Biennale in Venedig: Rückfall in die Bohème

Nr. 20 –

Lauwarme Vorspeisen in Venedig: An der grössten und wichtigsten Kunstbiennale der Welt will Kuratorin Christine Macel die Kunst aus den Fängen der Politik lösen – landet dabei aber im 19. Jahrhundert.

Beliebteste Selfie-Kulisse der Biennale: «Escalade Beyond Chromatic Lands» von Sheila Hicks. Foto: Andrea Avezzu, La Biennale di Venezia

Wer hat Angst vor Rot, Grün und Blau? Natürlich niemand. Sheila Hicks’ leuchtende Installation am Ende des Arsenale ist eines der Highlights der 57. Kunstbiennale von Venedig. Kaum jemand verpasste in der Eröffnungswoche die Gelegenheit zum Selfie vor dem Gebirge aus betörend intensiv gefärbten Wollballen, das die US-Künstlerin bis unters Dach der historischen Werfthallen aufgetürmt hat.

So publikumswirksam Hicks’ «Escalade Beyond Chromatic Lands» war, so sehr markiert die Arbeit das doppelte Missverständnis der Schau. Kuratorin Christine Macel präsentiert die 83-jährige Künstlerin in ihrem «Pavillon der Farben». Hicks steht dabei für Interkulturalität, da sie in Lateinamerika und Marokko das Textile für die bildende Kunst wiederentdeckt hat. Macel fackelt sie in Venedig als «Feuerwerk» und als Apotheose der Farbe ab. Diese Biennale krankt an ihrem Kästchendenken und ihrem Unterton des Naiven.

Zurück auf die klassische Schiene

«Ich sehe es als Problem, dass Kunst sehr oft instrumentalisiert und politischen Interessen untergeordnet wird. Das mag ich nicht.» Mit diesem Bekenntnis hatte sich die Kuratorin im Vorfeld positioniert. Nach Okwui Enwezors vollgestopftem Politblockbuster «All the World’s Futures» vor zwei Jahren war schon die Auswahl der 48-jährigen Chefkuratorin des Centre Pompidou als Zeichen gedeutet worden, die Kunst wieder auf die klassische Schiene zu hieven. In Paris war die zurückhaltende Kunsthistorikerin – erst die dritte Frau, die die «Mutter der Biennalen» kuratieren durfte – genau mit derlei stiller Kost aufgefallen: eine gut recherchierte Ausstellung zu Tanz und Kunst, schöne Einzelschauen zu Gabriel Orozco oder Sophie Calle.

«Viva Arte Viva» – schon der Titel, den sie für ihre Ausgabe gewählt hat, schien nach Rechtswende und dem Enthusiasmus von Kunsterziehern oder Industriellengattinnen zu klingen. Und auf ihre leise Weise geht es der Kunsthistorikerin auch um den überfälligen Versuch, den passgenau auf alle Konfliktherde dieser Welt zurechtgeschneiderten Biennalen, allen voran derzeit Adam Szymczyks Documenta in Athen, eine intelligente Alternative gegenüberzustellen. In ihrem Katalogtext fehlt das übliche Zitategeklingel von Giorgio Agamben bis Slavoj Zizek.

Macel hat durchaus Arbeiten jenseits des Biennalemainstreams aus Dokumentarismus, Feldforschung und Agitprop im Angebot: In Hale Tengers Video «Balloons on the Sea» spürt man bei den Luftballons, die auf einer vom Wind sanft bewegten Wasseroberfläche schaukeln und unerwartet platzen, eine untergründige Spannung. Sie könnte am Bosporus, in uns selbst, aber auch anderswo sein. In Peter Millers 16-Millimeter-Film «Stained Glass» genügt ein Schatten, der sich wie ein vibrierendes schwarzes Loch auf der Leinwand abzeichnet, um mit dem eigentlichen Pfund der Kunst zu wuchern: der Mobilisierung der Imagination, dem Vermögen, aus fast nichts etwas Neues zu schaffen. Und in Vadim Fishkins Digitalanimation «Doorway» markiert eine permanent auf- und zuschlagende Tür den flüchtigen Moment vor der Erkenntnis des Unbekannten.

«Kunst zu machen allein, ist ein revolutionärer Akt», findet Macel. Doch statt ihre starke These in einen starken Parcours zu giessen, nagelt sie Kunst und KünstlerInnen wieder auf Inhalte fest, spiesst sie im Arsenale wie in einer Schmetterlingssammlung in neun «Pavillons» auf. Merkwürdigkeiten inklusive: Wenn sie die Obsession des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto mit dem Volk der Huni Kuin am Amazonas im «Pavillon der Schamanen» präsentiert, weil er deren «Sacred Place» in Form seiner charakteristischen Netzskulpturen nachgebaut hat, reduziert sie seine biomorphe Ästhetik auf einen esoterischen Spleen.

Kunst landet im Setzkasten

Die Frage nach der originären Kraft der Kunst beantwortet Macel also mit dem Setzkasten. Aber die Alternative zur Politisierung und dem, was die Kunsthistoriker Anthony Gardner und Charles Green «kuratorischen Narzissmus» nennen, sind nicht Standpunktlosigkeit und der Rückzug auf die Rolle des beflissenen Kellners. Nur um an die Vernissagenplattitüde zu erinnern, dass Kunst «alles kann, nichts muss», hätte es keiner Biennale bedurft.

Macels Versuch, die KünstlerInnen wieder ins Zentrum der Kunst zu stellen, offenbart einen latenten Hang zur Vormoderne. Klar kann man den Künstler als kreativen Müssiggänger deuten. Auf diesen Typus spielt Mladen Stilinovics Fotoserie «Artist at Work» (1978) an, in der sich der 2016 verstorbene Konzeptkünstler aus Zagreb im Bett räkelt. Und Yelena Vorobyevas und Viktor Vorobyevs Installation «The Artist Is Asleep» (1996), wo sich diese Spezies die Bettdecke weit über den Kopf gezogen hat, lässt sich als schönes Gegenbild zum Szenemantra «The Artist Is Present» lesen, dem Marina Abramovic denkwürdigen Ausdruck verliehen hat.

Aber wo Macels Landsleute Luc Boltanski und Ève Chiapello die Künstlerin als weltweit vernetzte Kreativentrepreneurin ihrer selbst und damit als Prototyp des «neuen Geistes des Kapitalismus» ausgemacht haben, da wärmt die Kuratorin das herzerwärmende Klischee vom weltabgewandten Bohémien auf. So hat die US-Künstlerin Dawn Kasper ihr Atelier für drei Monate im Biennalepavillon in den Giardini aufgeschlagen. Zur Spitzweg-Idylle fehlt eigentlich nur der Kachelofen, in dem sie am Ende ihre Entwürfe verbrennt.

Zum Glück gibt es in Venedig noch die Länderpavillons. Sonst als Relikte eines anachronistischen Nationalstaatsprinzips geschmäht, gelingt hier der Kurzschluss zu den drängenden Fragen eher als in Christine Macels beschaulichem Bilderbuch. Im georgischen Pavillon hat Vajiko Chachkhiani für seine Installation «Living Dog Among Dead Lions» ein verwahrlostes Haus, durch das es unablässig regnet, aus seiner Heimat nach Venedig transportiert – eine starke Metapher für die globale Condition humaine.

Die Gemeinschaftsschau «Women of Venice» im Schweizer Pavillon kommt ohne die Showwerte aus, die die Nationalpavillons inzwischen dominieren. Kurator Philipp Kaiser aus Los Angeles wirft hier die Geschlechterfrage im Betriebssystem Kunst auf: Teresa Hubbard und Alexander Birchler erinnern mit einer halb dokumentarischen Filminstallation an Alberto Giacomettis «unterschlagene» Geliebte Flora Mayo, und Carol Bove befragt mit ihren minimalistischen Skulpturen die Formsprache jenes Mannes neu, der es einst ablehnte, seine Heimat in Venedig zu repräsentieren.

Nur der deutsche Kunsthistoriker Martin Roth, kürzlich aus Protest gegen den Brexit als Direktor des Victoria and Albert Museums in London zurückgetreten, fällt aus der Rolle. In dem von ihm kuratierten Pavillon von Aserbaidschan will er mit Elvin Nabizades Installationen aus den unterschiedlichen Musikinstrumenten des Landes die Botschaft «Unity in Diversity» weismachen – doch die Hochglanzbroschüren der Familiendiktatur des 2003 verstorbenen Präsidenten Heydar Alijew lassen die Absicht ins Leere laufen.

Im gläsernen Hundezwinger

Wie ein Stromschlag trifft einen dagegen Anne Imhofs Inszenierung «Faust» im deutschen Pavillon. Die Künstlerin hat den problematischen Nazitempel mit Stahlzäunen in eine Mischung aus Lager, Zwinger und Sadomaso-Club verwandelt, unter dessen Glasböden ruhelos Dobermänner umherstreunen – eine Performance zwischen Angst, Ausgrenzung und Lust. Allein das mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Werk stellt Macels braven Parcours in den Schatten.

Dass die freundliche Kuratorin der Biennale und der Kunst die «neuen Energien» zugeführt hätte, die sich Biennale-Präsident Paolo Baratta kurz nach ihrer Berufung erhofft hatte, wird man nach dieser Schau nicht sagen können. Dazu hängt Macel zu sehr an gut abgehangenen Klassikern wie dem 77-jährigen Franz Erhard Walther, der für seine partizipativen «Handlungsobjekte» auch einen Goldenen Löwen abstaubte. Die Mehrheit der von ihr versammelten KünstlerInnen ist übrigens von weisser Hautfarbe. Und wer nur von Macels gemischtem Teller mit lauwarmen Vorspeisen kostet, wird ihr nicht abnehmen, dass die Kunst das «Leben selbst in Zeiten der globalen Unordnung umarmt».

Eher schaut man in die Welt zurück wie eine der gut tausend Masken, die Bernardo Oyarzùn im chilenischen Pavillon aufgestellt hat, um an das Schicksal der Mapuche zu erinnern, deren Kultur die chilenische Regierung einst auszulöschen versuchte. Die auf Stahlstelen gespiessten Gesichter im unregelmässigen Rund stehen in einer stummen Phalanx aus Trauer und Entsetzen.

«Viva Arte Viva. Biennale di Venezia». Bis 15. November 2017.