LeserInnenbriefe

Nr. 50 –

Antisemitismus?

«Linker Antisemitismus: Bitte um Aufnahme von Ermittlungen», WOZ Nr. 49/2016

Von der Hauptaussage abgelenkt

Am 1. Dezember 2016 reichte WOZ-Redaktor Stefan Keller Strafanzeige gegen die eine Woche dauernde, israelkritische Plakataktion im Hauptbahnhof Zürich ein, hinter der die mir nahestehende Vereinigung Palästina-Solidarität steht. Dieses Vorgehen und die Begründung dazu können nicht unerwidert bleiben.

Wie viele andere Israelsympathisanten greift Stefan Keller zum Mittel, die Urheber der Aktion mit dem Antisemitismusvorwurf anzuschwärzen und ihnen auch sexistische Motive unterzuschieben. Damit soll von der Hauptaussage der Aktion abgelenkt werden, dass Israel seit vielen Jahrzehnten die Palästinenser systematisch in nahezu allen Lebensbereichen entrechtet. Bis auf den heutigen Tag bilden Israels völkerrechtswidrige Besatzungspolitik im Westjordanland (Siedlungsexpansion, Landbeschlagnahme, Mauerbau, politische und wirtschaftliche Unterdrückung etc.), die illegale Annexion Ostjerusalems sowie die Ghettoisierung des Gazastreifens das Haupthindernis für eine gerechte und dauerhafte Friedenslösung.

Zionisten und vielen jüdischen Einwanderern war immer gleichgültig, ob in Palästina eine alteingesessene Bevölkerung lebte. Seit jeher wird palästinensischer Widerstand gegen israelische Willkür als Terrorismus gebrandmarkt, während israelischer Staatsterror immer als das Recht auf Selbstverteidigung bezeichnet wird.

Israel hat es von Anfang an verstanden, den Mythos in die Welt zu setzen – dem auch ich einmal erlegen war –, wonach es ständiger Bedrohung ausgesetzt sei, umgeben von Feinden, die den jüdischen Staat vernichten wollen.

Wie die Reaktion von WOZ-Redaktor Stefan Keller zeigt, ist berechtigte Kritik der europäischen Zivilgesellschaft an dieser Politik Israels oft noch ein Tabu und wird nicht selten als antisemitisch diffamiert. Zahlreiche Juden äussern sich indessen ebenfalls kritisch zur israelischen Politik – und werden deshalb als Nestbeschmutzer und jüdische Selbsthasser angegriffen. So konnte der israelische Historiker Ilan Pappe den israelischen Opfermythos entlarven und beweisen, dass es Zionisten waren, welche die Palästinenser vertrieben. Für Avraham Burg, ehemaliger Sprecher der Knesset und heute einer der schärfsten Kritiker israelischer Politik, wird der Holocaust bewusst aus dem historischen Kontext gerissen und zur Triebkraft des Handelns gegenüber den neuen Nazis, eben den Arabern, gemacht. Und es ist die deutsche Jüdin Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland und heute Menschenrechtsaktivistin, die sich gegen die Instrumentalisierung des Antisemitismus als politische Waffe wehrt.

Es ist eine unsägliche Kluft, die sich auftut zwischen dem, was Israel zu sein vorgibt als weithin leuchtender Turm der Zivilisation, als selbsternannte «einzige Demokratie im Nahen Osten» mit der «moralischsten Armee der Welt», und der Barbarei, die ständig an den Palästinensern ausgelebt wird.

Der Zeitpunkt ist überfällig, dass die Europäische Union und die Schweiz den Druck auf das renitente Israel, das immer mehr in rechtsextremistisch-rassistisches Fahrwasser abdriftet, mit Sanktionen erhöhen, wie das seinerzeit beim südafrikanischen Apartheidregime der Fall war und wie das heute bei Russland der Fall ist. Denn Sühne und moralische Wiedergutmachung für die am europäischen Judentum begangenen Verbrechen während der Nazizeit können nicht ewig als Ausrede für eine unkritische Haltung herhalten, die die Politik des Staates Israel ohne Vorbehalte unterstützt; ebenso wenig wie die willfährige Übernahme von Israels Rechtfertigungen unter dem allgegenwärtigen und einseitigen Aspekt der Sicherheit.

Auf diese widersprüchlichen Aspekte wollte die Plakataktion aufmerksam machen. Mit Antisemitismus hat das nichts zu tun.
Kurt O. Wyss, ehemaliger Schweizer Botschafter, Bern

 

Übles Spiel

Nichts trifft weniger zu als der Antisemitismusvorwurf gegen Kritiker an der israelischen Politik, zu denen übrigens zahlreiche Juden zählen. Wir alle, die schon die Besatzungspolitik angegriffen oder uns zugunsten von Palästina geäussert haben, sind als Antisemiten beschimpft worden. Diesen Trick kennen wir doch, genau so wird «das schlechte Gewissen Europas» herbeizitiert, damit alle Völkerrechtsbrüche unter dem Deckel gehalten werden können. Warum spielt der Autor das üble Spiel mit?

Gerade wenn er über den Holocaust gearbeitet hat, muss er den Unterschied kennen. Mit dem Missbrauch dieses Begriffs wird echter Rassismus, also Antisemitismus, verharmlost. Es ist gewiss nicht antisemitisch, wenn die israelische Regierung in der offensichtlich erkennbaren Figur Netanjahus abgebildet ist. Was daran soll gegen eine Religion gerichtet sein? Seine Anklage ist absolut unbegreiflich, es sei denn, dass auch er verhindern will, dass die Verbrechen, denen die Zivilbevölkerung täglich ausgesetzt ist, bekannt werden. Das steht aber der WOZ nicht gut an.
Pia Holenstein, per E-Mail

 

Nicht antisemitisch

Wäre ich zu dieser Art Plakat gefragt worden, ich hätte Vorbehalte geäussert. Dieses jedoch als judenfeindlich (antisemitisch) zu bezeichnen, halte ich für nicht zutreffend. Gut wäre allerdings, sich zu merken, dass die Palästina-Solidarität von Frau Tobler nicht die Palästina-Solidarität Region Basel ist, welche die Zeitschrift «Palästina-Info» herausgibt.
Hanspeter Gysin, Basel

 

Schlechtes Gewissen

Ich bin geschockt über die Strafanzeige von Stefan Keller. Schwingt jetzt auch die WOZ die Antisemitismuskeule gegen Kritik an der rechtswidrigen Politik des Staates Israel? Ich empfehle die Lektüre eines unverdächtigen Zeitgenossen, des israelischen Historikers Moshe Zuckermann, der in seinem Buch «Antisemit! Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument» sowohl die westliche, von Schuldgefühl geleitete Toleranz gegenüber den Verbrechen des Staates Israel als auch die Instrumentalisierung der Schoa durch die israelische Regierung anprangert. Und er zitiert einen anderen Israeli, den Publizisten Gideon Levy, der in einem «Haaretz»-Kommentar schrieb: «Israel darf nicht den Verdacht erwecken, dass es die Erinnerung an den Holocaust auf eine zynische Art und Weise dazu verwendet, um eigene Untaten zu verschleiern oder gar aus der Erinnerung zu löschen. Leider tut es genau das.» Es ist das schlechte Gewissen, das die westliche Politik daran hindert, Israel wegen seiner eklatanten Völker- und Menschenrechtsverletzungen in Gaza und den besetzten Gebieten mit Sanktionen zu belegen, und das Israel erlaubt, Uno-Resolutionen und internationale Rechtsnormen ungestraft zu missachten.
Konrad Matter, Hinterkappelen

 

Linken Antisemitismus kanns nicht geben

Die Klage gegen das unsäglich rassistisch-sexistische Plakat zur israelischen Politik ergibt Sinn. Es entstand in der christlichen schweizerischen Mehrheitsgesellschaft mit ihrer antisemitischen und orientalistischen Tradition. Der WOZ-Titel «Linker Antisemitismus» liegt jedoch falsch. Programmatischen linken Antisemitismus kann es nicht geben. Jedoch Menschen, die sich zur Linken zählen und antisemitisch handeln. Genauso, wie es Menschen in der breiten Linken gibt, die einen antimuslimischen Hass ausagieren, der sich als Philosemitismus artikuliert. Beide Rassismen sind letztlich miteinander verbunden.
Guy Bollag, Zürich

 

Unnötig

«Ueli Maurer: Der Heimlifeisse», WOZ Nr. 45/2016

Aus eurem Text: «So richtig ernst wurde Maurer trotz steiler Politkarriere nie genommen. Zu gut lässt er sich karikieren mit seinem lächerlichen Haarkranz, den schwülstigen Lippen, den biederen Sakkos …»

Feedback: Während Sie im Wording des Titels (der Heimlifeisse) noch elegant-charmant agieren, rege ich mich wenig später auf. Was bezwecken Sie mit der Beschreibung «Zu gut lässt er sich karikieren mit seinem lächerlichen Haarkranz, den schwülstigen Lippen, den biederen Sakkos»?

Völlig unnötig, überheblich, sexistisch vielleicht sogar. Wir wünschen es uns nicht – aber einmal angenommen, Sie beschrieben Emilie Lieberherr.

«Zu gut lässt sie sich karikieren mit ihrer lächerlichen Frisur, den schwülstigen Lippen, den biederen Klamotten.» Geht nicht, ist genauso dumm. Das ist schade für den eigentlich gut geschriebenen Text.

Martin Baumann, per E-Mail