Neuwahlen in Britannien: Eine Chance für die Vernünftigen

Nr. 16 –

Einer der entscheidenden Gründe, weshalb sich Theresa May entschlossen hat, am 8. Juni Neuwahlen abzuhalten, lässt sich an einer Zahl ablesen: zwanzig Prozent. So viel liegt die Labour-Partei laut jüngsten Umfragen hinter den Konservativen zurück – schlechter ist eine Oppositionspartei in Britannien seit über dreissig Jahren nicht mehr dagestanden. Auf den ersten Blick scheint es für Labour wenig Anlass zu Optimismus zu geben – ein so grosser Rückstand lässt sich kaum in fünfzig Tagen wettmachen. Und doch bieten die Neuwahlen auch Chancen für Linke und ProeuropäerInnen.

Die Premierministerin hofft, ihre dünne Mehrheit im Unterhaus kräftig ausbauen zu können. Damit hätte sie freie Hand, um ihre harten Brexit-Pläne ohne grössere Konzessionen an die EU-FreundInnen durchzupauken, und sie könnte ihr Mandat stärken, bevor die ökonomischen Schäden des EU-Austritts unübersehbar werden.

Doch erstens scheint Theresa May den Enthusiasmus der BritInnen für ihre Brexit-Strategie zu überschätzen. Denn in der Frage, in welcher Form der Austritt umgesetzt wird, haben nicht nur die 48 Prozent der BritInnen, die für den Verbleib gestimmt hatten, eine völlig andere Vorstellung als die Regierung, sondern auch viele innerhalb des Brexit-Lagers: Sie versprechen sich von der Abwendung von der Europäischen Union eine wirtschaftliche Verbesserung, etwa durch einen gestärkten Service public. Aber Mays geplanter Ausstieg aus dem Binnenmarkt und die Beschränkung der Einwanderung werden das Gegenteil bewirken – eine Tatsache, die mit jeder Woche offensichtlicher wird.

Zweitens wird sich der Wahlkampf nicht um den Brexit allein drehen, sondern auch um die konservative Politik der vergangenen sieben Jahre. Damit wird die wachsende Ungleichheit zu einem grossen Thema: der Sozialabbau, die Krise im Gesundheitsdienst und die Sparprogramme, die den Ärmsten am meisten zu schaffen machen.

Anders als unter Gordon Brown oder Ed Miliband nimmt Labour unter Jeremy Corbyn zu diesen Fragen eine klare Haltung ein: Sie bietet eine sozialdemokratische Alternative zum Rechtskonservativismus, den die Tories in den vergangenen Monaten vertreten haben. Theresa May kündigte an, dass sie sich während des Wahlkampfs an keiner TV-Debatte beteiligen werde. Dass sie sich vor einem direkten Schlagabtausch mit dem Oppositionsführer drückt, mag ein Hinweis sein, dass sie ihn doch nicht für so harmlos hält, wie sie immer behauptet.