine «stationäre Therapie» wird alle drei Jahre um weitere drei Jahre verlängert.

Kampf um rechtliches Gehör

Obwohl Scherrer eine Strafe von weniger als drei Jahren Gefängnis aufweist, ist er inzwischen elf Jahre weggesperrt, weil er zu einer «stationären therapeutischen Massnahme» verurteilt wurde. In Fachkreisen nennt sich das «kleine Verwahrung».

Rechtlich gesehen existieren unterschiedliche Formen von Verwahrung. Die eigentliche Verwahrung wird im Strafgesetzbuch durch Artikel 64 geregelt. Das Gericht verhängt sie, wenn es davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit vor einer Person geschützt werden muss, weil diese als gefährlich respektive psychisch gestört und nicht therapierbar eingeschätzt wird. Die Verwahrung wird nur bei schweren Gewaltdelikten ausgesprochen, die mit mindestens fünf Jahren Haft bestraft werden.

Die kleine Verwahrung wird hingegen durch Artikel 59 geregelt: Jemand begeht ein Delikt, für das er eine allenfalls auch geringe Strafe erhält, das Gericht hält ihn jedoch für psychisch gestört, aber therapierbar, weshalb es stattdessen eine «stationäre Massnahme» anordnet. Dieser Freiheitsentzug «beträgt in der Regel höchstens fünf Jahre», steht im Gesetz. Nach diesen fünf Jahren sollte der Inhaftierte therapiert sein und entlassen werden.

Das Problem: Die kleine Verwahrung kann immer und immer wieder verlängert werden. Genau das ist Ralf Scherrer passiert. Das letzte Mal verlängerte das Regionalgericht Bern-Mittelland die Massnahme im Juni 2014.

Gegen diesen Entscheid legte Scherrers Anwalt Stephan Bernard beim Berner Obergericht Beschwerde ein. Das lehnte die Beschwerde ab. Bernard ging ans Bundesgericht und bekam recht – das Bundesgericht wies den Fall wegen Verfahrensfehlern zurück. Das Obergericht entschied erneut, Bernard ging nochmals vor Bundesgericht und bekam erneut recht – es wies den Fall nochmals wegen Verfahrensmängeln ans Obergericht zurück. Konkret hat Bernard damit erreicht, dass das Obergericht ein richtiges Verfahren durchführen muss: Die Verlängerung der Massnahme darf vor Obergericht nicht auf dem schriftlichen Weg erfolgen – Scherrer respektive sein Anwalt sowie der psychiatrische Gutachter müssen mündlich angehört werden.

«Freiheitsentzug ist der schärfste Eingriff, den unser Rechtssystem überhaupt kennt», konstatiert Bernard, «deshalb braucht es ein rechtsstaatlich sauberes Verfahren – dem Betroffenen müssen rechtliches Gehör und ein mündliches Verfahren gewährt werden, was das Bundesgericht nun deutlich bestätigt hat.»

Dieses mündliche Verfahren hat nun am Montag endlich stattgefunden.

Dass das Obergericht dabei die Öffentlichkeit und sogar die Presse ausgesperrt hat, ist schwer zu verstehen.

Das Gericht hat spitzfindig argumentiert, weshalb es die Öffentlichkeit nicht dabeihaben will: Das Bundesgericht habe nicht nur entschieden, dass der Fall neu mündlich verhandelt werden müsse, es habe auch entschieden, dass es sich nicht um ein «Berufungs-», sondern um ein «Beschwerdeverfahren» handle. Ein Berufungsverfahren ist öffentlich, nicht aber ein Beschwerdeverfahren, so stehe es in der Strafprozessordnung – deshalb müsse das Obergericht, auch wenn es gerne anders entscheiden würde, die Öffentlichkeit ausschliessen, sagte der Obergerichtspräsident Stephan Stucki gegenüber der WOZ.

Das stimmt allerdings nur beschränkt. In anderen Kantonen sind solche Verfahren öffentlich, weil der Bund es den Kantonen überlässt, «die Befugnisse der Beschwerdeinstanz dem Berufungsgericht zu übertragen», wie es in der Strafprozessordnung heisst. Bern könnte anders, wenn man wollte.

Kritik an der Vollzugsbehörde

Über den Verlauf der Verhandlung kann nur aus Sicht von Anwalt Stephan Bernard berichtet werden, da es der WOZ nicht erlaubt war, nach dem Verfahren mit Ralf Scherrer zu sprechen. Bernards Zusammenfassung: Die psychiatrischen Gutachter befanden, Herr Scherrer sei therapeutisch auf einem guten Weg, wenn man ihn aber jetzt sofort freilasse, könnte sich das negativ auswirken, deshalb solle man das nächste halbe Jahr noch nutzen, um die Therapie geordnet zu beenden. Eine sofortige Entlassung und eine ambulante Massnahme seien zwar durchaus denkbar, die Aussichten auf ein künftig deliktfreies Leben wären aber geringer.

Ungewöhnlich scharf haben das Gericht und sogar der Staatsanwalt die Arbeit der zuständigen Vollzugsbehörde kritisiert. Diese habe teilweise völlig unverständlich auf Scherrer reagiert und trage deshalb eine Mitverantwortung, dass die Massnahme bisweilen unglücklich verlaufen sei. Man habe viel zu lange damit gewartet, Scherrer in eine offene Anstalt zu versetzen. Das Obergericht wie der Staatsanwalt waren dezidiert der Auffassung, Scherrer müsse jetzt in der offenen Anstalt verbleiben, und es müsse auf die Entlassung hingearbeitet werden. Die Verlängerung der «therapeutischen Massnahme» bis Ende Mai 2017 hat das Gericht allerdings bestätigt. Wenn alles rund läuft, kommt Ralf Scherrer dann raus – aber sicher nicht früher.

Schwer zu ertragen

«Wir werden diesen Entscheid auf jeden Fall ein drittes Mal ans Bundesgericht weiterziehen», sagt Anwalt Bernard. Er werde sicher den Ausschluss der Öffentlichkeit thematisieren, der seines Erachtens gegen die Strafprozessordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention verstosse. Die Hauptfrage, die das Bundesgericht entscheiden müsse, sei aber eine andere: «Ist es wirklich verhältnismässig, eine Massnahme von insgesamt zwölf Jahren zu verhängen, wenn die ursprüngliche Strafe weniger als drei Jahre betrug? Und ist die Verlängerung selbst dann gerechtfertigt, wenn der Justizvollzug sogar nach Auffassung des Gerichts und der Staatsanwaltschaft inadäquat mit meinem Mandanten umgegangen und für den langfädigen Massnahmenverlauf mitverantwortlich ist?»

Scherrer selbst habe natürlich gehofft, dass er sofort freikomme. Dass das Gericht nicht darauf eingegangen sei, sei für seinen Klienten schwer zu ertragen.

Scherrer ist jetzt in einer schwierigen Situation. Er muss zuerst die Enttäuschung, mindestens ein weiteres halbes Jahr eingesperrt zu sein, wegstecken. Denn eins ist für Leute, die in der kleinen Verwahrung sind, verheerend: Sie dürfen auf keinen Fall aufsässig und renitent wirken – denn sobald sie aufbegehren, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen und sich beispielsweise aus Protest der Therapie entziehen, riskieren sie, dass die Massnahme erneut verlängert wird oder sie gar nachträglich dauerhaft verwahrt werden.