LeserInnenbriefe

Nr. 8 –

Genial auf allen Seiten

Kultur/Wissen, WOZ Nr. 4/2017

Was für eine Wohltat, dieses Feuilleton! (Ich weiss, dass ihr diese Bezeichnung veraltet findet, aber Kultur/Wissen ist nun mal kein Name.) Zu einer Zeit, in der das NZZ-Feuilleton von einem eigens dafür angestellten Redaktor mittels SVP-Kampfbegriffen ruiniert wird, indem er etwa gegen das «politische Establishment» (?), gegen «Intellektuelle» (= alle, die «unterscheiden» von «ausscheiden» unterscheiden können) und gegen die «Zwangskollektivierung» (= vom Volk gewählte öffentliche Institutionen) ins Feld zieht, ist das beglückend.

Florian Keller beschreibt ausführlich, anschaulich, sorgfältig und liebevoll Evelinn Trouble und ihre Musik (die mich übrigens gar nicht interessiert, was die Lesefreude nicht mindert) und vermittelt dabei, wie wertvoll, kostbar und bedeutsam die Kultur überhaupt ist, wie wichtig und spannend die Auseinandersetzung damit ist; und wie fruchtbar für die Sprache!

Wie wertvoll das ist, zeigt ex negativo der Artikel von Jörg Scheller zur Bildungspolitik. Wer mit dem Theoriesprech der Zürcher Hochschule der Künste vertraut ist, merkt sofort, dass dieser Artikel vom ZHdK-Theorieprogramm verfasst wurde: Man gebe zwei Begriffe ein, zum Beispiel «Linke» und «Management», dann sucht das Programm die zu droppenden Namen, beim Stichwort «Linke» natürlich «Marx», «Foucault» und «Groys». Die Begriffe werden nach Stabreim (Massnahmen, Management, Malik) oder Endreim (Interaktion, Kollaboration, Partizipation) geordnet, was einen nicht vorhandenen Zusammenhang vortäuscht. Das Produkt wird an alle Redaktionen versendet, bei Veröffentlichung erfolgt automatisch Weiterbeschäftigung im nächsten Semester (auf Kosten einer Stelle für künstlerische Ausbildung).

Ebenso genial, aber wieder im Positiven, ist die Idee, einen deutschen Filmkritiker über Solothurn berichten zu lassen! Ich bin über diese Lektüre sehr erfreut und überzeugt, dass sich die WOZ nicht nur durch ihre politische Berichterstattung (und Ruedi Widmer!), sondern auch durch ihre Rettung des Feuilletons unverzichtbar macht.

Christian Sonderegger, Zürich

Freie Demokratie?

«‹Reclaim Democracy›-Kongress: Die Diskussion ist dringend nötig», WOZ Nr. 6/2017

Es war interessant, den Diskussionen um Demokratie und ihre Gefährdung angesichts des weltweiten politischen Rechtsdralls zu folgen. Was die Organisatoren von «Reclaim Democracy» allerdings dabei vergessen haben, ist, dass eine wirklich freie Demokratie im Rahmen einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung ein Ding der Unmöglichkeit ist, weil, solange das Kapital bestimmt, mindestens ein Teil dieser Demokratie immer gekauft werden kann.

Hanspeter Gysin, Basel