Jean Ziegler: Die sanfte Gewalt der Vernunft

Nr. 20 –

Die Uno muss die Welt besser ordnen: Das beschwört Jean Ziegler in seinem neusten Buch eloquent. Die Kritik an diesem Unterfangen ist ihm geläufig, doch rettet er sich vor der Resignation in die spirituell begründete Hoffnung auf die Vernunft.

Bevor er nach Genf zum Menschenrechtsrat der Uno eilt, findet er Zeit für ein längeres Telefongespräch. «Wir stehen heute vor einer Wahl», sagt Jean Ziegler, «entweder stärken wir die Uno als zivilisatorisches Instrument, oder sie fällt langsam auseinander.» Die Weltorganisation liegt ihm am Herzen. Im Buch «Der schmale Grat der Hoffnung» verarbeitet er jetzt vor allem seine Erfahrungen ab dem Jahr 2000 als Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und als Experte des Uno-Menschenrechtsrats.

Ziegler beginnt seine Erzählung mit einer Niederlage. Für den Menschenrechtsrat sollte er einen Bericht und Empfehlungen zu den sogenannten Geierfonds präparieren. Diese spekulativen Investitionsfonds kaufen herabgestufte und umgeschuldete Schuldtitel von Drittweltstaaten billig auf und klagen sie zum vollen Preis ein. In den letzten Jahren haben ihnen unternehmensfreundliche Gerichte in den USA und Britannien öfter recht gegeben. So mussten arme Staaten wie Malawi, die Demokratische Republik Kongo, Sambia oder Peru horrende Summen zur Schuldentilgung aufwenden.

Ab 2003 verweigerte allerdings Argentinien trotz juristischer Niederlagen die Auszahlung an Geierfonds. 2014 lancierte die Regierung von Cristina Kirchner einen Antrag im Uno-Menschenrechtsrat, zu prüfen, inwiefern die Praktiken der Geierfonds Menschenrechte verletzten. Doch während Jean Ziegler einen entsprechenden Bericht vorbereitete, errang in Argentinien eine konservative Regierung die Macht, ersetzte den Uno-Delegierten und zog den Antrag zurück. Zwar liegt der Bericht vor und kann zur Aufklärung gebraucht werden. «Aber das ist natürlich nicht das Gleiche, wie wenn daraus eine Völkerrechtsnorm entstanden wäre», klagt Ziegler am Telefon.

Weg mit dem Veto!

Trotz dieser Niederlage im politischen Gestrüpp bleibt die Uno Zieglers grosse Hoffnung. Sein Buch erzählt von zahlreichen Missionen der Uno und ihrer Unterorganisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Internationalen Arbeitsamt (ILO) oder dem Welternährungsprogramm. Das ist öfter autobiografisch fundiert: was Jean Ziegler so alles erlebt hat, mit welchen wichtigen Leuten er zusammengetroffen und wie sein Rat gesucht worden ist. Aber eine gewisse Egozentrik darf man ihm nachsehen, wie auch gelegentliche Wiederholungen und Pauschalisierungen. Denn Ziegler hat tatsächlich interessante Dinge zu berichten, von seinem ersten Uno-Engagement in Katanga 1961/62 bis heute.

Gegen eine «imperiale Strategie», wie sie etwa Henry Kissinger für die USA legitimiert hat, setzt Ziegler bedingungslos auf eine multilaterale Politik. Die nach dem Sieg über den Faschismus entworfene Nachkriegsordnung habe drei Pfeiler umfasst: globale soziale Sicherheit für alle Menschen, Respektierung der Menschenrechte, kollektive Sicherheit zwischen den Staaten. «Doch alle drei Säulen sind geborsten», weiss er.

Eine zentrale Ursache für die Schwäche der Uno sieht er im Vetorecht für die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. «Russland blockiert friedenssichernde Massnahmen in Syrien, China im Südsudan und die USA in Palästina», sagt Ziegler im Gespräch. Er greift deshalb auf Reformvorschläge des ehemaligen Uno-Generalsekretärs Kofi Annan zurück.

Der erste Vorschlag, den Ziegler auch im Buch skizziert, ist einfach: Weg mit dem Veto! Ist das realistisch? Ziegler glaubt, oder hofft, dass sich die Vetomächte gegenseitig deblockieren. Die durch den ungelösten Syrienkrieg gestärkten DschihadistInnen hätten mittlerweile Anschläge in die Herzen der Vetomächte getragen; so liege es im ureigenen Interesse der Grossmächte, die Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat und die weltweiten Flüchtlingskrisen durch multilaterale Aktionen zu bewältigen. Ziegler sieht dafür «ermutigende Zeichen bei der Uno in New York und Genf, wie auch in einzelnen Hauptstädten» – Bestrebungen, die jetzt durch zivilgesellschaftliche Aktionen unterstützt werden müssten. Aber das scheint doch arg hoffnungssüchtig.

Die «Armee des Friedens»

Aus den Erfahrungen des Völkerbunds, der Vorläuferorganisation der Uno, die in den dreissiger Jahren scheiterte, zieht Ziegler den Schluss, dass die Uno mit Sanktionsmitteln ausgestattet werden müsse – bis hin zu militärischen Einsätzen. Die Uno-Blauhelme sind für Ziegler «die internationale Armee des Friedens». Dass sie diese Funktion zur Friedensschaffung und Friedenssicherung nur unzulänglich erfüllen, hat auch strukturelle Ursachen. Die Uno-Kontingente stammen zumeist aus Drittweltländern, ihre Einsätze werden mit Pauschalsummen an die entsprechenden Regierungen abgegolten. Für einige Staaten sind sie zum lukrativen Geschäft geworden. Ziegler ist überzeugt, dass «die Hälfte dieser Gelder versickern und gestohlen werden»; entsprechend sind Ausbildung und Ausrüstung der Blauhelme zuweilen ungenügend. Deshalb müsste die Uno die direkte Verantwortung übernehmen: alle Kosten direkt begleichen, die Truppen dem Uno-Generalstab unterstellen und auch westliche Armeen einbeziehen. «Das ist», weiss er, «in vielen Industrieländern eine unpopuläre Forderung, aber sie muss durchgesetzt werden.»

Wenn er beklagt, wie Hilfsaktionen etwa des Welternährungsprogramms am mangelnden Geld scheiterten, kann Ziegler die Zahlen herunterspulen, mit denen sich solche Defizite beheben liessen: all die globalen Steuerhinterziehungen und schamlosen Plünderungen durch transnationale Firmen, Oligarchen oder GeierfondsmanagerInnen. Und er beschreibt erhellend, wie nach der Zulassung von NGOs als Zeugen vor der Uno plötzlich sogenannte Gongos («government organized non-governmental organizations») aus autoritären Staaten aufgetaucht sind, die als Claqueure eingesetzt werden.

Der hoffnungsvolle Sprung

So kennt Jean Ziegler die Schwächen seines Modells. Unverbrüchlich aber bleibt der Glaube an die «sanfte Gewalt der Vernunft». Immer wieder tut sich ein Spalt auf zwischen Forderung und Realität, den er hoffnungsfroh überspringt. Auch die Einsicht in die systemische Gewalt kann das Vertrauen in die grossen charaktervollen Führungsfiguren, Diplomaten und Aktivistinnen nicht beschädigen.

Hoffnung statt Resignation: Das begründet Ziegler existenziell und spirituell. Der Gedanke an den eigenen Tod, so schreibt er, jage ihm Furcht und Schrecken ein. Doch der Tod verleihe jeder Handlung zugleich ihre unvergleichliche Würde und jedem Augenblick, der verstreiche, seine Einzigartigkeit. Ja, die Todesfurcht nutzt er calvinistisch: «Daher gilt es, jeden Tag ein Maximum an Sinn, Gedanken, Wörtern und Handlungen hervorzubringen, damit das Bewusstsein dem Nichts im Augenblick des Todes ein Höchstmass an Sinn entgegenzusetzen hat», begründet der 83-Jährige seine unermüdliche Aktivität.

2016 ist Jean Ziegler als einer von drei westlichen ExpertInnen im achtzehnköpfigen Beirat für den Menschenrechtsrat bestätigt worden, bis 2019 amtet er als Vizepräsident des Beirats. Gegenwärtig sitzt er an einem Bericht über die Annullierung von Staatsschulden, die in illegitimer Form eingegangen wurden. Der Bericht soll im September abgeschlossen werden. Es braucht Jean Ziegler weiterhin, so wie die Hoffnung.

Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. C. Bertelsmann Verlag. München 2017. 320 Seiten. 29 Franken