Der Brandstifter von Solothurn: Ein Kämpfer gegen den Gotteswahn

Nr. 13 –

Andres Zaugg hat vor sechs Jahren in Solothurn die St.-Ursen-Kathedrale in Brand gesetzt. Das Gericht attestierte ihm, dass er niemanden gefährden wollte. Trotzdem wäre er fast für sehr lange Zeit verwahrt worden. Seit fünf Monaten ist Zaugg wieder frei. Wer ist der Mann: ein Psychopath? Ein Prophet? Ein Autist?

  • Es ist sein Pech, dass Menschen nicht so logisch sind wie Maschinen: Andres Zaugg mit seinem preisgekrönten Anza-Aggregat.
  • Modell des Antriebs für ein flossengetriebenes Rettungsboot.
  • Andres Zauggs Erfindungen: Modell des kippstabilen Dreiradfahrzeugs.
  • Modell einer Skelettkugel zur Aufbewahrung – zum Beispiel eines «Toleranten».
  • Von jeder Seite anders anzusehen: Der «Tolerant» soll die Menschen Toleranz lehren.
  • «Das können auch Schulkinder begreifen»: Andres Zaugg mit einem grösseren «Toleranten».

Um 10.01 Uhr geht der Brandmelder los, so wird es später im Polizeibericht stehen. Der Altar steht in Flammen. Der Teppich brennt, die Christbäume ebenfalls.

Andres Zaugg ist zufrieden. Er hat die St.-Ursen-Kathedrale in Solothurn in Brand gesetzt. Es ist der 4. Januar 2011, seine «Performance», wie er die Aktion nennt, scheint zu gelingen.

Er wartet draussen vor der Kirche, bis die Polizei kommt und ihn verhaftet. Er will einen Prozess, und er will ihn nutzen, um seine Botschaft zu verkünden.

Man kann diese Geschichte erzählen als den Akt eines gewalttätigen Irren, wie der «Blick» es genüsslich tut. Oder man erzählt die Geschichte, wie Zaugg sie gerne lesen würde: als Akt des Widerstands und der Aufklärung. Von einem, der sieht, wie die Welt auf eine Katastrophe zusteuert und keiner etwas dagegen unternimmt, also muss er ein Zeichen setzen. Man kann Zauggs Geschichte aber auch noch ganz anders erzählen: wie ein älterer, verschrobener, aber intelligenter und nicht gewalttätiger Mensch sich in einer für ihn undurchschaubaren Justizmaschinerie verstrickt und beinahe für den Rest seines Lebens versorgt wird.

Die Verwahrung

Nach dem Brand verurteilt ihn das Richteramt Solothurn-Lebern zu einer Gefängnisstrafe von vierzehn Monaten, ordnet aber gleichzeitig eine Massnahme an. Zaugg kommt also in die sogenannte kleine Verwahrung und soll therapiert werden.

Vier Jahre später will ihn dasselbe Gericht nachträglich richtig verwahren, weil er inzwischen als untherapierbar gilt (vgl. «Kleine und normale Verwahrung» im Anschluss an diesen Text). Damit hat Zaugg sicher nicht gerechnet. Er wollte ja nur Aufmerksamkeit, doch nun droht ihm die Verwahrung. Sein Anwalt rekurriert dagegen, Zaugg bekommt vor Obergericht recht. Im Sommer 2016 ordnet es seine Freilassung an, gewährt den Behörden aber sieben Tage Zeit, um Zaugg «Gelegenheit zu geben, sich um seine Freilassung, insbesondere um eine Wohnsituation, zu kümmern».

Doch daraus wird nichts. Die Oberstaatsanwaltschaft wehrt sich gegen die Freilassung, weil sie ihn aufgrund der psychiatrischen Gutachten für gefährlich hält. Sie erwirkt eine superprovisorische Verfügung. Das Bundesgericht heisst diese gut. Zaugg muss vorläufig noch drinnen bleiben. Im Oktober 2016 entscheidet dann aber das Bundesgericht zu seinen Gunsten. Wieder erhalten die Behörden eine Frist von sieben Tagen, um ihn freizulassen. Er sollte spätestens am 10. Oktober 2016 frei sein.

Doch auch daraus wird nichts. Die Staatsanwaltschaft interveniert erneut. Diesmal gelangt sie an die Solothurner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) und wünscht eine «fürsorgerische Unterbringung». Das hätte wohl eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik bedeutet. Zaugg wehrt sich auch dagegen und gelangt ans Verwaltungsgericht.

In seiner Verzweiflung steckt er am 19. Oktober seine Zelle in Brand. Sechs Tage später entscheidet das Verwaltungsgericht, dass er sofort zu entlassen sei. Was dann am 25. Oktober auch geschieht. Man teilt Zaugg mit, er werde in einer Stunde entlassen. Nichts von sorgsamer Vorbereitung auf die Freiheit.

Ein «Blick»-Reporter steht vor dem Gefängnistor, als Zaugg rauskommt, schiesst Fotos und titelt: «Hier fährt Zaugg in die Freiheit!» Damit habe wohl niemand gerechnet, nicht einmal Zaugg selber. Dieser könne nur hoffen, dass die Kesb den Entscheid nicht vor Bundesgericht zieht – oder die Staatsanwaltschaft ihn verhaften lasse: «Weil er letzte Woche mit einem Wasserkocher seine Zelle anzündete, läuft ein neues Verfahren.» Die ganze Schweiz bekommt vom «Blick» suggeriert: Hier wird gerade ein unberechenbarer Irrer entlassen.

Zaugg ist ein ausgeprägt höflicher Mann und stets sorgfältig gekleidet. Der bald 67-Jährige nimmt es erstaunlich gelassen, dass der «Blick» ihn immer wieder an den Pranger stellt. Dagegen könne er nichts tun, also bringe es auch nichts, sich aufzuregen.

Ein bisschen scheint ihm die Publizität auch zu gefallen. Zaugg ist erpicht, seine Geschichte zu erzählen. Er will namentlich genannt werden, legt alle Akten offen, die vierzehn Ordner füllen, und ist sofort bereit, eine Vollmacht auszustellen, damit sämtliche Behörden, PsychiaterInnen und Angehörige über ihn reden dürfen. Es sei vorweggenommen: Die Behörden reden «aus Datenschutzgründen» trotzdem nicht.

Die Lebensgeschichte

Andres Zaugg kommt im September 1949 als fünftes Kind zur Welt. Seine Eltern lassen sich kurz danach scheiden. Seine Mutter heiratet wieder, zieht mit ihren fünf Kindern nach Aarburg. Zaugg bekommt noch zwei Halbschwestern. Er sagt, er habe eine schöne Kindheit gehabt. Er sei allerdings ein Legastheniker gewesen, was ihm in der Schule Schwierigkeiten bereitet habe.

Zaugg lernt Elektriker, absolviert die Rekrutenschule und fährt danach drei Jahre zur See. Zurück in der Schweiz, verweigert er dann im dritten Wiederholungskurs den Militärdienst und lässt sich via Psychiater ausmustern. Er habe schon immer seine Meinung und die Wahrheit gesagt, berichtet er. Das habe im Militär nicht allen gepasst. Ein Feldprediger habe zu ihm gesagt, er sei offenbar ein Kommunist. Aber er war doch nur ein überzeugter Atheist, was nicht gut ankam.

In einem Lebenslauf, den er Jahre später verfasst, schreibt Zaugg: «Ich liess den Kommandanten wissen, dass ich nicht zu einer Organisation gehören wolle, welche mit Richtern operiere, die in eigener Sache urteilen. (…) Und dass ich im Wasserfahrerzug der Einzige war, der eine Ahnung von Rettungsschwimmen habe, zeuge doch von Mangel an Vernunft in diesem Verein.» Da schimmert etwas durch, was ihn ein Leben lang begleitet: Er hält es nicht aus, wenn es nach Klüngelei, Unrecht und Unvernunft aussieht. Diplomatie ist ihm so fremd wie der Glaube an Gott.

Nach der Seefahrerzeit arbeitet Zaugg einige Jahre als Betriebselektriker und macht sich danach als Filmtechniker selbstständig. Er ist ein begnadeter Bastler und Erfinder, das kommt ihm im Filmbusiness zupass. Er sorgt in bekannten Filmen für die pyrotechnischen Effekte, so auch in «Das Boot ist voll» von Markus Imhof. Für Xavier Koller, der einmal einen Oscar gewonnen hat, lässt es Zaugg schneien. Es sei die erste Schneemaschine gewesen, die biologisch abbaubaren künstlichen Schaum produzierte, sagt er. Seine Erfindungen bringen ihm auch Ruhm ein. An der Erfinderschau der Mustermesse Basel holt er regelmässig Medaillen. 1984 gewinnt er eine Goldmedaille, die Auszeichnung «Beste Erfindung» sowie den «Grossen Erfinderpreis», und zwar für das Anza-Aggregat, das Druck in Drehung umwandelt respektive umgekehrt. Zu Zauggs Erfindungen gehören auch ein kippstabiles Dreiradfahrzeug, das sich wie ein Motorrad in die Kurven legen lässt, oder ein motorloses, flossengetriebenes Rettungsboot.

Eine seiner liebsten Erfindungen ist der «Tolerant» – ein geometrischer Körper, der je nach Blickwinkel unterschiedlich wahrgenommen wird. Zaugg hat dazu eine Geschichte entwickelt: Wenn der «Tolerant» wie der Mond am Himmel stünde, würde man ihn in China als Kreis sehen, in Ägypten als Dreieck, in Osteuropa als Quadrat und in Afghanistan als Herz. Zaugg ist überzeugt, damit liesse sich Toleranz lehren: «Was wirtschaftlichen, politischen und religiösen Führern schwerfällt zu verstehen, können mit dem ‹Toleranten› selbst Schulkinder ohne weiteres im wahrsten Sinn des Wortes begreifen.»

Der «Tolerant» wird zu seiner Mission. Immer und immer wieder kommt er darauf zu sprechen.

Der Ausnahmezustand

In den neunziger Jahren hält der Computer Einzug, die RegisseurInnen lassen die Spezialeffekte immer häufiger digital animieren, reale Tricks sind nicht mehr gefragt, Zaugg findet als Filmtechniker immer seltener Arbeit.
Während mehrerer Jahre sitzt er für die SP in Aarburg im Einwohnerrat. Das scheint lange gut zu gehen, doch irgendwann eckt Zaugg an. Es gibt Streit, Zaugg zieht auch aus beruflichen Gründen ins Tessin.

Kurz darauf lernt er die Chinesin Jin Q. kennen. Die beiden verlieben sich. Als sie zurück nach China muss, verkauft er sein Haus und geht mit ihr. Die beiden heiraten, können in China aber nicht Fuss fassen und kehren in die Schweiz zurück. An diesem Punkt beginnt eine Geschichte zu drehen, die nicht einfach zu rekonstruieren ist. Es geht um einen Mann, der Zauggs ehemalige Freundin stalken soll. Zaugg setzt sich für seine Exfreundin ein, die Auseinandersetzung eskaliert. Zaugg fühlt sich als hilfloses Opfer eines Justizskandals – aufgerieben zwischen Polizei und korrupten Anwälten. Die Geschichte macht ihn fertig, sukzessive gerät er in einen Ausnahmezustand. Er findet keine feste Anstellung mehr.

Seine Frau hat zwar einen Job und hält zu ihm, kann ihm aber nicht wirklich beistehen. Sie habe unter der Situation sehr gelitten, sagt Zaugg heute. Sie selber will sich zur ganzen Geschichte nicht äussern. Die beiden sind inzwischen geschieden, haben aber immer noch ein gutes Verhältnis.

In seinem Lebenslauf schreibt er später über jene Zeit: «Für mich wurde klar, dass ich mit unseren Rechtsmitteln ohne Anwalt keine Chance habe, aus diesem Strudel herauszukommen. Ich war hart an der Grenze des Wahnsinns.» Einige Absätze später schreibt er: «Ich weiss nun, wie ein unglaublicher Hass auf Juristen und Politiker entsteht; welch hilflose, unschuldige Menschen Opfer von so widerlichen Typen wie B. (der angebliche Stalker, Anm. d. Red.) und seinen Anwälten geworden sind.» Er sei erschrocken, als er realisiert habe, «dass ich auf das Niveau von Fritz Leibacher, dem Attentäter von Zug, gesunken bin. Nun weiss ich also sehr genau, wie man Menschen in eine solche Schieflage bringt.»

Die Entgleisungsaktion

Er will etwas tun, aufrütteln und allen erklären, dass die Welt Opfer eines korrupten Justizsystems und der Religion ist, die nur benutzt würde, um Menschen zu manipulieren.

Im März 2009 schweisst Zaugg Eisengestänge zusammen und legt sie in Olten hinter einer Kurve, wo die Züge langsam fahren, auf die Schienen. Er, der Maschinen besser versteht als Menschen, weiss, was er tut: Er will erschrecken, aber er will nicht, dass der Zug wirklich entgleist. Nach der Aktion geht er selber zur Polizei und stellt sich. Heute sagt er: «Ich habe gehofft, mit dieser Tat Aufmerksamkeit zu erlangen, und glaubte, dass der Gerichtsprozess die ideale Bühne wäre, um meinem damaligen Unmut Luft zu machen.» Doch er bekommt den Auftritt nicht. Es gibt keinen Prozess, weil die Staatsanwaltschaft den Fall per Strafverfügung erledigt.

Ein Jahr später heckt er die nächste Aktion aus. Er bastelt sich eine «Gotteswahn-Kampfweste», eine «GWKW», wie er es nennt. Er nimmt eine Schwimmweste, steckt vier kleine PET-Flaschen hinein und verbindet sie mit Schnüren. Es soll aussehen wie eine Sprengstoffweste.

An einem Tag im Juli nimmt er den Zug Richtung Bellinzona. Als er in den Gotthardtunnel einfährt, begibt Zaugg sich in den vordersten Wagen, zieht die GWKW über, stellt sich in den Gang und sagt deutlich: «In fünf Minuten zünde ich.» Nach seiner eigenen Beschreibung sitzen zu jenem Zeitpunkt nur drei Leute im Waggon. Eine Frau liest in einem Buch und nimmt ihn nicht zur Kenntnis. Ein Mann steht auf und sagt erschrocken: «Das dürfen Sie nicht machen, dann sind wir alle tot!» Als die Dame bemerkt, was abläuft, greift sie ihr Gepäck und verlässt schleunigst den Wagen. Binnen Sekunden sei der Waggon leer gewesen, erzählt Zaugg. Er zieht die Weste aus, packt sie in die Tasche und setzt sich wieder hin. In Airolo steigt er aus, trinkt einen Kaffee und wartet, dass etwas passiert. Doch es passiert nichts, keine Polizei, kein Aufruhr. Er fährt zurück und rapportiert seine Aktion mit Foto dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, der SBB sowie der Solothurner Staatsanwaltschaft.

Allerdings hat ihn das Solothurner Amt für Soziales auf dem Radar. Im Herbst 2010 lässt es ihn von einem renommierten Gerichtspsychiater begutachten. Zaugg erzählt ihm arglos, was ihn beschäftigt, dass die Religion für das Übel auf der Welt verantwortlich sei und gierige Anwälte die Justiz korrumpierten. Er redet zweimal zwei Stunden mit dem Psychiater, hört dann aber monatelang nichts mehr vom Gutachten.

Die Brandstiftung

Anfang 2011 beschliesst Zaugg, etwas zu inszenieren, das ihm endlich die erwünschte Aufmerksamkeit bescheren soll. Er wählt die St.-Ursen-Kathedrale in Solothurn, den Sitz des Basler Bischofs. Mitte Januar soll darin der neue Bischof geweiht werden.

Er kauft zwei Kanister Benzin, geht vor zehn Uhr in die Kirche. Nur eine alte Frau betet. Er wartet, bis sie die Kirche verlassen hat und vergewissert sich, dass sich niemand in den Beichtstühlen aufhält. Dann öffnet er die beiden Kanister und legt sie vor dem Altar auf den Teppich, damit das Benzin auslaufen kann. Er sagt, er sei davon ausgegangen, dass die Benzindämpfe sich an den brennenden Kerzen selbst entzünden würden. Danach, sagt er, sei er vor die Türe gegangen, um sicherzustellen, dass keiner die Kirche betrete. Derweil der Sakristan von der anderen Seite die Kirche betritt, um einen Kontrollgang zu machen. Er entdeckt die Kanister mit dem auslaufenden Benzin und stellt sie auf. Dann verlässt er die Kirche durch die Türe, vor der Zaugg steht.

Die beiden wechseln ein paar Worte. Später sagt der Sakristan, er habe geglaubt, Zaugg sei ein Tourist, der die Kirche besuchen wollte. Er warnt ihn noch, er solle wegen der Benzindämpfe nicht hineingehen.

Der Sakristan alarmiert den Kirchenverwalter und die Polizei. In dieser Zeit geht Zaugg erneut in die Kirche, schüttet das restliche Benzin auf den Teppich vor dem Alter, nimmt eine Kerze und zündet das Benzin an. Zaugg geht wieder raus und wartet, bis die Polizei kommt und ihn verhaftet.

Auf Fotos sieht man, dass es nur sehr lokal gebrannt hat. Selbst die Sessel, die rechts und links hinter dem Altar stehen, sind unversehrt. Trotzdem wird ein Schaden von rund drei Millionen angerichtet. «Durch das Schadenfeuer kam es zu einer massiven Rauchentwicklung, welche zu grossflächigen enormen Russ- und Rauchgaspartikelablagerungen im gesamten Gebäude und Einrichtungen führten», ist im Polizeirapport zu lesen.

Das Gutachten

Im Herbst 2011 steht Andres Zaugg dann vor Gericht. Das Richteramt Solothurn-Lebern verurteilt ihn wegen Drohung, Brandstiftung, mehrfach versuchter Störung des Bahnverkehrs und Schreckung der Bevölkerung zu den bereits erwähnten vierzehn Monaten Gefängnis und der Massnahme. Man attestiert ihm eine verminderte Zurechnungsfähigkeit.

Das Urteil hält fest: Der Beschuldigte habe seinen glaubhaften und nicht zu widerlegenden Angaben zufolge nie die Absicht gehabt, Menschen zu gefährden. Er habe bei seiner Brandlegung davon ausgehen können, dass keine Personen einer Gefahr ausgesetzt würden. Bezüglich der Entgleisung konstatiert das Gericht, dass durch die Aktion niemand bedroht wurde. Es stellt sogar fest, «die Tat sei an der Grenze zum untauglichen Versuch».

Aus dem Urteil geht klar hervor: Zaugg mag sehr sonderbar sein – gefährlich gegenüber Menschen ist er nicht. Verheerend ist jedoch das Gerichtsgutachten. Es wird von demselben Gerichtspsychiater erstellt, der schon vor der Brandstiftung begonnen hatte, Zaugg zu begutachten. Beim ersten Gespräch muss Zaugg auf ihn verschroben, aber nett und harmlos gewirkt haben. Nach dem Brand interpretiert der Gutachter alles, was Zaugg sagt, in einem völlig neuen Licht und diagnostiziert eine «paranoide Persönlichkeitsstörung». Wenn Zaugg äussert, er könne Leibacher, den Attentäter von Zug, verstehen, interpretiert das der Gutachter als schlummernde Gewalt. Er schildert Zaugg als Menschen, der sich immer mehr in einem paranoiden Wahn verrennt und irgendwann auch zu einer schlimmen Tat mit vielen Toten bereit sein könnte. Liest man das Gutachten, spürt man, dass der Psychiater fürchtet, eine lebende Zeitbombe vor sich zu haben.

Die nächsten Jahre verbringt Zaugg in verschiedenen Anstalten. Eigentlich wird ihm überall attestiert, dass er ordentlich, nett und umgänglich sei und es auch gut mit anderen Gefangenen könne. Zwischendurch opponiert er gegen das Haftregime und verweigert etwa eine Körperkontrolle, die er für erniedrigend hält, was ihm Verlegung und Haftverschärfung einbringt.

Als Zaugg die Verwahrung droht, empfiehlt ihm ein Anwalt, sich an Valentin Landmann zu wenden. Der berühmte Zürcher Verteidiger, der sich keinen publizitätsträchtigen Fall entgehen lässt, übernimmt den Fall.

Sein Plädoyer im Sommer 2016 vor dem Solothurner Obergericht ist konzis. Auf den Vorwurf, Zaugg sei nicht zu therapieren, kontert er: «Dies erstaunt wenig. Man hatte versucht, den Beschwerdegegner von seinen weltanschaulichen Überzeugungen (die so wahnhaft gar nicht sind) abzubringen. Gemäss modernen Therapieansätzen wäre statt der angeblichen Störung jedoch vielmehr sein Umgang damit zu thematisieren und zu therapieren gewesen. Dies ist versäumt worden. Die Verantwortung für den Abbruch der Therapie kann somit nicht dem Beschwerdegegner zugeschoben werden.» Zaugg habe im Verlauf des Freiheitsentzugs nun aber selber einen sinnvollen Umgang mit seinen starken Überzeugungen gefunden, fährt Landmann fort: «Selbstverständlich ist der Beschwerdegegner nach wie vor von seiner Weltanschauung überzeugt, was er aber auch sein darf.»

Dann legt er noch dar, weshalb Zauggs Taten rein juristisch betrachtet gar nicht geeignet seien, um ihn nachträglich zu verwahren – dazu müsste der Täter nämlich eine Tat begangen haben, durch die «die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigt worden ist». Was Zaugg nun definitiv nicht getan hat. Die Gerichte folgen Landmanns Argumentation.

Zaugg nimmt das jedoch nicht so wahr. Er ist überzeugt, dass er vor allem freigekommen ist, weil Kuno W. sich vor dem Prozess vor Obergericht so sehr für ihn eingesetzt habe. Die beiden hatten sich früher nicht gekannt. Doch als Kuno W. von Zauggs Geschichte hört, solidarisiert er sich mit ihm und seinen Anliegen, besucht ihn im Gefängnis und demonstriert für seine Freilassung.

Die «Solothurner Zeitung» beschreibt W. als stadtbekannten Querulanten, dessen Wohnung zwangsgeräumt worden sei. Er tritt offenbar gerne in Armeeuniform auf und liebt Waffen.

An jenem besagten Tag will Kuno W. als Zuschauer an Zauggs Prozess teilnehmen. Doch kommt es noch vor Prozessbeginn zu einer Auseinandersetzung mit dem Gerichtsschreiber. W. schlägt ihn und beisst den Oberrichter. Beide müssen ins Spital, Zauggs Gerichtstermin muss verschoben werden. Kuno W. sitzt seither in Untersuchungshaft.

Zaugg sagt, er könne das, was Kuno W. getan habe, überhaupt nicht gutheissen, aber er verstehe ihn. Und bittet darum, das Kuno W. erwähnt wird.

Die Freiheit

Seit fünf Monaten ist Zaugg nun frei. Anfänglich kommt er beim Sohn seiner Exfrau unter. Inzwischen lebt er in Rothrist, wo ihm ein Bekannter eine Einzimmerwohnung zur Verfügung stellt. Rothrist ist ein kleines Dorf, man weiss, wer Andres Zaugg ist.

Der Bekannte, ein Bauarbeiter, sagt, er habe keine negative Reaktion gehört. «Andi hat eine Vision – er will die Bevölkerung aufklären. Wenn man die Weltlage anschaut, hat er doch gar nicht so unrecht, wenn er sagt, dass wir auf eine grössere Katastrophe zulaufen und die Religion benutzt wird, um die Konflikte anzuheizen», sagt er nüchtern.

Er finde es skandalös, dass die Kesb Solothurn sich über das Bundesgerichtsurteil hinweggesetzt und Andi nicht habe freilassen wollen. Auch dass man Zaugg ohne Vorbereitung und Unterstützung aus dem Gefängnis entlassen habe, sei doch nicht richtig. «Jetzt bin halt ich dein Bewährungshelfer», sagt er zu Zaugg und lacht freundschaftlich. Er wolle Zaugg einfach die Möglichkeit geben, alles aufzuarbeiten und wieder Boden unter den Füssen zu bekommen.

Die Diagnose

Und dann gibt es noch Zauggs Bruder Bernhard. Er ist eineinhalb Jahre älter als Andres. Früher war er in Basel Sekundarlehrer, nach seiner Pensionierung zog er nach Dresden.

Er sagt, sein jüngerer Bruder habe schon immer in einer eigenen Welt gelebt. Heute ist Bernhard Zaugg überzeugt, dass sein Bruder unter dem Asperger-Syndrom leidet, einer milden Form von Autismus. Menschen mit diesem Syndrom sind oft klug, haben aber Schwierigkeiten, die Mimik und Gestik des Gegenübers richtig zu lesen.

Geht man die klassischen Asperger-Symptome durch, glaubt man tatsächlich, Andres Zaugg vor sich zu sehen: Oft sprechen AspergerInnen monoton, und es lässt sich nicht heraushören, ob sie etwas ernst oder humorvoll meinen; sie nehmen bildhafte Redewendungen absolut wörtlich und halten an Formulierungen fest, die wie auswendig gelernt oder wie aus einem Buch vorgetragen klingen; sie hören ungenau zu und sind nicht in der Lage, feine Nuancen, Ironie oder einen neckischen Spruch zu verstehen.

Gleichzeitig verfügen viele AspergerInnen über Inselbegabungen: Sie können Dinge, die gewöhnliche Menschen nicht können. Zaugg zum Beispiel begreift die Logik von Maschinen intuitiv. Sein Pech ist nur, dass Menschen nicht so logisch sind wie Maschinen.

Bernhard Zaugg sagt, er könne nicht verstehen, wie PsychiaterInnen Gutachten über seinen Bruder hätten schreiben können, ohne dass ihnen die Asperger-Symptome aufgefallen seien. Er könne auch nicht verstehen, weshalb die GutachterInnen, aber auch die Kesb nie mit den Angehörigen gesprochen hätten.

Sein Bruder wolle das mit dem Asperger nicht wahrhaben: «Er will sich als Prophet sehen. Aber eigentlich hat er gar keine Botschaft.»

Könnte Andreas Zaugg gewalttätig werden? «Nein, das ganz sicher nicht! Davon bin ich fest überzeugt», sagt Bernhard Zaugg. «Er interpretiert einfach die Welt anders. Und Leute mit Asperger sind eigentlich nie gewalttätig.»

Wenn Bernhard Zauggs Wahrnehmung stimmt, ist den GerichtspsychiaterInnen ein fundamentaler Fehler unterlaufen.

Der Forensiker, der das erste Gutachten verfasst hat, liess ausrichten, er könne dazu nichts sagen, da das Gericht das Gutachten in Auftrag gegeben habe. Deshalb könne ihn nicht Zaugg, sondern nur das Gericht von der Schweigepflicht entbinden.

Es wäre interessant gewesen, mit dem Forensiker über das Gutachten zu reden. Doch wie immer in solchen Fällen sind die Gutachten heute Blackboxes: Man weiss nicht, unter welchen Umständen sie zustande gekommen sind. Das liesse sich nur ändern, wenn die AnwältInnen bei der psychiatrischen Beurteilung dabei sein dürften oder mindestens die Sitzungen aufgezeichnet würden. Mehr Transparenz wäre für alle Beteiligten hilfreich. Es würde die GutachterInnen schützen – vor allem aber auch die Begutachteten, bei denen es um das wichtigste Rechtsgut geht: ihre Freiheit.

Weitere Texte zum Thema Verwahrung finden Sie im Dossier unter www.woz.ch/d/verwahrung.

Kleine und normale Verwahrung

Es existieren unterschiedliche Formen von Verwahrung:

Artikel 59 StGB wird gerne als «kleine Verwahrung» bezeichnet. Sie wird verhängt, wenn das Gericht StraftäterInnen für psychisch gestört, aber therapierbar hält. Es ordnet anstelle der Strafe, die relativ gering sein kann, eine «stationäre Massnahme» an, die in einem spezialisierten, offenen Massnahmenzentrum oder der Psychiatrie vollzogen wird. Sie muss alle fünf Jahre verlängert werden, was aber unbeschränkt geschehen kann.

Artikel 64 Strafgesetzbuch (StGB) regelt die eigentliche Verwahrung. Das Gericht verhängt sie, wenn es davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit vor einer Person geschützt werden muss, weil diese als gefährlich respektive psychisch gestört und nicht therapierbar eingeschätzt wird. Die verwahrten TäterInnen sind für gewöhnlich in einer geschlossenen Strafanstalt untergebracht.

Nachtrag vom 27. Juni 2019 : Überraschender Freispruch

Mitte Juni fällte das Amtsgericht Gösgen-Olten ein erstaunliches Urteil: Es sprach Andres Zaugg frei, der erneut wegen Brandstiftung vor Gericht gestanden hatte. Zaugg hatte 2011 in der Kathedrale in Solothurn einen Brand gelegt. Er hatte das aber bewusst so gemacht, dass niemand gefährdet wurde – was das Gericht auch anerkannte. Für ihn war die Brandstiftung ein politischer Akt, er wollte gegen «den herrschenden christlichen Filz» protestieren.

Das Gericht verurteilte ihn erstinstanzlich zu vierzehn Monaten Haft und einer sogenannten Massnahme. Da er im Gefängnis nicht kooperierte, drohte ihm eine unbefristete Verwahrung. Sein Anwalt ging bis vor Bundesgericht und bekam im Sommer 2016 recht. Zaugg sollte entlassen werden. Doch nichts passierte. Am 10. Oktober 2016 ordnete das Bundesgericht erneut Zauggs unverzügliche Freilassung an. Wieder geschah nichts. In seiner Verzweiflung steckte er neun Tage später mit einem Wasserkocher, einer Decke und Zeitungspapier seine Zelle in Brand. Eine Woche später kam er endlich frei.

Wegen des Zellenbrands wurde er in erster Instanz schuldig gesprochen und sollte für den Schaden und die Verfahrenskosten aufkommen – insgesamt über 12 000 Franken. Das Amtsgericht hingegen stellte fest, objektiv habe zwar «keine rechtfertigende Notstandssituation vorgelegen, subjektiv dagegen schon». Damit entfällt der Vorsatz. Fahrlässige Sachbeschädigung ist nicht strafbar. Zaugg muss nur für die verbrannte Decke, den Wasserkocher und den Neuanstrich der Wand im Wert von 1800 Franken aufkommen.

Susan Boos

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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