Abgewiesene jüdische Flüchtlinge: Zahlenstreit ums Unfassbare

Nr. 23 –

«Auschwitz hat eine Statistik, aber es hat keine Erzählung», so der Historiker Dan Diner in seinem Buch «Beyond the Conceivable» (Jenseits des Vorstellbaren). Die industrielle Massenvernichtung der europäischen JüdInnen habe dem Ereignis jegliche Erzählstruktur genommen. Die Zahl der sechs Millionen Opfer stehe für das Fehlen dieser Erzählung, und das Anzweifeln der Zahl bedeute nicht so sehr eine möglichst exakte Wahrheitssuche als vielmehr eine codierte Hinterfragung des Ereignisses an sich.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Zahlendiskussion über die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg zu lesen, wie sie im Dreijahrestakt durch die rechtsnationale «Weltwoche» lanciert wird, diesmal aus Anlass der Präsentation der Dissertation von Ruth Fivaz-Silbermann in Genf. Eine genaue Annäherung an die Zahl der Menschen, die von der Schweiz an das NS-Regime ausgeliefert wurden, bleibt unbestritten ein Forschungsthema. Doch die angestrengte Hinterfragung der Zahl kann auch den Eindruck erwecken, man wolle die Flüchtlingspolitik nicht in ihrer Totalität zur Kenntnis nehmen.

Die bisherige Forschung zur Zahl der Abgewiesenen war immer eine Suchbewegung, weil viele Akten fehlen, nie geschrieben oder systematisch vernichtet wurden. So waren Carl Ludwig für seinen Bericht an den Bundesrat 1957 noch 10 000 abgewiesene Flüchtlinge namentlich bekannt, eine entsprechende Registratur wurde nach der Publikation zerstört. In der bisher umfassendsten Studie von 1996 kam Guido Koller auf rund 24 500 Wegweisungen, die Zahl wurde von der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) 2001 wegen möglicher Doppelzählungen leicht vorsichtiger übernommen. Koller wie die Kommission vermerkten deutlich, dass nicht nur JüdInnen weggewiesen wurden.

Ruth Fivaz-Silbermann will nun nachweisen, dass maximal 4000 JüdInnen an der Schweizer Grenze abgeschoben wurden. Die Refoulements an der französischen Grenze kann sie in der Dissertation, die der WOZ vorliegt, dank ungeheurer Arbeit annähernd dokumentieren. Für die italienische und die deutsche Schweiz spekuliert sie. Die Berechnung sei schwer nachvollziehbar, kritisiert der Historiker Jakob Tanner, damals Mitglied der UEK. «Eine Extrapolation von einzelnen Grenzabschnitten auf die gesamte Schweiz ist nicht möglich, weil die Zustände regional und kantonal sehr unterschiedlich waren.» Auch Tanners Historikerkollege Jacques Picard spricht von einer «nicht nachvollziehbaren, intransparenten und abenteuerlich anmutenden Methodik». Beide loben hingegen die Darstellung der Einzelfälle, die neue Erkenntnisse über den Weg der Flüchtlinge in die Schweiz lieferten.

Wie die jüngere Forschung zeigte, reagierten die Schweizer Behörden auf die Verfolgung der JüdInnen nicht mit einer neuen Flüchtlingspolitik. Vielmehr verlängerten sie ihre antisemitisch grundierte Abwehr der «Überfremdung», die bereits 1917 mit der Fremdenpolizei institutionalisiert wurde, in den Zweiten Weltkrieg hinein. Mit jeder Stufe der nationalsozialistischen Verfolgung, die 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte begann, reagierten sie mit einer Verschärfung der Grenzkontrolle. Wenn Fivaz-Silbermann nun behauptet, Heinrich Rothmund als Chef der Fremdenpolizei sei gar nicht antisemitisch gewesen, sondern die «Inkarnation des menschlichen Gewissens», wird ihre Argumentation widersinnig: «Wir haben nicht seit zwanzig Jahren gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen», notierte Rothmund 1939.

Was mögen die Motive der Polemik sein? Fivaz-Silbermann greift in ihrer Dissertation wie auch öffentlich die UEK an. Indem sie diese als linkslastig diskreditiert, obwohl zahlreiche bürgerliche HistorikerInnen mitarbeiteten, erscheint sie selbst als einzige neutrale Instanz. Die «Weltwoche» nahm die Spekulationen dankbar auf und meinte im Ton der Erregung, das Bild der Schweiz im Zweiten Weltkrieg könnte revidiert werden. Der enge Fokus auf die Zahlen aber hat seine paradoxe Wirkung entfaltet: Die abschreckende Wirkung der Schweizer Flüchtlingspolitik, die vielen Tausend Menschen das Leben kostete, wird durch Fivaz-Silbermann ja im Detail bestätigt, mit allen drängenden Fragen für die Gegenwart.