«Operation Papyrus»: Genf beendet die Sans-Papiers-Lotterie

Nr. 9 –

Die Aufmerksamkeit war gross, als Genf letzte Woche ankündigte, in den nächsten Jahren rund 3000 Sans-Papiers zu regularisieren. Eine kollektive Massnahme ist dies trotzdem nicht. Abgewiesene Asylsuchende profitieren beispielsweise nicht davon.

«Operation Papyrus» – die beiden Worte verleihen seit letzter Woche vielen AusländerInnen, die klandestin in Genf leben, neue Hoffnung. Insgesamt wohnen gemäss einer neuen Studie 13 000 Sans-Papiers im Kanton. Bis Ende 2018 sollen 2000 bis 3500 Sans-Papiers einen B-Ausweis erhalten, der jährlich erneuert werden kann. Genf ist der erste Kanton, der die Regularisierung von Sans-Papiers erprobt.

Geleitet wird Papyrus von der Genfer Regierung, unter Leitung von FDP-Sicherheits- und Volkswirtschaftsminister Pierre Maudet. «Der Kanton Genf schreitet zur Tat und nimmt seine Verantwortung im Kampf gegen die Schwarzarbeit wahr», gratuliert sich Maudet selbst. «Genf bleibt seiner Geschichte und seiner Tradition treu: standhaft und human.» Die ehemalige SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss, die sich innerhalb der Genfer Gewerkschaft SIT (Syndicat interprofessionnel des travailleurs) für Sans-Papiers engagiert, begrüsst den Entscheid. Sie sei froh, dass endlich eine erleichterte Regularisierung möglich sei, die klaren Kriterien folge: «Wenn ein Sans-Papier bisher einen B-Ausweis beantragte, denunzierte er sich selber. Entweder erhielt er eine positive Antwort oder einen Ausweisungsbescheid. Es war eine Lotterie.»

«Nur für Latinos»

Nicht alle Sans-Papiers werden jedoch aus ihrem klandestinen Dasein herausfinden. Denn die Operation Papyrus ist weder eine kollektive Regularisierung noch eine Amnestie. Vielmehr wird jeder Fall einzeln überprüft. Papyrus betrifft lediglich die dem Ausländergesetz unterstehenden Sans-Papiers, die seit vielen Jahren in Genf leben und arbeiten (vgl. «Der B-Ausweis» im Anschluss an diesen Text), nicht jedoch die abgewiesenen Asylsuchenden, die dem Asylgesetz unterstellt sind, das deren Wegweisung vorsieht. «Papyrus ist für die Latinos, aber nicht für die Schwarzen und die Araber», sagt beispielsweise ein Aktivist, der sich für das Bleiberecht von Asylsuchenden einsetzt. Während zurzeit also Genf für seinen Mut gefeiert wird, dauert die Misere einer Vielzahl von Menschen weiter an.

Seit Pierre Maudet 2013 das Sicherheits- und Wirtschaftsdepartement übernommen hat, ist Genf einer der Kantone, die am meisten abgewiesene Asylsuchende in ihre Herkunftsländer zurückschaffen, beziehungsweise im Rahmen des Dublin-Abkommens in jene Länder, in denen sie zuerst registriert wurden. Die Opposition gegen diese Politik wächst. Darunter sind viele jener Vereinigungen, die bei der Erarbeitung der Kriterien für Papyrus mitgearbeitet haben. So sagt Thierry Horner vom SIT, es sei ihm in letzter Zeit unangenehm gewesen, mit Maudet über die Regularisierung von Sans-Papiers zu verhandeln, während gleichzeitig ganze Familien ausgeschafft worden seien.

Angst vor der Sogwirkung

Will ein Kanton Sans-Papiers regularisieren, braucht er dafür die Zustimmung der Bundesbehörden. Als die Genfer Regierung 2005 beim damaligen SVP-Justizminister Christoph Blocher einen Antrag zur Regularisierung von 5000 Sans-Papiers stellte, wurde dieser abgewiesen. Unter SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die 2010 das Ministerium übernahm, änderte sich die Situation jedoch. Ab 2011 erarbeitete in Genf eine ExpertInnengruppe aus Sans-Papiers-Vereinigungen, dem SIT und KantonsvertreterInnen die Kriterien für die Regularisierung von Sans-Papiers.

Andere Kantone könnten die Kriterien der Operation Papyrus übernehmen. In der Schweiz sollen insgesamt 75 000 Sans-Papiers leben. Die grosse Mehrheit der Regularisierungsgesuche der letzten zehn Jahre kam aus Genf, der Waadt und Neuenburg. Zürich hat letztes Jahr nur zwei Personen regularisiert, obwohl mit 28 000 Menschen über ein Drittel der Schweizer Sans-Papiers dort wohnen. «In gewissen Kantonen fehlt der politische Wille», sagt Rémy Kammermann vom Centre social protestant. «Oder schlimmer noch: Der politische Wille besteht darin, die Büchse der Pandora nicht zu öffnen aus Angst vor einer angeblichen Sogwirkung oder vor einem Ansturm auf die Sozialhilfe. Nun können sich die Kantone aber nicht mehr hinter dem Vorwand verstecken, es mangle dem Staatssekretariat für Migration an Willen.»

An Dienstag kamen rund 1800 Sans-Papiers im und vor dem Saal des Konzertlokals Palladium zu einer Informationsveranstaltung zusammen. Dabei wurden auch Gesuchsformulare verteilt. Diese werden von Vereinen und Gewerkschaften behandelt, bevor sie schriftlich dem kantonalen Bevölkerungsamt und später dem Staatssekretariat für Migration zur Bestätigung unterbreitet werden sollen.

Aus dem Französischen von Yves Wegelin.

Der B-Ausweis

Genf will bis Ende 2018 2000 bis 3500 Sans-Papiers einen B-Ausweis ausstellen, der jährlich erneuert werden kann. Dafür hat der Kanton Kriterien aufgestellt:

Erstens brauchen die Sans-Papiers eine Anstellung. Zweitens müssen sie finanziell unabhängig sein. Drittens: Familien mit Kindern müssen einen Aufenthalt in der Schweiz von mindestens fünf Jahren nachweisen können, Paare ohne Kinder und Singles müssen seit zehn Jahren in der Schweiz gelebt haben. Viertens müssen sie eine Landessprache beherrschen, und schulpflichtige Kinder müssen eingeschult sein. Fünftens dürfen sie nicht vorbestraft sein.