Türkisches Tagebuch: In Geiselhaft genommen

Nr. 1 –

Ece Temelkuran über den Anschlag in Istanbul

Silvesternacht, 1.15 Uhr: Mehr als die Hälfte der Nation hängt am Smartphone und scrollt sich durch die Twitter-Timeline. Überall Satzfetzen. «Natürlich würde es heute passieren», «All die Aufregung über den Weihnachtsmann», «Schuld ist die Religionsbehörde, die alle Neujahrsfeiern verteufelt hat», «Es musste ja passieren».

Nach einem kurzen Moment der Stille gibt man sich Mühe, den Nachrichtenfluss nicht weiter zu verfolgen. Nach den vielen Anschlägen will man wenigstens eine anständige Nacht verbringen. Doch es dauert nur wenige Minuten, bis alle wieder über ihren Handys hängen und sich gegenseitig Tweets zeigen, in denen der Anschlag auf das Istanbuler Tanzlokal Reina gefeiert wird. Dann wieder Stille. Um es zusammenzufassen: Wir wussten, dass es passieren würde. Doch wie hilflose Kinder hatten wir gehofft, es würde nicht passieren.

In den letzten Jahren hat sich eine seltsame Routine entwickelt, die jeweils nach Anschlägen einsetzt. Etwa eine halbe Stunde nachdem die ersten Meldungen eintreffen, fangen die ersten Witze an. Dann beginnt ein Wetteifern um den bittersten, den intelligentesten Witz über die Regierung, den Präsidenten oder dessen AnhängerInnen. Wir sind keine ZynikerInnen, die sich über den Tod lustig machen; nun, zumindest waren wir es nicht. Mittlerweile ist dies unsere Überlebensstrategie, so ermutigen wir einander weiterzumachen. Nach dem Anschlag in der Silvesternacht hat zum ersten Mal niemand Witze gemacht. Die letzte Waffe, die uns zur Selbstverteidigung noch blieb, ist zerbrochen. Viele, die zumindest verbal noch Widerstand leisteten, haben sich nun dem Umstand gefügt, dass die Türkei nicht mehr so ist, wie wir sie kennen, und – zumindest in absehbarer Zukunft – nicht mehr so sein wird.

Vor dem Anschlag war es sogar unter besten FreundInnen verpönt, übers Abhauen zu sprechen. Doch der entfesselte Hass in den sozialen Medien, der alle trifft, die den Angriff verurteilen, ist die allerletzte Bestätigung eines Satzes der verstorbenen Schriftstellerin Tezer Özlu. «Dies ist nicht unser Land. Es ist das Land derjenigen, die uns umbringen wollen», schrieb sie nach dem Militärputsch 1980. Die Tweets in der Silvesternacht handeln statt von Glückwünschen für das Jahr 2017 von Flucht.

1. Januar: Die Behörden ermitteln nicht gegen eine einzige Person, die den Anschlag gepriesen hat. Stattdessen führen sie AnwältInnen in Handschellen ab, die am Anschlagsort Blumen niederlegen. Ein junger Journalist, der in einem Café eine Rede zur Verteidigung des Laizismus hält, wird zur Gefahr für die nationale Sicherheit erklärt und in Gewahrsam genommen. Menschen, die den Anschlag verurteilen, werden von regierungstreuen Internettrollen mit dem Tod bedroht. In den sozialen Medien zirkulieren derweil Listen mit Namen säkularer Personen, die verhaftet werden sollen. «Die Türkei wird von Wahnsinnigen in Geiselhaft genommen», sagen die Leute.

2. Januar: Vizeministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmus kündigt an, gegen HassrednerInnen vorzugehen. Die sozialen Medien seien schliesslich keine Zirkusmanege. Man könnte nun meinen, damit seien diejenigen gemeint, die Silvesterfeiernde bedrohen. Doch es ist nicht schwer zu erraten, dass Kurtulmus gerade eine neue Verhaftungswelle im säkularen Teil der Gesellschaft ankündigt.

Die Angst lässt den progressiven TürkInnen zwei Optionen. Auch wenn es viele nicht laut sagen würden: Entweder leistet man Widerstand, der mit Sicherheit sehr blutig wird, oder man flieht. Mir scheint, viele neigen zur zweiten Option. Denn eine organisierte politische Alternative kann es im gegenwärtigen System nicht geben. In den führenden westlichen Zeitungen werden derweil Klagelieder auf den bevorstehenden Kollaps der Türkei angestimmt. Es ist nicht einfach, die Lebenswirklichkeit meiner Landsleute zu verdauen. Und jetzt gibt es nicht einmal mehr Witze, die den Schmerz zumindest erträglicher machen würden.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.