IG Fair-wahrt?: Alltägliche Details, die wehtun

Nr. 7 –

Die IG Fair-wahrt? ist eine Selbsthilfegruppe für Verwahrte. Ein Förderverein unterstützt die IG von ausserhalb des Gefängnisses. Ständig vom Bannstrahl der Boulevardmedien bedroht, versucht der Verein, den Alltag der Verwahrten menschlicher zu machen.

Letzte Woche in Zürich: Zehn Menschen treffen sich zur Hauptversammlung des Fördervereins IG Fair-wahrt?. Die Veranstaltung hat etwas Anrüchiges, weil der Verein mit jemandem zusammenarbeitet, den die Medien als «bekanntester Pädophiler der Schweiz» titulieren. Die JournalistInnen nennen ihn gerne beim vollen Namen, was nicht rechtens ist. Geben wir ihm also ein Pseudonym und nennen ihn Benno Müller.

Müller ist seit über zwanzig Jahren in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies verwahrt. Am selben Tag, an dem die Hauptversammlung des Fördervereins stattfindet, steht er vor Gericht. Das Zürcher Obergericht verurteilt ihn wegen Besitz von illegalen pornografischen Bildern (vgl. «Noch nicht rechtskräftig» im Anschluss an diesen Text). Damit könnte die Geschichte hier zu Ende sein, denn niemand will Sexualdelikte mit Kindern schönreden.

Warum kein Hagebuttenpulver?

Doch es ist komplizierter. Vor einigen Jahren gründete Benno Müller die Interessengemeinschaft Fair-wahrt?, eine Selbsthilfeorganisation von Verwahrten für Verwahrte. Nun konnte Müller selber kein Konto für seine IG einrichten und hatte auch mit der Korrespondenz gegen aussen Probleme. Um die Arbeit der IG extern zu unterstützen, wurde deshalb vor fünf Jahren der Förderverein IG Fair-wahrt? gegründet.

Präsidentin des Vereins ist Laure Landwehr. Die gebürtige Französin macht unbeirrt, was sie für richtig hält. Vor über zehn Jahren arbeitete sie im Verein «Verdingkinder suchen ihre Spur» mit, einer Selbsthilfeorganisation ehemaliger Verding- und Heimkinder. Dabei lernte sie Benno Müller kennen, auch er ein ehemaliges Heimkind. Müller sass schon im Gefängnis, war aber bereit, von dort aus bei administrativen Arbeiten mitzuhelfen. Das erfuhr der «Blick» . Das Boulevardblatt titelte: «Ausgerechnet der schlimmste Bubenschänder der Schweiz kümmert sich um Verdingkinder. Als Verwahrter vom Knast aus!»

Die Aufregung war perfekt. Der «Blick» drosch gnadenlos auf Müller ein, dabei ging unter, dass die «Verdingkinder» zu jenem Zeitpunkt bereits fünfzig- bis siebzigjährige, gestandene Erwachsene waren. Der Verein litt unter den Attacken des «Blicks» und wurde später aufgelöst.

Als Müller dann Laure Landwehr vor fünf Jahren um Unterstützung bat, war sie bereit, das Präsidium des Fördervereins IG Fair-wahrt? zu übernehmen: «Weil ich nicht mit Pädophilie in Verbindung gebracht werden kann», sagt sie gegenüber der WOZ. Und was, wenn die neuen Vorwürfe gegen Müller zutreffen und er wirklich kinderpornografische Bilder aus dem Internet heruntergeladen hat? Landwehrs Antwort: «Ich glaube ihm, wenn er sagt, die Bilder seien nicht von ihm und er habe sie nie gesehen.»

Und wenn doch? «Dann wäre ich zwar sehr enttäuscht, aber letztlich geht es beim Förderverein nicht um seine Delikte, sondern um grundsätzliche Fragen: Wie läuft das mit der Verwahrung? Mit der Verlängerung der Verwahrung und den psychiatrischen Gutachten? Oder wie sieht der Alltag der Verwahrten aus?»

Oft seien es Details, «die wehtun», sagt sie und bringt konkrete Beispiele: Man darf den Verwahrten viermal pro Jahr zwei Stangen Zigaretten bringen, man darf ihnen aber keine Nahrungsergänzungsmittel mitbringen – zum Beispiel kein Hagebuttenpulver gegen Arthrose oder auch keine Kohletabletten gegen Verdauungsbeschwerden. Ein Verwahrter habe immer Sinalco gewünscht, weil es im Gefängniskiosk keins gebe. «Früher konnte man einige Flaschen mitbringen, das geht nun aber plötzlich nicht mehr.» Warum, weiss Landwehr nicht.

Das Geld von Uriella

Die ersten drei Hauptversammlungen des Fördervereins fanden noch in der Pöschwies statt. Damals bestand der Verein faktisch aus drei Leuten. Mit zehn Personen geht das nicht mehr.

Am Abend in Zürich führt Landwehr locker durch die Hauptversammlung. Sie berichtet, dass die bekannte Sektenführerin Uriella immer noch spende. Via «Blick» hatte Uriella im Sommer 2015 verbreiten lassen, Jesus Christus habe ihr mitgeteilt, dass Benno Müller nicht in die Pöschwies gehöre. Icordo, Uriellas Gatte, wollte im letzten Frühjahr unbedingt in den Vorstand des Fördervereins. Doch schon vor der ersten Vorstandssitzung stieg er wieder aus. Bis heute rätselt Laure Landwehr, was für eine seltsame Aktion das war. Immerhin hat der Förderverein jetzt ein bisschen Geld auf dem Konto.

Dann läutet ein Handy. Ein älterer Herr in der Versammlung, der sich vorher als ehemaliger Verwahrter vorgestellt hat, nimmt ab, sagt, Benno sei dran. Der Mann schaltet auf Lautsprecher.

Müller grüsst in die Runde, sagt, es sei schade, dass er nicht selber dabei sein könne. Er klagt, die Medien hätten verzerrt über den heutigen Prozess berichtet. Er und sein Anwalt hätten eigentlich mit einem Freispruch gerechnet. Man hört ihm die Enttäuschung an. Dann fragt er noch, ob die Hauptversammlung reibungslos laufe, ob sie Fragen hätten. Laure Landwehr verneint, sagt, es seien mehr Leute hier als je zuvor. Man tauscht Grüsse aus, und Müller ist wieder weg.

Verstoss gegen die Menschenrechte

Landwehr fährt fort: Der Verein habe zurzeit zwanzig «betroffene Mitglieder», also Verwahrte – wobei man von vier Leuten keine aktuelle Adresse habe. Zudem habe der Verein zwanzig Passiv-, zehn Aktivmitglieder und ein Ehrenmitglied, die Basler Rechtsprofessorin Grischa Merkel, die aber nicht anwesend ist.

Jemand liest die Inputs von Benno Müller vor, die er zuvor dem Vorstand schriftlich zukommen liess. Ein Punkt betrifft die psychiatrischen Gutachten, die oft darüber entscheiden, ob jemand freikommt oder nicht. Da fordert Müller im Namen der IG: «Gespräche mit Gerichtsgutachtern und mit Therapeuten müssten zwingend aufgezeichnet werden! Sonst ist der Verwahrte allfälliger Willkür schutzlos ausgeliefert. Bei Begutachtungsgesprächen müsste ein Verteidiger zugelassen werden.» Das ist eine Forderung, die auch die Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer stellt (siehe WOZ Nr. 1/2017 ).

In einem weiteren Punkt regt Benno Müller an, der Verein solle einen Not- oder Überbrückungsfonds einrichten, da viele Verwahrte keinen Anwalt hätten und sich auch keinen leisten könnten. Der Anwalt, der an der Hauptversammlung dabei ist, rechnet kurz vor, dass der Armentarif von RechtsanwältInnen 200 Franken pro Stunde betrage. Mit Anreise ins Gefängnis und Aktenstudium seien schnell 1000 Franken ausgegeben. So wäre das kleine Vermögen des Vereins rasch verbraucht, warnt er. Mit dem von Müller vorgeschlagenen Fonds könnten ausserdem Erwartungen geweckt werden, die den Verein überfordern würden. Aber auch dieser Anwalt ist der Meinung, es brauche im Gefängnis eine Rechtsberatung. Er erklärt sich bereit abzuklären, ob noch andere Organisationen ein derartiges Projekt mittragen würden (vgl. «Beratung im Gefängnis»).

Die WOZ wollte nach der Hauptversammlung noch von Strafrechtsprofessorin Grischa Merkel wissen, warum sie im Verein dabei ist. Ihre Antwort: «Die strafgleiche Verwahrung von Menschen, die ihre Freiheitsstrafe verbüsst haben, ist ein Menschenrechtsverstoss und widerspricht den Grundsätzen eines freiheitlichen Rechtsstaats wie der Schweiz.» Der Verein IG Fair-wahrt? habe es sich zum Ziel gesetzt, auf diesen Missstand aufmerksam zu machen und faire, menschenwürdige Bedingungen für Verwahrte zu erreichen. «Als Strafrechtlerin und Rechtsphilosophin kann ich eigentlich nicht anders, als mich mit diesem Ziel zu identifizieren.»

Noch nicht rechtskräftig

Benno Müller (Name geändert) wurde 1993 verhaftet, weil er seine beiden Stiefsöhne sexuell missbraucht haben soll. Er wurde zu einer Strafe von viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Allerdings bestreitet er die Tat bis heute. Deshalb gilt er als untherapierbar und ist nun seit 24 Jahren verwahrt.

Im Sommer 2012 fand man im Computer, den er benutzte, eine Speicherkarte mit Mangas, die verbotene Kinderpornografie darstellen. Er bestreitet sowohl, diese Bilder vom Netz heruntergeladen, als auch, sie jemals gesehen zu haben. Rein technisch wäre es möglich, dass eine andere Person die Mangas auf die Speicherkarte lud, da der Computer nicht ständig in seinem Besitz war. Der Oberrichter glaubte diese Version jedoch nicht und bestätigte das erstinstanzliche Urteil, das Müller zu einer unbedingten Geldstrafe von 75 Tagessätzen à zehn Franken verurteilt hatte.

Müller und sein Anwalt überlegen sich, das Urteil ans Bundesgericht weiterzuziehen. Vorläufig ist das Urteil des Obergerichts noch nicht rechtskräftig, und es gilt weiterhin die Unschuldsvermutung.

Beratung im Gefängnis

Anfang Februar hat die Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch bekannt gegeben, dass sie eine «Beratungsstelle für Menschen im Freiheitsentzug» aufbauen will. Mittellose Personen bekämen heute während des Strafverfahrens unentgeltlichen Rechtsbeistand. «Sobald das Strafverfahren aber beendet ist und ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, ist die Person in der Regel auf sich alleine gestellt», schreibt Humanrights.ch. Dies sei problematisch, weil der Freiheitsentzug den härtesten Eingriff des Staats in die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen überhaupt darstelle.

Um den Eingesperrten Zugang zu einer Rechtsberatung zu ermöglichen, startet der Verein nun ein dreijähriges Pilotprojekt. Vorläufig beschränkt sich die Beratung auf Gefängnisse im Kanton Bern. Doch falls sich Leute aus andern Kantonen melden würden, «werden wir sie nicht im Regen stehen lassen», versichert David Mühlemann von Humanrights.ch gegenüber der WOZ.

Nachtrag vom 19. Oktober 2017 : Beratung für Strafgefangene

Im vergangenen Frühling hat die Menschenrechtsorganisation humanrights.ch das Pilotprojekt «Beratungsstelle für Menschen in Freiheitsentzug» gestartet. Während zweier Tage pro Woche können sich Inhaftierte und deren Angehörige bei einer Telefonhotline melden. In einem Newsletter hat die Organisation nun Bilanz über die ersten sieben Monate gezogen.

Das Angebot wurde rege genutzt, insgesamt gingen rund siebzig Anfragen ein. Es sind ganz unterschiedliche Probleme, die die Häftlinge beschäftigen. Zum Teil sind es sehr praktische Fragen wie zum Beispiel: Hat jemand in Haft Anspruch auf Arbeit? Muss man akzeptieren, dass Besuch nur mit Trennglas erlaubt wird? Was kann man tun, wenn ein Urlaubsgesuch nicht bewilligt wird?

Die Beratungsstelle ist eine Reaktion auf die Tatsache, dass verurteilte Strafgefangene keineN PflichtverteidigerIn mehr haben, sobald ihr Verfahren abgeschlossen ist. Weil sie kein Geld haben, können sie sich danach keinen juristischen Beistand mehr leisten. Diese Lücke will das Projekt schliessen.

Überraschenderweise wird die Hotline nun aber auch oft von Personen kontaktiert, die in Untersuchungshaft sitzen: «Sie berichten von restriktiven Haftbedingungen und Orientierungslosigkeit», schreibt die Beratungsstelle. Oftmals hätten die Gefangenen kein Vertrauen in ihre PflichtverteidigerInnen, da es in den meisten Kantonen die Staatsanwaltschaft sei, die sie einsetze: «Hier besteht ein offensichtlicher Interessenkonflikt, da sich die anklagende Behörde ihren Gegenspieler gleich selbst aussuchen kann.» Hartnäckige AnwältInnen sind in der Regel nicht beliebt und bekommen deshalb von der Staatsanwaltschaft selten Aufträge zur Pflichtverteidigung. Die Angeschuldigten hätten aber während des Verfahrens kaum die Möglichkeit, die Pflichtverteidigung zu wechseln, konstatiert die Beratungsstelle.

Das Pilotprojekt beschränkt sich zurzeit auf den Kanton Bern und ist auf drei Jahre angelegt. Unterstützt wird es von den Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz sowie der Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter. Die Beratungsstelle hilft den Ratsuchenden, steht ihnen juristisch so weit wie möglich bei, und die MitarbeiterInnen machen auch hin und wieder Gefängnisbesuche.

Allerdings ist die Finanzierung für die kommenden zwei Jahre noch nicht gesichert, das Fundraising sei schwierig, stellt die Beratungsstelle fest.

Susan Boos

Hotline: 031 301 92 75, dienstags und mittwochs von 9 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr.