Schüsse in der Moschee: «Ich blickte hoch und sah in den Lauf einer Pistole»

Nr. 3 –

Im Zusammenhang mit den Schüssen in einer Zürcher Moschee vor Weihnachten sprechen die Behörden von «keinerlei terroristischem, jedoch einem allenfalls okkultistischen Tatmotiv». Als stünden Okkultismus und Terrorismus in einem Widerspruch. Zeugen des Schreckensabends berichten.

Donald Trump war auf Twitter schnell zur Stelle: «Heute gab es Anschläge in der Türkei, in der Schweiz und in Deutschland, und es wird immer schlimmer. Die zivilisierte Welt muss ihr Denken ändern!» In Zürich hatte am Abend des 19. Dezember ein 24-jähriger Mann in einer Moschee im Kreis 4 drei Menschen niedergeschossen und schwer verletzt. Einige Stunden später fand man seine Leiche ein paar Hundert Meter vom Tatort am Ufer der Sihl. Er hatte die Pistole gegen sich selbst gerichtet.

Der besetzte Parkplatz

Was also war eigentlich genau geschehen an jenem Abend im Kreis 4? Der 21-jährige Fadi * hatte bis 17.15 Uhr in der Nähe der Moschee als Postbote gearbeitet. Der Schweizer mit syrischem Vater kennt die Moschee aus seiner Kindheit, als sie noch syrisch geprägt war, bevor sie dann vor einigen Jahren von einem somalischen Verein übernommen wurde. «Ich dachte, ich könnte hier nach Feierabend mal wieder mein Gebet verrichten», sagt er.

Fadi fuhr mit seinem Wagen zum islamischen Zentrum. Direkt davor befinden sich vier Parkplätze, weisse Zone. «Einer war noch frei», sagt er. «Ich wollte gerade den Blinker stellen, da schnappte mir eine junge Frau den Platz weg.» Er fluchte leise und fuhr dann im Schritttempo an den drei weiteren Parkplätzen und der Moschee vorbei. «Als ich am Eingang der Moschee vorbeirollte, stand dort ein Mann. Er war komplett schwarz gekleidet und trug eine Kapuze. Kurz öffnete er die Tür zur Moschee, warf einen Blick hinein und schloss sie schnell wieder. Dann hantierte er mit irgendwas. Ich dachte mir nichts dabei», erinnert sich Fadi.

Als er in den Rückspiegel schaute, war der Mann verschwunden. Fadi parkierte seinen Wagen ein paar Meter weiter im Halteverbot – er dachte, das Gebet dauere sowieso nur ein paar Minuten. Als er ausstieg, traf ihn der verstörte Blick der jungen Frau, die ihm den Parkplatz weggeschnappt hatte. «Ich dachte: Was ist denn mit der los?» Erst später realisierte er: Die Frau hatte soeben die Schüsse gehört.

Fadi ging zur Moschee und wollte eintreten. «Da kam mir die Tür regelrecht entgegengeflogen. Der Kapuzenmann stürzte mit unglaublicher Aggressivität auf mich zu. Mit einem harten Gegenstand schlug er mir mit voller Wucht gegen die Brust, sodass es mir den Atem verschlug und ich nach hinten taumelte. Ich fluchte und blickte ihm verstört nach, wie er die Gasse hochrannte, die Strasse überquerte und im dunklen Hof der Polizeikaserne verschwand.» Fadi öffnete die Tür zur Moschee und hörte Schreie. Sofort schloss er die Tür wieder und blickte verwirrt die junge Frau an. Jetzt verstand sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte: «Ich habe drei Schüsse gehört», sagte sie. Fadi riss die Tür wieder auf und stürzte in den Raum.

«Die Kugel durchschlug mein Knie»

«Ich sass auf dem Boden mit dem Gesicht zur Tür», sagt der 35-jährige Imam Mustafa Ali Khalif. Der Mann, der vor zwölf Jahren in die Schweiz geflüchtet war, nachdem er im somalischen Bürgerkrieg seine Frau und seinen Vater verloren hatte, war wie immer um 4.30 Uhr aufgestanden und zum Flughafen gefahren, wo er in der technischen Abteilung arbeitet. Nach dem Feierabend traf er sich gegen 15.30 Uhr mit einem Freund zum Kaffee in der Moschee.

Jetzt, nach dem Gebet um 17 Uhr, war die Moschee praktisch leer. Kurz zuvor hatten sich noch über zwanzig Gläubige im Zentrum aufgehalten. «Wir sassen zu dritt in einer Reihe», sagt Khalif. «Ich tippte auf meinem Handy herum, als ich die Füsse eines Mannes sah, der mit Schuhen den Raum betrat. Ich sagte: ‹Bitte keine Schuhe hier drin.› Ich blickte hoch und sah in den Lauf einer Pistole. Im Affekt liess ich mich nach hinten fallen. Darum traf der Mann meinen Kopf nicht. Die Kugel streifte mein rechtes Knie, durchschlug das linke und blieb im Bein stecken. Ich blieb wie in Schockstarre liegen. Die zweite Kugel traf den Mann neben mir in den Bauch, die nächste traf den Mann ganz links in den Rücken und zertrümmerte seine Wirbelsäule. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei.»

Als Fadi und die junge Frau in den Raum kamen, sahen sie zuerst das ganze Blut gar nicht, weil der Teppich der Moschee rot ist. «Zwei Männer lagen regungslos da, einer von ihnen blutete stark aus dem Mund. Der Imam war der Einzige, der bei Bewusstsein war. Er schrie laut um Hilfe», sagt Fadi. Er rannte nach draussen und rief die Polizei. Obwohl die Moschee direkt neben der Polizeikaserne liegt, dauerte es knapp zehn Minuten, bis die erste Streife eintraf. «Die Polizisten berieten sich in sicherer Entfernung, dann endlich betrat der erste Polizist die Moschee», sagt Fadi. Es dauerte noch einmal ein paar Minuten, bis die erste Ambulanz eintraf.

«Die Polizisten fuhren mich mit Blaulicht zur direkt nebenan gelegenen Wache», sagt Fadi. «Kaum war ich dort, um meine Aussage abzugeben, rief die Hundeführerin an. Da der Täter mich berührt habe, bräuchten sie mich vor Ort, damit der Hund die Fährte aufnehmen könne. Also fuhren sie mich wieder mit Blaulicht zurück zur Moschee. Dort verging eine ganze Stunde, bis endlich ein Schäferhund kam, mich beschnupperte und dann tatsächlich eine Spur zu verfolgen begann», sagt der 21-Jährige. «Diese Polizisten sind schon ein spezielles Volk. Die Forensiker nahmen Proben, und einige Kommissare stritten sich vor Ort gut gelaunt darüber, wer den geilen Fall übernehmen dürfe. Ein Care-Team für die Betroffenen hingegen sah ich nirgends. Als ich zurück zum Posten gefahren wurde, fragte mich der zuständige Polizist zu Beginn der Einvernahme: ‹Und, wer war der Täter? Ein Neger?› Ich dachte: Wovon zur Hölle redet dieser Typ?»

Als in der folgenden Nacht der Schock nachgelassen habe, habe ihn der Schrecken gepackt: «Was, wenn mir die Frau nicht den Parkplatz weggeschnappt hätte? Hätte ich dann zeitgleich oder noch vor dem Schützen die Moschee betreten? Hätte er dann auch auf mich geschossen?» Er habe einige Nächte nicht geschlafen, sei stundenlang durch die Wälder am Stadtrand gerannt – «das hat ein wenig geholfen». Die Moschee wolle er vorerst nicht mehr besuchen, sagt Fadi.

Als sei er mitverantwortlich

Mustafa Ali Khalif, der seit dem Vorfall in einer Rehabilitationsklinik versucht, seine Knie wieder zu bewegen, scheint sich immer unterschwellig zu entschuldigen, wenn er über den Tag spricht, an dem er niedergeschossen wurde: «Seit ich in die Schweiz kam, habe ich immer gearbeitet, hatte immer feste Stellen. Zuerst am Bahnhof in der Reinigung, später am Flughafen. Ich hatte bis zu jenem Tag nie mit der Polizei zu tun und bin nie jemandem zur Last gefallen.» Seit er in der Schweiz sei, wolle er, geprägt vom Bürgerkrieg in der Heimat, bloss arbeiten, beten, nicht auffallen. Er redet so, als befürchte er fast ein wenig, die Ereignisse jenes Tages könnten sich negativ auf sein Einbürgerungsgesuch auswirken – als sei er nicht ein unschuldiges Opfer, sondern irgendwie mitverantwortlich für den Horror jenes Tages.

In seine Stimme mischt sich Unsicherheit: «Ich war irritiert darüber, dass in mehreren Zeitungen von einer Schiesserei die Rede war», sagt er. «Und kaum war klar, dass es nicht der vermutete islamistische Terror war, verschwand die Sache aus den Zeitungen. Als seien wir weniger wert.» Und während in denselben Stunden die Medien jedes Detail über den Weihnachtsmarktattentäter von Berlin präsentiert hätten, sei über den Zürcher Schützen praktisch nichts bekannt.

«Wir sind sehr verunsichert, denn wir wissen nichts», sagt Khalif. «Die Ermittlungsbehörden schweigen. Wir wissen nicht, ob der Mann schwere psychische Probleme hatte und quasi unzurechnungsfähig war oder ob er an jenem Tag gezielt losgezogen ist, um Muslime zu töten.»

Wo beginnt Terror?

Weltweit beteten und äusserten sich Menschen nach dem Angriff zu Hunderttausenden in sozialen Medien unter dem Hashtag #Zuerich, bis … Nun, bis tags darauf Christiane Lentjes Meili, Chefin der Zürcher Kriminalpolizei, an einer Pressekonferenz sagte, dass die Schüsse in der Moschee «keinen terroristischen Bezug haben – auch gibt es keine Verbindung zum Islamischen Staat». Der Täter, ein 24-jähriger Schweizer, habe bereits tags zuvor in Zürich Schwamendingen einen Freund erstochen. Warum er die Moschee als Tatort ausgewählt habe, sei nicht ersichtlich. Dies obwohl der Täter eine Marienstatue auf seinem Balkon postiert hatte und in der Nachbarschaft, so berichtete der «Tages-Anzeiger», aus dem Neuen Testament zitierte. Es war völlig klar: Hätte es sich um einen Angriff auf eine Kirche gehandelt und ein Mann hätte davor wild aus dem Koran zitiert – die Polizei wäre nicht so einfach davongekommen mit ihren Schlüssen. Doch hier verhielt es sich anders: Der Täter war ein Schweizer Christ oder Okkultist, die Opfer waren drei Somalier. Dass der Vater des Täters aus Ghana stammte, würde, so die Meinung vieler, ein fremdenfeindliches Motiv ausschliessen – als sei Fremdenfeindlichkeit nur Schweizer Ariern gegeben. Die Angelegenheit verschwand so schnell aus den Schlagzeilen, wie sie aufgetaucht war.

Also doch ein Terrorakt?

Was aber war denn nun das Motiv des Täters? Woher hatte er seine Pistole? Warum besass er einen Waffenschein? Warum tötete er tags zuvor einen angeblichen Freund? Und warum machte er sich dann auf, um bewaffnet in eine kleine, unscheinbare Moschee zu marschieren?

Corinne Bouvard, Sprecherin der Staatsanwaltschaft, sagt heute, was bereits die Chefin der Kriminalpolizei am Tag nach den Schüssen sagte: «Die genauen Hintergründe und das Motiv des Täters sind noch Gegenstand der Ermittlungen und können derzeit nicht abschliessend beurteilt werden. Anlässlich der Hausdurchsuchung haben sich keinerlei Hinweise auf einen terroristischen, jedoch Anzeichen auf einen allfällig okkultistischen Hintergrund der Tat ergeben.»

Okkultistisch – das klingt nebulös. Warum soll nun aber ausgerechnet ein okkultistischer, also ein letztlich religiöser Hintergrund ein terroristisches Motiv automatisch ausschliessen? Sind doch religiöse Motive heute die häufigsten Rechtfertigungen für terroristische Attacken, die Gesellschaften in ihren Grundfesten erschüttern sollen, wie etwa am selben Abend in Berlin. Okkultistische Ideen liefern derzeit vor allem in den USA die ideologische Grundlage rassistischer religiöser Sekten und RechtsterroristInnen, die sich als «Frontlinie des rassistischen Heidentums» verstehen und sich auf einen Okkultismus und Wotan-Kult beziehen, dessen Wurzeln in der germanischen Mythologie und der deutschen völkischen Bewegung liegen. So etwas sei hier aber nicht der Fall, sagt Corinne Bouvard, während sie nicht näher auf Details eingeht. «Wenn wir sagten, es handle sich bei der Tat nicht um Terrorismus, dann wollten wir vor allem klarstellen, dass die Tat in keinem Zusammenhang steht mit Attacken des Islamischen Staats.»

Was dann? War die Tat also doch ein Terrorakt, einfach mit einem anderen, vielleicht fremdenfeindlichen oder islamophoben Motiv? Das wollte die Sprecherin nicht kommentieren. Auch nicht, ob der Mann womöglich in einem Wahn gehandelt habe.

Das Islamische Zentrum an der Eisgasse in Zürich: Am Abend des 19. Dezember schoss dort ein 24-jähriger Mann auf drei Menschen und verletzte sie schwer. Foto: Florian Bachmann

* Name geändert.