Ernährungskrisen und Konflikte: «Hungersnöte sind nicht natürlich»

Nr. 10 –

Zwanzig Millionen Menschen sind in Afrika und im Jemen vom Hungertod bedroht. Bruno Jochum, Generaldirektor von Médecins Sans Frontières Schweiz, sagt, was zu tun wäre, um eine der grössten Katastrophen seit Jahrzehnten abzuwenden.

WOZ: Monsieur Jochum, grosse Hungerkrisen bahnen sich derzeit im Jemen, in Somalia, in Nigeria und im Südsudan an. Warum gerade jetzt eine solche Welle?
Bruno Jochum: In der Sahelzone hat kürzlich die Trockenzeit begonnen, was immer zu einer starken Zunahme von akuter Mangelernährung führt. Und die schlimmste Zeit kommt erst noch, zwischen Mai und August …

Aber selten zuvor waren gleich zwanzig Millionen Menschen vom Hungertod bedroht, wie die Uno schätzt.
Entscheidend ist, dass es in all den betroffenen Ländern schwere Konflikte gibt. Hungersnöte sind nie nur ein Naturphänomen, sie sind immer eine Folge menschlicher Entscheidungen – von Menschen verursachte Katastrophen. Im Nordosten Nigerias zum Beispiel ist die Ernährungskrise voll und ganz auf die Art der Kriegsführung zurückzuführen.

Bruno Jochum.

Sie waren soeben in Nigeria im nordöstlichen Bundesstaat Borno, wo die Armee seit fast zwei Jahren dabei ist, Gebiete von der Terrororganisation Boko Haram zurückzuerobern. Wie ist die Lage?
Die Menschen werden in den Kämpfen total aufgerieben, Millionen sind vertrieben worden. Manche leben nun in Dörfern und Städten, die eigentlich wieder unter staatlicher Kontrolle sind. Aber Boko Haram bleibt im Umland aktiv, es kommt immer wieder zu Angriffen beider Seiten. In solchen isolierten Enklaven gibt es kaum Sicherheit, die Bauern können ihre Felder nicht bestellen. Vor allem Kinder leiden an akuter Mangelernährung, in manchen Dörfern sind bereits alle Kleinkinder gestorben. Die Enklaven sind total auf Nahrungsmittelhilfe von aussen angewiesen.

Médecins Sans Frontières und Dutzende andere Hilfsorganisationen versuchen, das nun zu bewerkstelligen. Mit Erfolg?
Die meisten Uno-Organisationen sind erst vor wenigen Monaten hergekommen und noch dabei, ihre Lager in Maiduguri, der Hauptstadt von Borno, aufzustocken. Aber auch wir von Médecins Sans Frontières, die neben dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes schon seit drei Jahren in der Region sind, haben Zugang zu nur zehn Orten ausserhalb der Grossstadt. Wir kommen nicht in die ländlichen Gegenden, die Lage ist zu gefährlich. Wir wissen nicht einmal, wie es dort genau aussieht. Diese Menschen sind völlig auf sich selbst gestellt. Dort wo wir Zugang haben, stabilisiert sich die Situation langsam.

Was tun Armee oder zivile nigerianische Behörden für die Bevölkerung im Nordosten?
Nigeria hat sich mit den angrenzenden Staaten Kamerun und Tschad vor über drei Jahren entschieden, Boko Haram verstärkt militärisch zu bekämpfen. Die Hauptstrategie ist, die Terrormiliz von allen Ressourcen abzuschneiden. Sie soll auch keine Nahrungsmittel und Unterstützung aus der Bevölkerung erhalten können. Die Bevölkerung wird deshalb konsequent von den Aufständischen getrennt und in Städte oder vom Militär geschützte Lager umgesiedelt. In ganzen Landstrichen, besonders an der Grenze zu Kamerun, liess die Regierung praktisch alle Bewohner umsiedeln, die Fischerei und Landwirtschaft einschränken und Märkte schliessen.

Das heisst, Nigeria geht ohne Rücksicht auf die Bevölkerung vor.
Mit den militärischen Massnahmen soll die Bevölkerung sicher auch vor Boko Haram geschützt werden, und daneben versuchen zivile Behörden, die staatlichen Strukturen wiederaufzubauen. Aber ja, wir sehen, dass der Schutz der Bevölkerung vernachlässigt wird, und fordern von der nigerianischen Regierung, dass sie sich viel stärker um deren Sicherheit kümmert. Denn die jetzige Ernährungskrise in Borno ist eine direkte Folge der Unsicherheit, die durch die Aufstandsbekämpfung entstanden ist.

Was müsste die sogenannte Staatengemeinschaft – inklusive der Schweiz – besser machen, um solche Krisen abzuwenden?
In den letzten zwei Jahren gab es sehr wenig politische Aufmerksamkeit für humanitäre Krisen in Afrika. International, auch seitens der Schweiz, liegt der Fokus vor allem auf Hotspots im Nahen Osten und auf der Terrorbekämpfung. Dadurch werden andere grosse Konflikte und deren dramatische Konsequenzen vernachlässigt.

Vor zwölf Jahren war die Hungerkrise in Darfur im Sudan sehr präsent, heute ist das mit den sich anbahnenden multiplen Hungersnöten nicht mehr der Fall. Dabei haben sie allesamt auch damit zu tun, wie der «Krieg gegen den Terror» geführt wird.

Warum dieses Desinteresse?
Krisen werden auf internationaler Ebene vor allem dann vernachlässigt, wenn sie mit bewaffneten Konflikten einhergehen. Kaum eine Organisation ist heute in Somalia oder in den heissen Gegenden im Südsudan, in Borno oder im Jemen präsent. Bei Naturkatastrophen gibt es immer eine riesige Mobilisierung von Ressourcen. Nicht nur, weil dann die Sicherheitslage auch für die Hilfsorganisationen besser ist, sondern weil solche «Schicksalsschläge» viel mehr Solidarität generieren.

Was müsste getan werden, um in Zukunft Hungersnöte zu verhindern?
Dazu braucht es den Willen der verantwortlichen Regierung und internationale Anstrengungen. So gibt es etwa in Äthiopien oder Kenia seit Jahren keine Hungerkatastrophen mehr, obwohl auch diese Länder von grossen Dürren betroffen sind.

Was sind dabei die wichtigsten Massnahmen?
Es geht zum Beispiel darum, die Agrar- und Wirtschaftspolitik auf die Versorgung gefährdeter Bevölkerungsschichten auszurichten. Oft sind auch in Ernährungskrisen genügend Nahrungsmittel vorhanden. Aber weil sie knapp sind, werden sie gehortet und extrem teuer weiterverkauft, was dazu führt, dass schliesslich die Ärmsten hungern. Da muss der Staat im Vorfeld regulierend eingreifen. Auch das Gesundheitssystem kann an die speziellen Bedürfnisse während Dürrezeiten angepasst werden, indem eine Regierung vorgängig besonders nahrhafte Lebensmittel an Kleinkinder verteilt und mehr Gesundheitspersonal einsetzt.

Prävention ist aber schwierig, wenn Krieg herrscht.
Genau. Es braucht zumindest eine gewisse Stabilität. In Konfliktsituationen gibt es wenig Raum für Prävention, da bleiben nur reaktive Massnahmen wie Nahrungsmittellieferungen und medizinische Nothilfe. Und auch das ist nur möglich, wenn die Konfliktparteien wenigstens minimal kooperieren.

Sind Sie zuversichtlich, dass in den aktuellen Ernährungskrisen die schlimmsten Szenarien doch noch verhindert werden können?
Das hängt sehr davon ab, ob die bisher unzugänglichen Bevölkerungsteile erreicht werden können. In Somalia ist das sehr schwierig, da es kaum staatliche Strukturen gibt, um die Hilfe zu koordinieren. Dort und auch im Südsudan behindern selbst staatliche Akteure zum Teil die Hilfsbemühungen. Überall braucht es viel mehr internationalen Druck auf die Konfliktparteien, die Bevölkerung zu schützen.

Zudem ist die Finanzierung der notwendigen Hilfsanstrengungen noch längst nicht gesichert. Im Gegenteil, hat doch die US-Regierung angekündigt, ihre Beiträge an entscheidende Uno-Hilfsorganisationen massiv zurückzufahren. Für das Welternährungsprogramm etwa, das hauptsächlich von den USA finanziert wird, wäre das ein äusserst schwerer Schlag. Alles in allem bin ich also nicht sehr optimistisch.

Bruno Jochum

Der aus Frankreich stammende Politologe Bruno Jochum (49) ist seit 2011 Generaldirektor der Schweizer Sektion von Médecins Sans Frontières (MSF). Vorher leitete er unter anderem die MSF-Hilfsprogramme in Afghanistan und im Iran.

MSF besteht aus neunzehn Ländersektionen und hat ihren Sitz in Genf. Sie gilt als weltweit grösste Organisation für medizinische Nothilfe in Krisengebieten.

Vom Jemen bis Nigeria : Das kritischste Jahr seit langem

In einzelnen Gebieten im Südsudan herrscht seit über zwei Wochen eine Hungersnot – so heisst es in einer Erklärung der Regierung und dreier Uno-Hilfsorganisationen. 100 000 Menschen drohen zu verhungern. Und auch in den meisten anderen Gegenden des nordostafrikanischen Bürgerkriegslands gibt es akute Nahrungsmittelknappheit und Mangelernährung. Gemäss Welternährungsprogramm wird die Zahl der Hungernden im Juli auf 5,5 Millionen Menschen steigen – das sind 45 Prozent der Bevölkerung im Südsudan.

Es ist weltweit die erste «offizielle» Hungersnot seit sechs Jahren, als in Somalia etwa 260 000 Menschen starben. Die Uno definiert eine Ernährungskrise erst dann als Hungersnot, wenn mindestens zwanzig Prozent der Bevölkerung einer Gegend kaum noch Zugang zu Grundnahrungsmitteln haben, wenn über dreissig Prozent von «akuter Mangelernährung» betroffen sind und wenn von 10 000 Menschen mehr als 2 pro Tag sterben.

Besonders kritisch in diesem Jahr ist, dass drei weitere Länder auf eine Hungersnot zusteuern: Im Jemen liegt die Ursache dafür in einem internen bewaffneten Konflikt sowie rücksichtslosen Angriffen der saudi-arabischen Luftwaffe. In Somalia tragen der Staatszerfall und der Kampf gegen die Terrormiliz al-Schabab dazu bei, dass das Land vor der dritten Hungersnot innerhalb von 25 Jahren steht. Besonders weitreichende Folgen könnte die Ernährungskrise in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, haben (vgl. Haupttext oben).

So sind insgesamt zwanzig Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Die Uno versucht derweil, 4,4 Milliarden US-Dollar für die Nothilfe aufzutreiben.

Markus Spörndli