Literatur: Das Recht des Stärkeren

Nr. 8 –

Im zweiten Kapitel tauchen sie auf: sieben Gestalten, mehr tot als lebendig, die durch die Steppe Osteuropas irren, zusammengewürfelt, nur vereint durch ihr gemeinsames Ziel, irgendwo im Westen ein besseres Leben zu finden. Sieben Menschen, die buchstäblich mit dem Tod kämpfen – wer nicht mehr kann, aus Erschöpfung, aus Wassermangel, aus Hoffnungslosigkeit, bleibt zurück und wird unter einer erbarmungslosen Sonne von Ungeziefer zerfressen.

Und auch wer die Steppendurchquerung überlebt, gibt ein erbärmliches Bild ab: «Tote sind es», sagt die Frau, die in der fiktiven Stadt Michailopol der Polizei von Menschen erzählt, die den Müll durchwühlen. Hier, in Michailopol, treffen die zwei Erzählstränge von Tommy Wieringas Roman «Dies sind die Namen» aufeinander. Einerseits die übrig gebliebenen MigrantInnen, andererseits die Geschichte des Polizeibeamten Pontus Beck, ebenfalls eine traurige Figur, dessen Verlassenheit bloss durch gelegentlichen Sex mit seiner Haushälterin und täglich vier Gläser Wodka erleichtert wird. Auch Beck ist schockiert vom Anblick der nun noch fünf Personen umfassenden Gruppe. Was er mit diesen erbärmlichen Figuren mit ihrer straff über die Knochen gespannten Haut anfangen soll, weiss er nicht so genau. Als er in ihrem Gepäck schliesslich einen Schädel findet, ist er gezwungen, eine Untersuchung einzuleiten.

Es ist eine bedrückende, unversöhnliche Atmosphäre, die der niederländische Schriftsteller in seinem Roman erzeugt. Das schonungslos Morbide im Erzählstrang über die Flüchtenden wirkt dabei gleichzeitig abstossend und faszinierend. Abstossend, weil es wirklich ekelerregend ist, was Menschen anderen Menschen antun können, wenn sie nur hungrig und verzweifelt genug sind. Faszinierend, weil sich die Frage stellt: Wie würde ich selbst handeln? Würden sich auch in mir solche Abgründe auftun, wenn ich das Territorium der wohlhabenden Welt verliesse? Denn abseits davon herrscht letztlich das Gesetz des Stärkeren – zumindest erwächst dieser Eindruck aus der aufrüttelnden Lektüre.

Tommy Wieringa: Dies sind die Namen. Roman. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Carl Hanser Verlag. München 2016. 272 Seiten. 32 Franken