Türkisches Tagebuch: Mit dem Finger auf dem Globus

Nr. 10 –

Ece Temelkuran über die deutsch-türkischen Beziehungen

2. März: Ich bin nach Madrid gereist, um ein paar Freundinnen zu treffen. Eine von ihnen ist bereits hierhergezogen, die andere versucht gerade zu entscheiden, ob sie lieber in London oder doch in Portugal leben will. Man könnte meinen, wir seien sorglose Weltbürgerinnen, die mit der Landkarte spielen. Aber eigentlich sind wir viel eher widerwillige Fahrgäste dieser interessanten Zeiten.

Derweil die Abstimmung über das Präsidialregime immer näher rückt, versuchen viele Mitglieder der oberen Mittelschicht, irgendwo im Ausland ein Haus zu kaufen oder eine Firma zu gründen, um so an das «goldene Visum», also eine Aufenthaltsbewilligung, zu kommen. Allen Gesprächen, die wir führen, liegt unterschwellig eine depressive Stimmung zugrunde. Wir bemühen uns sehr, dies zu verschleiern, indem wir verzweifelt vereinbaren, uns in irgendwelchen europäischen Städten zu treffen. Meine Freundinnen sind keine Politaktivistinnen oder so. Und nun – mit Mitte vierzig – müssen sie ihr ganzes Leben neu ordnen.

3. März: Endlich ist ein neuer Feind gefunden: Deutschland! Dank Präsident Recep Tayyip Erdogan betreibt die türkische Regierung ihr immer gleiches Propagandaspiel, seit fünfzehn Jahren stilisiert sie sich zum Opfer. Doch seit alle GegnerInnen entweder inhaftiert oder handlungsunfähig gemacht worden sind, gehen ihr die Feinde aus. Da kommen die Deutschen gerade recht. Wegen «Sicherheitsbedenken» haben die Behörden die Auftritte zweier türkischer Minister abgesagt – wohl als Reaktion auf die Inhaftierung des «Welt»-Korrespondenten Deniz Yücel. Ihm wird Terrorpropaganda vorgeworfen.

4. März: Wie erwartet verliert Präsident Erdogan keine Zeit und giesst bei der Auseinandersetzung mit Deutschland weiter Öl ins Feuer. Bei einem Auftritt wirft er der deutschen Regierung «Beihilfe zum Terror» vor. Dass praktisch alle wissen, dass die Vorwürfe unmöglich der Wahrheit entsprechen können, ist egal. Denn Erdogan zielt mit seinen Aussagen sowieso auf das einheimische Publikum. Er versucht, vor dem Referendum seine UnterstützerInnen um sich zu scharen. Denn glaubt man den neusten Umfragen, könnte das Ergebnis anders lauten, als Präsident Erdogan es sich wünscht. Der Konflikt mit Deutschland wird zu einer Frage des Nationalstolzes. Der Präsident und sein Kabinett verkünden, Deutschland versuche, die Abstimmung zu manipulieren.

Gegen das Führungskomitee des gescheiterten Militärputschs vom 15. Juli 2016 ist endlich Anklage erhoben worden. Die Staatsanwaltschaft fordert für die 37 Angeklagten 2988-mal lebenslänglich.

5. März: Während die meisten wegen der überfrachteten innenpolitischen Agenda keine Zeit finden, sich mit den Einzelheiten der internationalen Operation in Syrien zu befassen, eskalieren zwischen den USA und der Türkei die Spannungen über den Umgang mit den kurdischen KämpferInnen. Und in einem Bericht des US-Aussenministeriums aus dem letzten Jahr wird die Menschenrechtslage in der Türkei harsch kritisiert. Neben dem Konflikt mit Deutschland braut sich gerade eine weitere Krise zusammen. «Die Amerikaner müssen sich entscheiden: die Terroristen oder wir», sagt Erdogan. Ich frage mich, wie viele seiner Aussagen überhaupt in andere Sprachen übersetzt werden.

6. März: Präsident Erdogan bezeichnet die deutsche Regierung als «Nazis». Natürlich. Er sagt, falls nötig werde er selbst nach Deutschland reisen. Ähnlich äussert sich auch der Anführer der nationalistischen MHP. Es klingt, als planten die beiden eine Neuauflage der Belagerung von Wien.

7. März: «Die türkische Politik vereint gegen Deutschland» steht heute auf den Titelseiten der regierungsnahen Medien. Wieder einmal ist man derart im Populismus gefangen, dass alle Gegenstimmen als KollaborateurInnen Deutschlands diffamiert werden. Den immer gleichen Kreislauf immer wieder von neuem zu beobachten, ist betäubend und niederschmetternd. Das ist auch einer der Gründe, warum die Leute ihre Finger auf den Globus legen, um ihr Leben von Grund auf neu aufzubauen.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.