Chlortransporte: Wenn der Gewinn mehr wiegt als das Risiko

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Im Durchschnitt fährt täglich ein Güterwaggon gefüllt mit flüssigem Chlorgas durch die dicht besiedelten Gebiete am Genfersee. Das Unfallrisiko steigt stetig. Der Profit zweier Unternehmen scheint jedoch wichtiger als die Sicherheit der Bevölkerung.

Güterzug der Syngenta bei der Einfahrt in Monthey: Der Chemiekonzern transportiert hochgefährliches Chlorgas mitten durch Wohngebiete.

Chlorgas möchte niemand freiwillig einatmen: Schon bei Konzentrationen von einem halben bis zu einem Prozent verätzt es Hals und Lungen, was zum Tod durch Atemstillstand führt. Chlor gehört zu den reaktionsfreudigsten Elementen überhaupt – was es gefährlich macht, aber auch sehr bedeutend für die chemische Industrie.

In der Schweiz haben sich drei Firmen auf die Verarbeitung von Chlor spezialisiert. Eine davon, die Firma Cabb im Baselbieter Pratteln, stellt ihr Chlor selber her. Die anderen zwei, Lonza in Visp und Syngenta in Monthey, beziehen sämtliches Chlor seit fast fünfzehn Jahren aus dem Ausland, den Grossteil davon aus Frankreich. Beide Unternehmen nützen die Giftigkeit von Chlor, um Pestizide für die Landwirtschaft herzustellen. Syngenta verwendet jährlich 6000 Tonnen für fast alle in Monthey hergestellten Produkte. Lonza verbraucht jedes Jahr 15 000 Tonnen Chlor für die Produktion von Agrochemikalien, Pharmazeutika, Desinfektionsprodukten und Konservierungsstoffen.

Für den Transport wird das giftige Chlorgas unter Druck verflüssigt und in speziellen Güterwaggons, sogenannten Kesselwagen, transportiert. Ihr Weg führt mitten durch die Städte Genf und Lausanne sowie deren dicht besiedelte Vororte – sie sind somit ein erhebliches Risiko für alle Menschen, die entlang der Zuglinie Genf–Visp wohnen. Wird ein Chlorwaggon beispielsweise bei einem Zusammenstoss seitlich aufgerissen, dann entweicht das Chlor als Gas. Weil es schwerer ist als Luft, breitet es sich dem Boden entlang aus, je nach Windrichtung mehrere Hundert Meter mitten hinein in Wohngebiete.

«Dieses Risiko ist unverhältnismässig», findet Lisa Mazzone. Die junge Genferin sitzt für die Grünen im Nationalrat. Sie erzählt, wie die Chlortransporte den GenferInnen vor gut zweieinhalb Jahren wieder ins Bewusstsein kamen: «Es ging um die Entwicklung des Quartiers La Praille. Wegen der riskanten Chlortransporte stand plötzlich der Bau von mehreren Tausend Wohnungen infrage.» Die Wohnungen durften nur mit einem Sicherheitsabstand zu den Gleisen hin geplant werden – damit bei einem Unfall nicht zu viele Menschen in Lebensgefahr geraten. Damals fuhren die Güterzüge sogar eine Zusatzschlaufe zum Bahnhof La Praille, um dort jeweils die Lokomotive zu wechseln. Mittlerweile leiten die SBB die Chlortransporte auf direktem Weg durch Genf. Doch bei einem Unfall mitten in der Stadt würde das Chlorgas auch so noch mehr als 100 000 Menschen in Lebensgefahr bringen. «Und das allein für den Profit zweier Unternehmen», sagt Lisa Mazzone. Das wollten sie und ihre ParteikollegInnen nicht länger akzeptieren und lancierten eine Standesinitiative: Sie verlangen ein Verbot für den Transport von grossen Mengen an Chlor.

Sicherheit ist ein blauer Waggon

«Das Risiko durch die Chlortransporte liegt heute durchaus im akzeptablen Bereich. So hat es das BAV, das Bundesamt für Verkehr, errechnet», sagt Nicolas Herold. Er ist der Verantwortliche für den Chloreinkauf von Syngenta in Monthey. Seine Antwort auf die Risikofrage hat die Form eines hellblauen Kesselwagens: Dieser steht in einer geschlossenen kleinen Halle auf dem weitläufigen Firmengelände. Die Halle ist mit zahlreichen Sensoren ausgerüstet, um allfällige Chlorlecks aufzuspüren. «Diese Kesselwagen sind derzeit die sichersten, die es auf dem Markt gibt. Wir haben sie speziell für die Chlortransporte entwickelt.» Nicolas Herold erklärt die Details: verstärkte Wände an beiden Enden, ein Puffer vorne am Untergestell, eine doppelte Sicherung für das Füllen und Entleeren des Containers. Seit Anfang des letzten Jahres fahren diese Spezialwaggons in den am dichtesten besiedelten Gebieten nur noch mit vierzig Stundenkilometern statt den sonst üblichen Geschwindigkeiten. Trotzdem: «Ein Nullrisiko gibt es nicht», sagt Nicolas Herold. «Dazu müssten die Transporte ganz beendet werden.»

Chlor aus dem Ausland ist günstiger

Die Transporte beenden, das würde bedeuten, das hochreaktive Chlor vor Ort zu produzieren. Bei der Lonza, der grössten Chlorverbraucherin im Wallis, ist auch nach mehreren Anfragen kein Besuch möglich, Fragen werden nur schriftlich und vage beantwortet. Wie die Firma das Risiko der Chlortransporte einschätzt, kann man sich aus früheren Stellungnahmen zusammenreimen: Gemäss eigenen Angaben müsste Lonza siebzig Millionen Franken investieren, um in Visp eine neue Chlorproduktionsanlage zu bauen. Das sei zu teuer und würde die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens ernsthaft bedrohen.

Gleichzeitig hat Lonza das beste Geschäftsjahr seiner Geschichte hinter sich. Noch dieses Jahr soll in Visp gemeinsam mit dem französischen Pharmakonzern Sanofi eine Produktionsanlage für Zellkulturen und bestimmte Antikörper errichtet werden – für nicht weniger als 290 Millionen Franken. Tatsache ist: Die chemischen Verfahren, um Chlor zu gewinnen, sind einfach – es lässt sich aus Kochsalz herstellen –, aber energieintensiv. Für Lonza und Syngenta ist es schlicht rentabler, das Chlorgas aus dem Ausland zu beziehen, wo die Energie günstiger ist und die Löhne tiefer sind.

Das BAV untersucht seit mehr als fünfzehn Jahren die Risiken auf dem SBB-Netz. Im jüngsten Risikobericht erscheinen drei Streckenabschnitte wegen der Chlortransporte in der zweithöchsten Gefahrenstufe – Orange: Genf, Lausanne und sein Vorort Renens. Orange gilt als noch tolerierbar. Doch in der Genferseeregion entwickeln sich gleich drei Faktoren ungünstig: Die Bevölkerung ist über die Jahre deutlich gewachsen, die Anzahl Zugfahrten angestiegen, und die Menge an Chlor, die von Genf ins Wallis transportiert wird, hat sich zwischen 2003 und 2013 verdoppelt. Wenn die Bevölkerung weiterwächst wie prognostiziert und damit auch die Auslastung des SBB-Netzes weiter zunimmt, wird ein Zusammenstoss zwischen zwei Zügen oder ein Fehler beim Rangieren wahrscheinlicher. Und immer mehr Menschen wären dadurch bedroht.

Das BAV und das Bundesamt für Umwelt riefen darum im Jahr 2015 VertreterInnen der Kantone Genf und Waadt, die beteiligten Unternehmen, die SBB, den Branchenverband Scienceindustries und den Verband der verladenden Industrie an einen runden Tisch. Das Ziel war es, auf informellem Weg eine Lösung für das Problem der Chlortransporte zu suchen. Einen solchen runden Tisch hatte es bereits 2002 gegeben, das Resultat war die «Gemeinsame Erklärung I»: Sie führte einen Mindeststandard für die Kesselwagen ein und verbot es, das chlorhaltige Phosgen, ein potentes Giftgas und Ausgangsstoff für chemische Synthesen, in grossen Mengen auf Schienen zu transportieren.

Wenig Konkretes vereinbart

Vergangenen Herbst wurde dann die «Gemeinsame Erklärung II» unterzeichnet: ein hochgelobtes zehnseitiges Papier, von dem sich die beiden Bundesämter viel erhoffen. «Diese Erklärung wurde so vollmundig präsentiert», sagt die Grüne Lisa Mazzone, «dabei enthält sie so wenig Konkretes.» Im Wesentlichen ist das Schreiben eine unverbindliche Absichtserklärung von Syngenta, Lonza und den Branchenverbänden, das Risiko durch die Chlortransporte zu senken. Sanktionen, falls dies nicht gelingt, sieht es keine vor.

Die Initiative des Kantons Genf wird am Erscheinungstag dieser WOZ im Nationalrat behandelt. Der Ständerat hat sie abgelehnt, die vorberatende Kommission des Nationalrats empfiehlt ebenfalls eine Ablehnung. Als Begründung wird jeweils auf die «Gemeinsame Erklärung II» verwiesen. Lehnt auch der Nationalrat ein Verbot von Chlortransporten ab, so bedeutet das vor allem eines: Die Gewinnaussichten von Lonza und Syngenta will man auf keinen Fall schmälern. Das Risiko aber, das mit ihrer Spezialchemie einhergeht, sollen weiterhin die BewohnerInnen der Genferseeregion tragen.

Dazu dient das Chlorgas

Syngenta ist der weltweit grösste Hersteller von Pestiziden. Viele davon enthalten Chlor; beispielsweise Paraquat, das in der Schweiz und in vielen anderen Ländern mittlerweile verboten ist. Andere chlorhaltige Pestizide wie 2,4-D, Diuron oder Cyhalothrin sind umstritten und stehen teils unter Verdacht, Krebs zu erregen.

In Monthey produziert Syngenta ein gutes Dutzend Pestizidwirkstoffe. Namentlich nennen will das Unternehmen lediglich das Pilzbekämpfungsmittel Mandipropamid, das bei Kartoffeln und Reben eingesetzt wird. Hauptsächlich entwickelt Syngenta in Monthey jedoch neue Pestizide, die anschliessend im Ausland produziert werden.