Bildpolitik in Guantánamo: Welche Farben hat Orange?

Nr. 16 –

Willkommen im Camp America! Die US-Fotografin Debi Cornwall macht in ihren Guantánamo-Bildern deutlich, wie sehr unser Blick durch die Armee gesteuert ist. Jetzt ist ihre bestechende Arbeit in Genf zu sehen.

Andere Gesichter dürfen in Guantánamo nicht fotografiert werden: «Kiddie Pool» (2015) von Debi Cornwall. Foto: © Debi Cornwall

Wer an Guantánamo denkt, sieht Orange. Orange wurde zur Chiffre für gefesselte Gefangene, Häftlingsbekleidung und verdeckte Gesichter im US-Internierungslager in Kuba, in dem sich immer noch 41 Insassen befinden. Die juristischen Voraussetzungen für dieses Rechtsloch waren im Jahr 1903 im wohl berühmtesten Landpachtvertrag der Weltgeschichte geschaffen worden. Die USA und Kuba hatten in diesem Leasingvertrag festgehalten, dass das Gebiet des US-Marinestützpunkts an der Guantánamo Bay eingezäunt würde und die USA einen jährlichen Pachtzins von 2000 Dollar in Goldmünzen an Kuba zu bezahlen hätten. Zwar wurde im Vertrag dem kubanischen Staat die Souveränität über Guantánamo Bay zugesprochen, gleichzeitig erhielten die USA aber die Jurisdiktion, das heisst die Vollmacht über das Recht.

Regeln der Sichtbarkeit

Dieser Leasingvertrag schuf jenen exterritorialen Raum, auf den Donald Rumsfelds Department of Defense ein Jahrhundert später zurückgreifen konnte. Am 27. Dezember 2001 teilte der damalige US-Verteidigungsminister mit, dass die Armeebasis in Guantánamo, die im Jargon der Navy schon lange zum Kürzel GTMO geschrumpft war, künftig als Lager für etwa 750 mutmassliche Al-Kaida-Kämpfer dienen werde. Das US-Verteidigungsministerium verfolgte das Kalkül, dass das Territorium gemäss Pachtvertrag unter kubanische Souveränität falle und so ausserhalb der Gerichtsbarkeit der USA stehe. Die Internierten konnten in einer rechtlichen Zwischenzone ausserhalb der Reichweite eines Kriegsgerichts festgehalten werden.

Im Centre de la photographie in Genf sind jetzt GTMO-Fotografien von Debi Cornwall zu sehen, die der Chiffre Orange neue Bilder entgegensetzen. Cornwall hatte zwölf Jahre als Bürgerrechtsanwältin gearbeitet, ehe sie mit ihrer Kamera 2014 und 2015 dreimal nach Guantánamo reiste. Ins Zentrum ihrer Arbeit stellt die US-Fotografin die Regeln der Sichtbarkeit, die in diesem exterritorialen Raum herrschen – einem Raum, den Rumsfeld 2001 als «the least worst place we could have selected» bezeichnet hatte, den «am wenigsten schlimmsten Ort, den wir aussuchen konnten».

Ähnlich wie der Pachtvertrag von 1903 die Exterritorialität von Guantánamo festgeschrieben hatte, schufen nämlich die 2010 erlassenen und 2014 ergänzten Medienreglemente des Verteidigungsministeriums eine strikte Bildpolitik, die explizit als Transparenz verkauft wird: Jegliche Kommunikation mit Gefangenen ist den Medienschaffenden verboten, ebenso frontale Gesichtsbilder, Dreiviertelaufnahmen oder andere Preisgaben der Identität der Gefangenen. Auch das Navy-Personal muss anonym bleiben. Aufnahmen des Sicherheitsdispositivs – Kameras, Metalldetektoren, Schlösser, Schlüssel, Türen, Tore – sind ebenfalls nicht gestattet. Sämtliche Fotos unterliegen einem aufwendigen Überprüfungsverfahren, beanstandete Bilder werden von den Speicherkarten der Kameras entfernt und auf einem Rechner der Regierung gespeichert. Diese Zensurmassnahmen sind auf die Digitalfotografie mit integrierter Löschfunktion ausgerichtet. Cornwall erhielt die Erlaubnis, mit analogem Material zu arbeiten, nachdem sie eingewilligt hatte, im Lager ein mobiles Fotostudio zu installieren und die Bilder vor den Augen der Sicherheitsbeamten in einer Badewanne zu entwickeln.

Schlicht genial ist, wie es der Fotografin gelingt, die Regeln dieser US-Bildpolitik sichtbar zu machen. Cornwall zeigt GTMO als ein von Navy-Angehörigen, ihren Familien und den Gefangenen bewohntes Miniamerika vor tropischer Kulisse. Hinter den Zäunen befinden sich Kinderspielplätze, ein Planschbecken, ein Freilichtkino, ein Baseballfeld, ein Golfplatz mit vertrocknetem Rasen und liegen gebliebenen Bällen, eine Kegelbahn, eine Shoppinginfrastruktur mit Einkaufswagenkolonnen und einem breiten Souvenirangebot.

Cornwall setzt die materielle Kultur der Gefangenenanlage mit der Dingwelt der Navy in Beziehung. Ihre Fotografien sind das Ergebnis eines dokumentarischen Blicks durch ein juristisch geschultes Auge, der nicht primär Realität abbildet, sondern das Machtgefüge, das bei der Schaffung der Realität beteiligt ist, genau beobachtet.

Mehrere Fotos in der Ausstellung dokumentieren auch behördliche Eingriffe: Man sieht Cornwall in Flip-Flops mit Chemikalien hantierend über eine Badewanne gebeugt. Wer genau hinschaut, entdeckt auf dem Foto einer Tischuhr eine fehlende Stelle in Form eines winzigen Dreiecks, das mit einem Japanmesser herausgeschnitten wurde – ein Name auf der Uhr hätte Hinweise auf die Identität eines Soldaten geben können. Dieser Schnitt dokumentiert das Auslöschen jeglicher Identität in GTMO. Die BewacherInnen sind davon ebenso betroffen wie die Gefangenen. Besonders augenscheinlich wird das Fehlen von Gesichtern, wenn in der Ausstellung plötzlich doch eines auftaucht. Es ist nicht das Gesicht eines Menschen, sondern das Antlitz einer disneyartigen Figur im Planschbecken, vor einem gespenstischen Hintergrund mit Liegestühlen, einem Gitterzaun und Palmen am Horizont: In GTMO scheint immer Zwischensaison zu sein.

Entrückte Kulissen in Blau

Die Aussenwelt des tropischen Aussenpostens der USA in Kuba erscheint in den Fotos als unerreichbare und entrückte Kulisse in tiefstem glitzerndem Blau, die dann besonders unheimlich wirkt, wenn sie auf einem Poster im Schlafzimmer der Bewacher als Leuchtturm vor kitschig feuerrotem Himmel erscheint. Der exterritoriale Raum kennt kein Aussen, sondern muss sich selbst genügen. Die billige Reproduktion der kubanischen Lagerkulissen als Wanddekoration erinnert an Touristenfotos, aber noch viel mehr an die Dioramen in den Naturmuseen oder an die Kulissen eines Dorftheaters. Guantánamo ist auch im 21. Jahrhundert noch damit beschäftigt, einen Zustand herzustellen, der bereits 1903 rechtlich festgeschrieben worden war. Der natürliche Hafen, der Seefahrern und Kolonialmächten während Jahrhunderten als Schutz vor Witterung und als strategischer Stützpunkt gedient hatte, muss nun den USA Schutz vor Rechtsforderungen der Gefangenen bieten.

Auch Porträts von ehemaligen Gefangenen, die GTMO verlassen konnten, hat Cornwall in ihre Dokumentation integriert. Ihre Porträts von freigelassenen Häftlingen folgen denselben Sichtbarkeitsregeln, die auch in Guantánamo geherrscht hatten. Keine Gesichter! Die Fotosession wird zum Reenactment des alten GTMO-Settings vor neuen Kulissen: Ein Uigure, der sich vor einer albanischen Trutzburg in Tirana von hinten fotografieren lässt, betont diese Unfreiheit in der Freiheit. Cornwall hat diese Porträts der Freigelassenen als lose Seiten in den gebundenen Katalog hineingelegt – eine eindrückliche Geste, die uns auch zu Hause nicht zur Ruhe kommen lässt: Ist es doch wahrscheinlicher, dass diese Seiten beim Blättern aus dem Buch herausfallen, als dass die ehemaligen Gefangenen den Rahmen von GTMO je ganz verlassen können.

Mahnmahl für verbotene Bilder

Schlicht beklemmend sind jene Aufnahmen der Infrastruktur des Verteidigungsministeriums, die an die Bilder erinnern, die wir nicht sehen dürfen. Ein Foto zeigt nummerierte Zellen, im Vordergrund ein leerer Stuhl für die Zwangsernährung jener Gefangenen, die zur einzigen Waffe greifen, die ihnen noch zur Verfügung steht: dem Hungerstreik. Im März 2017 hat ein Bundesgericht abgelehnt, jene 28 Videobänder, die von den Behörden routinemässig hergestellt wurden und die Zwangsernährung von Gefangenen zeigen, für die Öffentlichkeit freizugeben. 2013, kurz nach Beginn der zweiten Amtszeit von Barack Obama, jenem Präsidenten also, der im Wahlkampf die Schliessung von GTMO versprochen hatte, waren Gefangene in den Hungerstreik getreten. Cornwalls Fotografien stehen also stellvertretend für jene Bilder, die der Öffentlichkeit durch ein US-Gericht erst kürzlich entzogen worden sind. In der Ausstellung dienen sie als Mahnmal: als stummes Zeugnis im Dienst einer Herstellung von Evidenz, die den Weg an die Öffentlichkeit sucht, weil der Gang vor Gericht erfolglos geblieben ist.

Die juristischen Auseinandersetzungen um die grossen Folgen des kleinen Leasingvertrags sind noch nicht abgeschlossen. Debi Cornwall folgt nicht einem naiven Dokumentarismus, der vorgibt, die Welt von GTMO mit den Mitteln der Fotografie aufzudecken, sondern einem Dokumentarismus in Anführungszeichen: Er erinnert uns daran, dass die Bilder, die wir von Guantánamo kennen, selbst das Ergebnis des Machtdispositivs von Guantánamo sind.

«Welcome to Camp America» in: Genf, Centre de la photographie. Bis 14. Mai 2017. www.centrephotogeneve.ch. Zur Ausstellung wird ein gleichnamiges Buch erscheinen.

Monika Dommann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Uni Zürich.