Polizeigewalt in den USA: Angst hat sie keine mehr

Nr. 11 –

Lange war die New Yorkerin Gwen Carr eine Stubenhockerin, die sich nicht für Politik interessierte. Dann starb ihr Sohn Eric Garner, als er festgenommen wurde – und die 67-Jährige wurde zur Aktivistin.

Von ihrer Festnahme erzählt Gwen Carr so gelassen, so abgeklärt, als hätte sie das alles schon tausendmal erlebt. Wie Polizisten sie vor ein paar Wochen aufgreifen, ihr Kabelbinder anlegen, sie einmal quer durch Manhattan zur Hauptwache des New York Police Department fahren. Wie die Beamten Fotos von ihr machen, sie stundenlang warten lassen. Aufgeregt war Gwen Carr nicht. Sie wusste ja, was man ihr zur Last legte: zivilen Ungehorsam.

Rund dreissig Menschen hatten sich an diesem Dienstagabend vor dem Trump Tower an der Fifth Avenue in Midtown Manhattan versammelt. Es war der Tag, an dem Donald Trump seinen Kandidaten für den Supreme Court, das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, präsentierte: Neil Gorsuch, einen rechtskonservativen Richter, der viel vom Waffen- und wenig vom Abtreibungsrecht hält. Skandalös, fand Carr. Organisiert worden war der Protest vom National Action Network, einer Bürgerrechtsorganisation, deren Mitglied Gwen Carr seit zwei Jahren ist. «Wir haben den Verkehr blockiert, und als uns die Beamten aufgefordert haben zu gehen, sind wir geblieben», erzählt sie. Insgesamt elf DemonstrantInnen wurden an diesem Abend abgeführt. Für die 67 Jahre alte Frau war es die erste Festnahme ihres Lebens.

«Die Polizei hat mich anständig behandelt», sagt Carr. Sie muss das betonen. Festnahmen, das weiss sie, finden oft ein anderes Ende.

Eric Garners letzte Worte

Zweieinhalb Jahre ist es her, dass Gwen Carrs Sohn zum letzten Mal festgenommen wurde. Anders als seine Mutter kannte Eric Garner das Prozedere tatsächlich auswendig, über dreissig Mal hatte ihn die Polizei mitgenommen, seitdem er ein Jugendlicher war. Als Garner an jenem Nachmittag im Juli 2014 die Beamten gegenübertraten, war er deshalb zunächst einmal genervt. «Lasst mich in Ruhe, das hier ist meine Angelegenheit», sagte der 43-jährige Familienvater, der seit ein paar Jahren «loosies», also einzelne, unversteuerte Zigaretten, auf der Strasse verkaufte. Die Beamten liessen ihn nicht in Ruhe, sie rissen ihn im Würgegriff zu Boden, pressten seinen Kopf auf den Asphalt. Eine Stunde später war er tot.

Weil ein Freund Garners den Vorgang mit einem Mobiltelefon gefilmt hatte, gingen seine letzten Worte um die Welt: «I can’t breathe», ich kann nicht atmen, röchelte der asthmakranke Garner elf Mal hintereinander. Es wurde der Hilfeschrei einer ganzen Bewegung. Sein Tod entfachte Proteste von Los Angeles bis Washington D. C., die Black-Lives-Matter-Bewegung bekam eine neue Dynamik, und Barack Obama hielt plötzlich Grundsatzreden zum Thema Rassismus. «Das ist ein amerikanisches Problem», sagte der Präsident damals.

Gwen Carr hätte sich zurückziehen können. Keine Anrufe entgegennehmen, Briefe unbeantwortet lassen, einfach im Bett bleiben – niemand hätte etwas anderes von ihr erwartet. Doch Gwen Carr wurde zur Aktivistin. Seit zweieinhalb Jahren reist sie durch die USA, hält Reden vor Zehntausenden Menschen, marschiert bei Protesten vorne mit. Und wenn nötig leistet sie zivilen Ungehorsam, wie vor dem Trump Tower.

Staten Island heisst der Bezirk, in dem sie lebt, eine Insel südlich von Manhattan mit knapp 500 000 EinwohnerInnen, 75 Prozent davon sind weiss. Es ist der einzige der fünf New Yorker Stadtteile, der sich wirklich amerikanisch anfühlt. Die Einfamilienhäuser, die oberirdischen Stromkabel, die Vorstadtatmosphäre. Auf Staten Island wehen mehr US-Flaggen als in Brooklyn oder Queens. Es ist auch der einzige New Yorker Stadtteil, in dem die RepublikanerInnen mehr Stimmen bekommen als die DemokratInnen. Reporter aus der ganzen Welt kamen während des Wahlkampfs hierher, um das Trump-Phänomen zu begreifen.

Gwen Carr – blond gesträhnte Haartolle, weisses Kleid, Badelatschen – erhebt sich von ihrer beigen Couch im Wohnzimmer, läuft zur Wand, wo mehrere Fotos ihres Sohnes hängen. «Mein Sohn wäre noch am Leben, wenn er weiss gewesen wäre», sagt Carr, die bis heute seine Medikamente in einer Holztruhe aufbewahrt. Der Fernseher läuft, Sonntagmittagstalk. Bürgerrechtsikone Jesse Jackson und die ABC-Moderatorin vergleichen die Protestbewegung von 1965 mit der Protestbewegung von heute.

«Trump will die Leute gegeneinander aufbringen. Wenn er so weitermacht, gibt es bald einen Bürgerkrieg», sagt Carr. Und tatsächlich scheinen die Vereinigten Staaten so gespalten wie selten. Fast täglich schockiert Trump die Welt mit einem neuen Gesetz, einer neuen Idee, einem neuen Tweet, einer neuen Pressekonferenz. Einer Umfrage zufolge fordern mittlerweile fast fünfzig Prozent der US-amerikanischen WählerInnen eine Amtsenthebung. Die Widerstandsbewegung wächst, jeden Tag gründen sich neue Protestorganisationen.

«Ich war Teil des Problems»

Wenn Gwen Carr von ihren Auftritten erzählt, klingt es nach Pflichtbewusstsein, manchmal sogar nach schlechtem Gewissen. «Ich habe mich zu lange nicht um Politik gekümmert. Bin zur Arbeit, nach Hause, zur Arbeit, nach Hause, war einfach viel zu passiv», sagt Carr. Ein «homebody» sei sie gewesen, eine Stubenhockerin. «Ich war Teil des Problems. Ich hätte mich früher einmischen sollen.»

Das da, die Politik, hatte nichts mit ihr zu tun, so empfand sie es zumindest. Genau dieses Gefühl, die Abkoppelung, die Wut auf die Hauptstadtelite, trieb viele Millionen Menschen im vergangenen November dazu, Donald Trump zu wählen, diesen vermeintlichen Aussenseiter, der doch so deutlich das Establishment verkörpert und das mit Abstand wohlhabendste Kabinett der jüngeren US-Geschichte zusammengestellt hat.

Wenn Gwen Carr von ihren Mitmenschen fordert, sich über Lokalpolitik zu informieren, sich in der Nachbarschaft zu engagieren, «die Hausaufgaben zu machen», dann klingt sie fast schon autoritär. Wenn sie dann aber im nächsten Satz ihre eigene, jahrzehntelange Passivität kritisiert, wird deutlich, dass ihre Strenge Teil der Vergangenheitsbewältigung ist. «Ich habe zu lange überhaupt nicht gewusst, dass ich eine Stimme habe», sagt sie.

Sie war siebzehn Jahre alt, als Martin Luther King, Jesse Jackson und viele andere Aktivisten 1965 von Selma nach Montgomery marschierten. «Ich hatte Freunde im Süden, und wenn die zu Besuch kamen, haben sie von den Demonstrationen erzählt. Aber es fühlte sich weit weg an», sagt sie. 1970 kam Eric auf die Welt, ihr erster Sohn, der schon als Baby wegen Atemproblemen Monate im Krankenhaus verbrachte. «Er wollte Mechaniker werden, aber sein Asthma stand ihm im Weg.» Carr musste sich neben ihren drei leiblichen Kindern auch um die drei Kinder ihres verstorbenen Bruders und um die drei Kinder ihres ersten Ehemanns kümmern. Als ihr Mann durch einen Herzinfarkt starb, war Carr mit neun Kindern allein. Die Familie wohnte damals noch in Downtown Brooklyn. «Im Haus war es immer ein bisschen zu eng», erinnert sie sich. Ihr zweitältester Sohn Emery wurde mit achtzehn bei einem Raubüberfall ermordet.

Politik fühlte sich nicht nur weit weg an, für Politik war in ihrem Leben oft kein Raum, keine Zeit.

Mitte der neunziger Jahre zog die Familie nach Staten Island. Wann genau ihr Sohn Eric begann, Zigaretten zu verkaufen, kann die Mutter nicht mehr rekonstruieren. «Er hat sich mit verschiedenen Jobs durchgehangelt, um seine Familie zu ernähren», sagt Carr. Sie selbst arbeitete 22 Jahre als Zugführerin für die New Yorker Subway. Als sie die Nachricht von der Festnahme ihres Sohnes bekam, machte sie gerade eine Pause zwischen zwei Fahrten. Als sie zu Hause auf Staten Island ankam, standen schon die Boulevardreporter vor ihrer Haustür.

Der Tod ihres Sohns wurde zum Politikum und bis ins Detail analysiert. Zeugen berichteten, dass der über 1,90 Meter grosse und 160 Kilogramm schwere Garner unmittelbar vor der Festnahme einen Streit zwischen zwei Anwohnern geschlichtet hatte. Bekannt wurde auch, dass Daniel Pantaleo, der damals 29-jährige Polizist, der Garner würgte, bereits mehrfach von BürgerInnen wegen Fehlverhalten verklagt worden war.

Als ein Geschworenengericht im Dezember 2014 verkündete, dass die beteiligten Polizisten nicht einmal angeklagt würden, gingen innerhalb weniger Stunden in vielen Städten die Menschen auf die Strasse, um zu protestieren. Basketballstars wie LeBron James oder Kobe Bryant zogen sich Shirts mit dem Aufdruck «I can’t breathe» über. Als Gwen Carr vor ein paar Wochen beim Women’s March in Washington auf der Bühne stand, trug sie das gleiche Shirt.

Jede Woche marschiert sie nun mit den anderen Mitgliedern des National Action Network durch Manhattan. Sie hat Vorträge in etlichen Schulen gehalten. Und als der Wahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump immer bizarrer wurde, verkündete Carr, dass sie sich von nun an für Hillary Clinton engagieren würde. «Sie hat sich bei mir gemeldet, und wir haben uns getroffen», sagt Carr.

«Wir müssen konstant dagegenhalten»

Sie ist nicht die einzige Mutter, die der Tod eines Kindes politisiert hat. Im Sommer 2016 trat sie mit sechs Frauen beim Parteitag der DemokratInnen auf. Sie wurden als die «Mütter der Bewegung» bekannt. Dazu gehören unter anderem Lesley McSpadden, deren Sohn Michael Brown 2014 in Ferguson von einem Polizisten erschossen wurde, Geneva Reed-Veal, deren Tochter Sandra Bland 2015 wegen einer Ordnungswidrigkeit im Gefängnis landete und dort unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, und auch Sybrina Fulton, deren siebzehnjährigem Sohn Trayvon Martin 2012 in Florida von einem Mitglied der örtlichen Bürgerwehr in die Brust geschossen wurde. Der Schütze wurde freigesprochen.

Michael Brown, Sandra Bland, Trayvon Martin – sie alle waren unbewaffnet, genau wie Eric Garner.

Das US-Justizministerium hatte 2014 eine unabhängige Untersuchung von Garners Tod angekündigt, doch Gwen Carrs Hoffnung, dass der Fall endlich aufgeklärt werden könnte, hat sich mittlerweile zerschlagen. Im vergangenen November verfasste sie einen Brief an Justizministerin Loretta Lynch. «Bitte hören Sie meinen Appell, bitte lassen Sie die Worte meines Sohnes und unsere Tränen nicht umsonst sein», schrieb Carr und forderte endlich ein Resultat der Untersuchung. Eine Antwort hat sie bis heute nicht erhalten.

Seit einigen Wochen nun ist Jeff Sessions neuer Justizminister, der Exsenator von Alabama, der unter den rechten Hardlinern als rechter Hardliner gilt. Ein Mann, der in den achtziger Jahren beim Versuch scheiterte, Bundesrichter zu werden, weil ihm Sympathien zum Ku-Klux-Klan nachgesagt wurden.

«Wir müssen konstant dagegenhalten, sonst wird Trump normalisiert», sagt Carr. Nächste Woche wird sie wieder auf der Strasse sein. Sie will sich nicht mehr entmutigen lassen, keine Angst mehr haben.

«Gerechtigkeit für meinen Sohn gibt es sowieso nicht», sagt Gwen Carr. Sie kämpft jetzt für andere.