Rasa-Initiative: «Demokratie muss immer neu ausgehandelt werden»

Nr. 18 –

Der Bundesrat verzichtet auf einen Gegenvorschlag zur viel geschmähten Rasa-Initiative. Doch wird sie nicht zurückgezogen, wird das Anliegen bald wieder aktuell. – Mitinitiant Thomas Geiser über seine Motivation, Personenfreizügigkeit und direkte Demokratie.

Nicht wegen 10 000 Menschen in der Sackgasse erstarren: Professor Thomas Geiser.

WOZ: Herr Geiser, Sie gelten als Kopf der Rasa-Initiative, die den Verfassungsartikel zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative der SVP wieder aus der Verfassung kippen will. Wie erlebten Sie den 9. Februar 2014?
Thomas Geiser: Ich war erst einmal konsterniert. Dann begann ich zu überlegen, was man machen müsste – und kam zum Schluss, dass es sich um ein Zufallsresultat handelte.Wenn etwas mehr als 10 000 Menschen anders gestimmt hätten, wäre ein Nein herausgekommen. Solch knappe Resultate sind selten. Ich glaube, dass die Bevölkerung damals die Initiative unterschätzte.

Es dauerte Wochen, bis der Initiativtext stand.
Es gab viele Leute, die weitere Aspekte reinbringen wollten. Flankierende Massnahmen oder einen Europarechtsartikel. Aber bei jedem Zusatz schrien andere wieder auf. Der Vorteil von Rasa ist, dass die Initiative eine einfache Frage stellt: Sie verlangt schlicht noch einmal ein Ja oder Nein zu Artikel 121a.

Die Politik hat Ihr Anliegen wenig ernst genommen.
Die Reaktionen lagen irgendwo zwischen Hysterie und Ignoranz. Initiativen werden ja inzwischen eher als PR-Instrumente der Parteien missbraucht. Hier kam jetzt einmal der ursprüngliche Gedanke zum Tragen: dass eine Bürgerbewegung das Instrument verwendet, weil man nicht im Parlament vertreten ist. Das war nötig, weil die politischen Parteien sowie die klassischen politischen Organisationen in der Frage verbraucht waren. Sie haben sich zwar im Abstimmungskampf eingesetzt, vermutlich aber nicht genug. Deshalb kann man ihnen durchaus vorwerfen, sie hätten das Resultat mitverursacht. Selbstverständlich konnten sie dann nicht mehr sagen: Wir stimmen noch einmal ab.

Die Rasa-Initiative wurde auch als direktdemokratisches Unding abgetan: Demokratische Volksentscheide dürften nicht einfach wieder gekippt werden.
Das ist ein völlig absurdes Argument. Es ist schon x-fach passiert, dass Volksentscheide revidiert wurden. Man denke an das Frauenstimmrecht, über das kantonal und national mehrfach abgestimmt wurde. Wieder aus der Verfassung gekippt hat die Schweiz etwa den Bistumsartikel oder das Absinthverbot. Das Volk hat das urdemokratische Recht, noch einmal über eine Frage abzustimmen.

Das Parlament hat nun aber ein Ausführungsgesetz ausgearbeitet, das die Bilateralen nicht gefährdet. Das Referendum gegen das Gesetz kam nicht zustande. Hat der Bundesrat recht, wenn er sagt, Rasa, oder ein Gegenvorschlag, sei überflüssig geworden?
Die grosse Frage lautet tatsächlich: Kann man die ganze Problematik um den Artikel 121a einfach vergessen, weil das Parlament eine Umsetzungslösung gefunden hat? Bundesrätin Sommaruga hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Widerspruch zwischen Gesetz und Verfassung bestehen bleibt. Das wird dann zum Problem, wenn die SVP auf diesem Widerspruch herumreitet.

Die Auns – und inzwischen ja auch die SVP – kündigt eine Personenfreizügigkeits-Kündigungsinitiative an. Es wird auch ohne Rasa eine Grundsatzabstimmung geben.
Im Moment ist das nicht mehr als heisse Luft. Die Initiative ist weder ergriffen, noch liegt ein Text auf dem Tisch. Ausserdem kann man sich schon fragen: Soll die SVP weiter den Fahrplan bestimmen? Oder sollen das nicht vielleicht andere tun?

Räumen Sie der Rasa-Initiative nach wie vor Chancen ein?
Es gibt Umfragen, die sagen, sie hätte keine Chance. Das ist reines Kaffeesatzlesen. Selbst Umfragen unmittelbar vor Abstimmungen erweisen sich immer wieder als falsch. Das sah man gerade bei der Masseneinwanderungsinitiative.

Kritiker befürchten, ein Nein zu Rasa würde wie eine Durchsetzungsinitiative für die Masseneinwanderungsinitiative wirken …
Der Bundesrat hielt während der Vernehmlassung fest, dass dem nicht so sei. Ein Nein bedeutet nicht, dass man die Personenfreizügigkeit kündigen muss. Nicht abzustreiten ist: Ein Nein wäre nicht einfach zu deuten.

Weil die Initiative aus unterschiedlichsten Gründen abgelehnt werden kann?
Ja. Und das würde zu einer gewissen Absurdität im Abstimmungskampf führen. Man kann Rasa ablehnen, weil man findet: Ich bin zufrieden mit der jetzigen Lösung. Man kann aber auch Nein sagen, weil man will, dass das Parlament Artikel 121a anders auslegt.

Bringt Sie das in ein Dilemma?
Die vielen Deutungsmöglichkeiten bei einem Nein sind sicher etwas, worüber wir bei der Entscheidung, ob wir die Initiative zurückziehen, sehr genau nachdenken müssen. Aber: Es gibt ja drei mögliche Resultate. Die Möglichkeit eines Stände-Neins bei gleichzeitigem Volksmehr ist real. Die demokratische Legitimation von 121a wäre damit weg: Niemand könnte mehr behaupten: Das Volk will den Artikel 121a. Man könnte nur noch sagen: Das Volk wollte ihn mal.

Was für einen Gegenvorschlag bräuchte es?
Es ist ganz einfach: Es braucht eine Garantie, dass die bilateralen Verträge nicht verletzt werden und die Schweiz ihren staatsrechtlichen Verpflichtungen nachkommt.

Was für eine Bedeutung hat für Sie die Personenfreizügigkeit?
Sie ist für mich ein Grundrecht. Das Recht, den Niederlassungsort frei zu wählen, ist entscheidend. Ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen. Da hiess es, die Ostblockstaaten verletzten Menschenrechte, weil die Bevölkerung nicht ausreisen durfte. Aber verletzt man nicht ebenso Menschenrechte, wenn man Menschen nicht einreisen lässt?

Mit der Personenfreizügigkeit werden jedoch die Menschen aus Drittstaaten diskriminiert.
Das wird Europa auch zu Recht vorgeworfen. Aber ich sehe die Personenfreizügigkeit …

… als erste Errungenschaft auf dem Weg zur globalen Bewegungsfreiheit?
Als zweite! Zumindest aus Schweizer Perspektive. Hier war die erste Errungenschaft die Bewegungsfreiheit zwischen den Kantonen. Bis 1973 konnte man Menschen aus einem Kanton in den anderen ausweisen.

Es gab in der Schweiz eine lange Entwicklung hin zu einer offeneren Gesellschaft. Dann kam der Backlash. Glauben Sie, dass jede Generation Menschenrechte und Toleranz wieder neu aushandeln muss?
Ich fürchte, dem ist so. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, wie tief die Menschheit der Barbarei verfallen kann. Für mich geht es also immer um die Frage, wie weit man abrutscht. In der Schweiz ist in den letzten Jahren vieles passiert, was man nicht mehr für möglich gehalten hätte: Minarettverbot, Burkaverbote, die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative. Aber wir haben solche Auseinandersetzungen immer wieder geführt. Denken wir etwa an die Schwarzenbach-Initiative, die 1970 ja nur ganz knapp abgelehnt wurde. James Schwarzenbach war übrigens ein Onkel von mir.

Tatsächlich? Er hätte wohl keine Freude an Ihrem Engagement.
Ich habe auch keine Freude an seinem. Zu seiner Zeit war undenkbar, dass sich ein Italiener einst frei in Europa würde bewegen können. Das müssen wir verteidigen.

Eine Besonderheit der Schweiz ist, dass mit Initiativen immer wieder Widersprüche in der Verfassung geschaffen werden. Bräuchte es also eine Verfassungsgerichtsbarkeit?
Nein. Ich halte es für eine Überforderung des Rechts, das Abdriften in die Barbarei mit Normen verhindern zu wollen. In vielen Staaten hat sich gezeigt: Auch die oberste Instanz kann sich über Bestimmungen hinwegsetzen. Kurz: Ein Verfassungsgericht ist pseudotauglich. Ein demokratischer Staat liegt in der Verantwortung des gesamten Volkes. Man kann diese Verantwortung nicht auf Instanzen abschieben, sondern muss Demokratie immer wieder neu aushandeln.

Viele Staaten sind derzeit mit äusserst knappen Entscheidungen konfrontiert, die fatale Folgen haben. Könnte die Schweiz mit der Annahme von Rasa ein Zeichen setzen?
Eine Fünfzig-Prozent-Gesellschaft stellt ein echtes Problem dar. Denn das bedeutet ja, dass so eine Gesellschaft keine gemeinsamen Vorstellungen mehr hat: eine gefährliche Situation. Würde man einen konsensfähigen Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative finden, käme man in der Schweiz weg von dieser Polarisierung. Das wäre schon ein wichtiges Zeichen.

Thomas Geiser (64) ist Professor für Arbeits- und Handelsrecht an der Universität St. Gallen.