Gefängnisunruhen in Brasilien: Revolte hinter Gittern

Nr. 4 –

Die Massaker in brasilianischen Haftanstalten erinnern an Mexiko. Die Geschichte der VerbrecherInnensyndikate aber ist eine andere: Sie entstanden als Selbstverteidigungsgruppen gegen unmenschliche Zustände in den Gefängnissen.

Das Jahr begann mit einem Aufstand. Im Gefängnis Compaj in Manaus, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaats Amazonas, erhoben sich die Häftlinge des VerbrecherInnensyndikats Família do Norte gegen ihre Mitgefangenen vom Primeiro Comando da Capital (PCC), einem in São Paulo beheimateten und landesweit operierenden kriminellen Kartell. Nach siebzehn Stunden Meuterei waren 56 Mitglieder dieses «Ersten Hauptstadtkommandos» tot. Schon wenige Stunden später feierte ein anonymer Rapper im Internet den Sieg mit einem Song: «Mit den Häftlingen ohne Kopf ist das Gefängnis unser.»

Das Massaker von Manaus war der Beginn einer Serie grausamer Häftlingsrevolten: Am 6. Januar schlug der PCC im Gefängnis von Roraima, ebenfalls im Amazonasbecken, zurück. Nachdem 31 Häftlinge ermordet worden waren, schrieben die Täter mit deren Blut auf eine Wand: «Blut wird mit Blut vergolten.» Es folgten weitere Meutereien mit mehreren Toten, bis dann am 14. Januar im Gefängnis Alcaçuz im Bundesstaat Rio Grande do Norte ein Krieg ausbrach, der noch einmal über 30 Tote zur Folge hatte. Insgesamt sind es bislang mindestens 130.

Einheitsfront der Gefangenen

Die Grausamkeit der Kämpfe und die begleitende gewaltverherrlichende Folklore erinnern an den Drogenkrieg in Mexiko. Tatsächlich aber haben die brasilianischen VerbrecherInnensyndikate eine ganz andere Geschichte: Sie waren als Selbstverteidigungsgruppen in den chronisch überbelegten Gefängnissen entstanden, in denen Häftlinge sich bis aufs Messer um einen Teller Suppe oder einen Platz unter der Dusche stritten und von Aufsehern gequält wurden.

Angefangen hat diese Geschichte im Gefängnis Ilha Grande auf der gleichnamigen Insel vor der Küste von Rio de Janeiro. Es war eine der furchtbarsten Haftanstalten Brasiliens, regelmässig grassierten Cholera und Typhus. Die Justiz liess dort von 1886 bis 1993 Schwerverbrecher verschmachten. In den Jahren der Militärdiktatur (1964–1986) kamen politische Gefangene dazu. Aus diesem Zusammenleben von Kriminellen und Linken entstand Ende der siebziger Jahre der Comando Vermelho (CV), das Rote Kommando. Die politischen Gefangenen hatten ihre Mithäftlinge davon überzeugt, dass es sinnlos sei, sich in Kleingruppen gegenseitig zu bekämpfen; dass es vielmehr darum gehe, einen solidarischen Block gegen die Unterdrücker zu formen. Der CV gab sich ein Statut (wichtigste Norm: «Respekt vor den Genossen») und einen eigenen Wahlspruch: «Friede, Gerechtigkeit und Freiheit».

Etlichen Köpfen des Kommandos ist die Flucht aus dem Ilha Grande gelungen. Und weil die politischen Gefangenen ihnen nicht nur Ideologie, sondern auch Wissen um klandestine Aktionen vermittelt hatten, prägte das die ersten Jahre: Es gab Banküberfälle und Entführungen reicher UnternehmerInnen – Methoden, mit denen auch die lateinamerikanischen Guerillas jener Jahre ihren bewaffneten Kampf gegen die Militärdiktaturen finanzierten. Drogenhandel spielte zunächst keine Rolle.

In den vom CV beherrschten Favelas, die zuvor von Kriegen krimineller Banden unsicher gemacht worden waren, wurde ein strenges Regime mit eigener Gerichtsbarkeit eingeführt. Spitzel der Polizei wurden erschossen, DiebInnen wurde auch mal die Hand abgeschlagen. Der CV hat eine Sozialkasse zur Unterstützung der Familien von Inhaftierten, bezahlt AnwältInnen, richtet Feste für die Bevölkerung aus. Als in den neunziger Jahren der Drogenhandel hauptsächliches Geschäftsfeld wurde, schuf das Arbeitsplätze für die Jugend. Die Gewalt des CV trifft in erster Linie die Polizei – und andere Banden, die dem Syndikat das Geschäft streitig machen.

Kriegsgerät für die Farc

Die linken Kontakte des Roten Kommandos sind nie ganz verschwunden. So pflegte der legendäre CV-Boss Fernandinho Beira-Mar gute Beziehungen zu Kolumbiens linker Guerilla Farc, der er Kriegsgerät der Armee verkaufte, das er sich über korrupte Kanäle besorgt hatte. Bezahlen liess er sich mit Kokain. Als ihm der Boden in Rio zu heiss wurde, versteckte er sich im Farc-Gebiet und wurde dort 2001 bei einer gemeinsamen Aktion der US-amerikanischen Antidrogenbehörde DEA und der kolumbianischen Armee geschnappt und nach Brasilien ausgeliefert.

Heute gehen ErmittlerInnen davon aus, dass der Comando Vermelho über 5000 Bewaffnete verfügt, die mit Sturmgewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten ausgerüstet und in 12 der 27 Bundesstaaten aktiv sind. Neben Rio konzentriert sich das Syndikat vor allem auf die Grenzen zu den Kokain produzierenden Ländern Bolivien, Peru und Kolumbien und zu Paraguay, wo auf grossen Plantagen Marihuana wächst. Im Amazonasbecken ist der CV eine Allianz mit den örtlichen VerbrecherInnen der Família do Norte eingegangen. Diese begannen am 1. Januar im Gefängnis von Manaus den Krieg gegen den PCC.

Vom Gefängnis auf die Strasse

Dieses Erste Hauptstadtkommando gilt als das grösste VerbrecherInnensyndikat Brasiliens und hat eine ähnliche Entstehungsgeschichte wie der CV. Am Anfang stand ein Massaker, das die Polizei 1992 im Gefängnis Carandiru in São Paulo angerichtet hatte. 111 Gefangene wurden dabei ermordet. Die Überlebenden bildeten Selbstverteidigungsgruppen, vernetzten sich mit ähnlichen Organisationen in anderen Haftanstalten und traten nach einer koordinierten Meuterei, an der in neunzehn Gefängnissen 25 000 Häftlinge beteiligt waren, am 18. Februar 2001 als Primeiro Comando da Capital an die Öffentlichkeit.

Der PCC betreibt zwar auch eine Sozialkasse für die Familien inhaftierter Mitglieder, pflegte aber sonst keinerlei Romantik der Subversion, sondern ging kühl und geschäftsmässig daran, den brasilianischen Drogenmarkt zu erobern. Die wichtigsten Routen von den Kokain produzierenden Ländern Peru und Kolumbien zu den Märkten in Europa führen durch das Amazonasbecken. Der PCC musste bei seiner Expansion irgendwann gewaltsam mit den CV-Verbündeten von der Família do Norte zusammenstossen. Und weil die Bosse der Banden längst geschnappt worden sind und aus der Haft ihre Geschäfte führen, hat der Krieg im Gefängnis angefangen.

Man hätte es wissen können, aber niemand war vorbereitet. Übergangspräsident Michel Temer tat das Massaker von Manaus noch als «bedauernswerten Unfall» ab. Inzwischen will er die Gefängnisse mithilfe des Militärs unter Kontrolle bekommen. Tatsächlich rückten am Wochenende nach sieben Tagen Aufstand Soldaten ins Gefängnis Alcaçuz ein, mit gepanzerten Fahrzeugen, Sturmgewehren und Blendgranaten. Ihre Mission: eine Mauer zu bauen, die dann die verfeindeten Syndikate trennen soll. Das wird – wenn es denn erfolgreich sein sollte – die Schlacht auf die Strassen verlagern. Der anonyme Rapper im Internet hat es in einer Zeile seines Songs bereits angekündigt: «Vergesst nicht: Der Krieg hat gerade erst begonnen.»