Helmut Kohl (1930–2017): Fürs Vaterland und die Menschen da draussen

Nr. 25 –

Der pragmatische Konservative Helmut Kohl regierte Deutschland sechzehn Jahre lang – im Stil eines Patriarchen. Aussenpolitisch setzte der hünenhafte CDU-Politiker auf Entspannung und forcierte die Einführung des Euro.

Helmut Kohl war ein Vollblutpolitiker, das ist an seinen Lebensstationen abzulesen: Bundesvorsitzender seiner Partei, der CDU, war er von 1973 bis 1998. Am 1. November 1982 wurde Kohl, geboren 1930, zum ersten Mal zum Kanzler gewählt. Erst viele Jahre später, bei der Bundestagswahl 1998, wurde er von der SPD, angeführt von Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, geschlagen. Eine ganze Generation war aufgewachsen und kannte nur einen Kanzler; so wie es heute vielen mit Kanzlerin Angela Merkel geht, einst als «Kohls Mädchen» belächelt.

Kohl war oft der Jüngste gewesen: im Alter von 33 Jahren CDU-Fraktionsvorsitzender im Landtag von Rheinland-Pfalz, mit 39 Jahren Ministerpräsident dieses Landes, dann der jüngste Bundeskanzler der Nachkriegszeit.

Die Einschätzung, dieser Mann sei nicht ernst zu nehmen, war lange weitverbreitet. Wissenschaftler, die über die Typologie von Politikern arbeiteten, meinten damals, der Erfolg von jemandem wie Kohl liege in seiner überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit.

In den letzten Jahren war Helmut Kohl – seit 2008 im Rollstuhl, gezeichnet von Krankheiten und Alter – nicht mehr anzusehen, wie er einst aufgetreten war, auf Kundgebungen oder in kleineren Runden: Da stürmte ein Hüne heran, über hundert Kilogramm auf 193 Zentimeter verteilt, dessen Präsenz schon von seinem Machtwillen kündete. Die schiere Masse war Angriffspanzer und Schutzschild zugleich.

Es ging ihm stets um Macht, sie wollte er erringen und bewahren. Das ist ihm gelungen. Sie zu verteidigen, da waren ihm auch viele bedenkliche Mittel recht.

Macht war ihm jedoch nie Selbstzweck. Helmut Kohl verfolgte zwei Linien: Europa muss zur politischen Einheit werden. Und: Kein Krieg und möglichst viel Entspannung.

Der CDU Debatten aufgezwungen

Das Projekt Europa trieb er voran. Wann immer ein Schritt in Richtung Union zu scheitern drohte und die Zustimmung mit einer Erhöhung von EU-Subventionen erkauft werden konnte, mobilisierte er die nötigen Ressourcen. Kohl zwang seiner CDU Debatten über die «Vereinigten Staaten von Europa» und europafreundliche Beschlüsse auf. Positionen, die wenig Zustimmung in der eigenen konservativen WählerInnenschaft fanden.

Helmut Kohl hielt Deutschland aus dem ersten Krieg der USA gegen den Irak heraus. Bis zuletzt setzte er auf Entspannung: In seinem 2014 erschienenen Buch über Europa betonte er, dass auch Russland politisch einbezogen werden müsse, denn ohne Moskau werde es nie einen stabilen Frieden in Europa geben.

Die Wiedervereinigung war Thema seiner Reden, jedoch nie in seiner operativen Politik, auch wenn er es gerne anders darstellte. Als der DDR-Sozialismus 1989 jedoch ins Taumeln geriet, setzte er die Wiedervereinigung, ohne Absprache mit den westlichen Partnern, mit einem «Zehn-Punkte-Plan» auf die Tagesordnung. Aber er wollte dabei nicht dem Projekt Europa schaden. Deshalb trieb er die Einführung des Euro voran – als Signal, dass sich auch das wiedervereinigte Deutschland in Europa einbinden lassen würde. Die neue Währung gegen Vorbehalte der Bevölkerung durchzusetzen und gegen Bedenken der ÖkonomInnen, war eine Herkulesarbeit; die wirtschaftlichen Folgen, die seit der Finanzmarktkrise in ihrer Dramatik an den Tag treten, waren für Kohl nie ein Thema.

Hardliner und Modernisierer zugleich

Helmut Kohl konnte aussenpolitisch aber auch ein Hardliner sein. So weigerte er sich viele Jahre, die Grenzen zu Polen völkerrechtlich abschliessend verbindlich anzuerkennen, weil er die Vertriebenenverbände nicht vergraulen wollte. Andererseits empfing er 1987 – aller Kritik aus konservativen Kreisen zum Trotz – den damaligen SED-Vorsitzenden Erich Honecker in Bonn mit allen protokollarischen Ehren für ein Staatsoberhaupt.

Als Parteichef war er Modernisierer. So liess er in den achtziger Jahren den CDU-Generalsekretär Heiner Geissler öffentlich Konzepte einer multikulturellen Gesellschaft verhandeln. Ein paar Jahre später schaffte sein damaliger Innenminister Wolfgang Schäuble das Grundrecht auf Asyl faktisch ab. Mitte der Achtziger veranstaltete seine CDU einen Parteitag zur Emanzipation der Frau. Dennoch standen für ihn Kindersegen und die Frau als Hausfrau und Mutter eindeutig höher im Kurs.

Helmut Kohl war pragmatisch-konservativ und kein Marktradikaler. So griff er zwar die Gewerkschaften an, liess aber nie das Projekt Sozialstaat fallen; die Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die zu seiner Zeit auch regierten, war nie die seine. Das, was sein Nachfolger Gerhard Schröder bewerkstelligte – die Altersversorgung teilprivatisieren, einen Niedriglohnsektor einführen, die Finanzmärkte «entfesseln» –, wäre ihm vermutlich nie in den Sinn gekommen.

Die «Sozen» wurden bekämpft

Es gelang Helmut Kohl, in sechzehn Jahren Kanzlerschaft für das (Klein-)Bürgertum als Hort der Sicherheit zu erscheinen. In diesen Kreisen wirkten auch seine Reden, die ein Thema für sich sind: Inhalte vernebelnd, die ZuhörerInnen schwindlig redend, mit langen Girlanden aus Allgemeinplätzen über Werte, Vaterlandsliebe, Pflicht, Geschichte und «die Menschen draussen im Lande».

Für Helmut Kohl gab es in der Politik entweder Freunde oder Feinde. Zu Letzteren zählten die SozialdemokratInnen; sein Respekt vor Willy Brandt war die Ausnahme. Die «Sozen» wurden bekämpft. Wie auch die innerparteilichen GegnerInnen. PolitikerInnen, die erst Gefolgsleute waren, später aber zu KritikerInnen oder gar KonkurrentInnen wurden, wie Kurt Biedenkopf, Lothar Späth, Rita Süssmuth und Heiner Geissler, die stellte er nicht nur kalt: Zum Sieg über sie gehörte für ihn oft noch die Demütigung.

Helmut Kohl führte seine Partei als Patriarch. Über viele Jahre wob er ein Netzwerk, das auf Abhängigkeiten basierte. In seinem berüchtigten kleinen Adressbuch hatten auch Kreis- und Ortsvorsitzende Platz; ein überraschender Anruf zum Geburtstag, das gehörte zu seiner täglichen Arbeit am Machterhalt.

Ein Lebensabend voller Tragödien

In diese Welt passte auch die Spendenaffäre, die nach seiner Kanzlerschaft an die Oberfläche trieb. Kohl hatte jahrelang illegal Spenden für die «Kriegskasse» seiner Partei eingesammelt. Er weigerte sich, die Namen der SpenderInnen zu nennen; es ging um Zuwendungen in Höhe von damals 2,1 Millionen Mark. Die Loyalität gegenüber den SpenderInnen stellte er über das Recht.

Von Tragödien war in den letzten Jahren sein Privatleben geprägt. Nach dem Suizid seiner Frau Hannelore überwarf er sich mit seinen Söhnen Peter und Walter. 2009 heiratete er die einstige Regierungsbeamtin Maike Richter; ihr wird nachgesagt, sie habe zuletzt sein Handeln wesentlich beeinflusst. Vergangenen Freitag ist Helmut Kohl im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Ludwigshafen gestorben.