Pop: Das Hirn tanzt in den Beinen

Nr. 19 –

Singen und schlagen: Wie die Zürcher Band JPTR mit ihrem Konzeptpop die Kategorien zerstäubt.

Die Band als queeres Alien: Andrina Bollinger und Ramón Oliveras, verschmolzen zum androgynen Mischwesen. Foto: Olivier Baumann

Klar, man kann es sich auch beim Pop immer einfacher machen als nötig. Wer mit etwas nichts anfangen kann, fährt die umfassende gesellschaftskritische Zeitdiagnose auf, um dann in väterlicher Herablassung über die «Gefühlskälte» der neuen Musik zu urteilen. So lässt sich die gefühlte Kälte praktischerweise als Symptom einer Generation deuten, die «in rauchfreien Clubs sozialisiert worden ist und vermutlich mehr Nächte an Bildschirmen als an Kneipentischen verbracht hat».

Es war Pedro Lenz, der sich mit solchen Worten die neuen Platten von Jeans for Jesus und Lo & Leduc vorknöpfte, vor ein paar Wochen in der «Schweiz am Wochenende». Diese Musiker, so Lenz, «wissen sehr viel über Marktstrategien und Erfolgschancen und dafür etwas weniger über die schöpferische Kraft, die im Unbewussten liegt». Sein Verdikt: «makellose Alben», aber eben, ohne Seele und ohne Körpergeruch. Ist auch kein Wunder bei dieser Generation, die, so die Karikatur des Mundartdichters, lieber Yoga macht und an ihrem Grüntee nippt, wo sie sich doch gefälligst besser in verrauchten Beizen inspirieren lassen sollte.

Vom Jupiter auf die Schweiz schauen

Das klingt vielleicht halbwegs träf, aber jede Kritik ist halt auch nur so bestechend wie die Begriffe, mit denen sie hantiert. Und wie untauglich so eine popkritische Diagnose entlang scheinbarer Gegensätze wie Körper versus Konzept ist, kann man momentan bei einer jungen Schweizer Band erleben, die solche Kategorien so furios zerstäubt, dass einem die Seele im Kopf glüht und das Hirn in den Beinen tanzt. Das Verrückte daran: Sie braucht dafür nur Gesang und Schlagwerk und etwas Elektronik für Verfremdungseffekte und Livesamples.

Die Band nennt sich JPTR (ausgesprochen: Jupiter) und kommt in gewisser Hinsicht noch akademischer daher als die hyperreflektierten Mundartmänner von Jeans for Jesus. Man hört gut, wo JPTR ihre schöpferische Kraft geschult haben: nicht etwa am Kneipentisch, sondern an der (garantiert rauchfreien) Hochschule der Künste. Andrina Bollinger hat in Zürich Jazzgesang studiert, Ramón Oliveras Jazzschlagzeug. Und das elementare Arsenal der beiden tönt auch irgendwie nach Konzeptpapier: kein Harmonieinstrument, nur Stimmen und Schläge, die beiden urtümlichsten musikalischen Ausdrucksmittel des Menschen.

Aber solche Selbstbeschränkung kann ja immer auch Entfesselungstaktik sein. Wie das funktioniert, konnte man am diesjährigen «m4music» erleben, wo auf den Bühnen zeitweise ein unerträglich uniformer Partypop regierte, der vom Publikum den automatischen Nachvollzug der guten Laune verlangte. JPTR durchkreuzten dieses Regime vor einer Wand aus kaltem Neonlicht. Und wie vor ihnen schon die ähnlich aufgestellten Young Fathers aus Schottland (Stimmen! Perkussion!) taten sie das mit einer Musik, bei der man gar nicht wusste, was für ordnende Namen man ihr geben könnte. Bei JPTR klingt sie nach einem posthumanen Stammeskult, und zwar irgendwo in der unmöglichen Schnittmenge von Industrial und R ’n’ B – oder von avantgardistischem Pop und archaischer Disco.

Intuitiv zum Gesamtkunstwerk

Diese Verwischung der Kategorien zelebrieren sie jetzt auch auf dem Cover ihres ersten Albums. Vor pinkem Hintergrund schaut uns da sehr treuherzig ein unbehaartes Menschenkind an: Das sind Andrina Bollinger und Ramón Oliveras, digital verschmolzen zu einem androgynen Mischwesen mit seltsam eckigem Kopf, und auf der Rückseite ragt diesem Alien der Mond aus der offenen Schädeldecke. In der Figur spiegelt sich die Idee, die ihnen beim Album vorschwebte, so erklärt Oliveras: «Die Vorstellung, dass wir als extraterrestrische Wesen auf die Welt schauen.» Und vom Jupiter aus gesehen, schrumpft die Schweiz natürlich zum verschwindend kleinen Punkt.

Nimmt man noch die theoretisch beschlagenen Songtexte und die effektvoll inszenierten Musikvideos dazu, wirkt JPTR erst recht wie ein Projekt vom Reissbrett: Konzeptband mit Drang zum Gesamtkunstwerk! Letzteres würden sie zwar sofort unterschreiben, aber der Weg dahin sei sehr intuitiv verlaufen, so erzählt Andrina Bollinger. Am Anfang sei die Lust an dieser reduzierten Besetzung gewesen, und ausprobiert hätten sie das zuerst an Songs der britischen Band Everything Everything.

«Bloss keine Introspektion!», das sei dann eine ihrer ersten Setzungen in der Band gewesen, ergänzt Olivier Baumann. Der studierte Politologe ist die dritte Hälfte von JPTR: nicht auf der Bühne, aber als Songtexter und Regisseur der Musikvideos. Noch eine Kategorie also, die hier atomisiert wird: Das Duo ist eigentlich ein Trio. Baumann ist das visuelle und begriffliche Gewissen der Band – und er redet im Gespräch auch mehr als die anderen zwei. Zum Beispiel über die Figur des Singer-Songwriter, der allein mit der Gitarre in Alltagskleidern auf der Bühne steht: «Das ist genauso eine Performance. Was er performt, ist eine bestimmte Vorstellung von Authentizität.»

Revolution durchs Megafon

Nichts dergleichen bei JPTR, keine Befindlichkeitsposen, und das ist das Aufregende an ihnen: Aus der Reduktion erschaffen sie einen Kosmos, der gleichermassen roh und hochartifiziell klingt. Und wenn Olivier Baumann im Gespräch mal zu theoretisch wird, bringt sich Andrina Bollinger als Bühnentier in Stellung: «Meine Aufgabe ist es, das Verkopfte aufzubrechen. Ich mache es für die Bühne» – die Sängerin als leibhaftiges Korrektiv. Auf der Platte hört man sie flüstern und rufen, raunen und brüllen, aber oft in vielfacher Verfremdung. Sie klopft an die Festung Europa («Europa»), sie spricht von Kosmologie («Oblivious») und besingt queere Körperpolitik («Polyamorythm»). Und am Ende legt sie mal eben das Ancien Régime in Schutt und Asche: Revolution durchs Megafon.

Und plötzlich taucht da auch ein blitzsauberer Popsong von exakt drei Minuten auf: «Boyfriend», eine queere kleine Sexmusik mit neckischen Handclaps und einem Refrain wie für die Hitparade. Fast etwas verschämt steht dieses Liebeslied weit hinten, an neunter Stelle, aber der Band ist es lieber, wenn man sie nicht zu stark mit diesem «Boyfriend» identifiziert: Sie hätten da einfach herausfinden wollen, ob es möglich sei, nur mit Gesang und Perkussion auch einen «richtigen» Popsong hinzukriegen. Ist es, das wissen wir jetzt.

Was JPTR mit ihrem radikal reduzierten Instrumentarium anstellen, ist hochgradig intellektuell und ungemein physisch: verkopfte Musik für den Körper, hyperagile Körpermusik für den Kopf. Oder wie es in «Master Babe» so treffend vertrackt heisst, einem aufreizend verschleppten Selbstgespräch über Masturbation und Selbstliebe: «My body is ready to lose my mind». Mein Körper ist bereit, meinen Verstand zu verlieren? Besser kann man das Versprechen von JPTR nicht auf den Punkt bringen.

Konzerte: Jazzfestival Schaffhausen, Freitag, 12. Mai 2017; Bee-Flat im Progr, Bern, Sonntag, 21. Mai 2017; Zurich Pride Festival, Zürich, Freitag, 9. Juni 2017.

JPTR: JPTR. Mouthwatering Records. 2017