Politik der Kunst: Eine Frage des offenen Blicks

Nr. 26 –

Die politische Kunst prägt die Documenta und überhaupt das Superkunstjahr 2017, aber sie bleibt dabei so offensichtlich wie erfolglos. Zeit also, die Formfrage in der Kunst neu zu stellen.

«Sie haben dieses Bild gemalt, nicht ich.» Als die kurdische Feministin und Künstlerin Zehra Dogan vergangenes Jahr vor Gericht gefragt wurde, ob sie Bilder von vom türkischen Militär zerstörten Häusern in der kurdischen Region mit türkischen Flaggen übermalt habe, antwortete sie wie einst Pablo Picasso, als ihn ein deutscher Soldat in Paris gefragt hatte, ob er «Guernica» gemalt habe. Diese Ikone der politischen Kunst bannt die Zerstörung der baskischen Stadt durch die Legion Condor der deutschen Luftwaffe im Jahr 1937 auf ein Bild.

Dogan, 1989 in Diyarbakir geboren, wurde inzwischen zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Ihre Arbeit ist nicht das einzige Beispiel, das die staunenswerte Renaissance von Picassos Idee von Kunst als «Waffe zu Angriff und Verteidigung gegen den Feind» belegt. Kaum eine der fast 200 Biennalen auf der Welt, die sich nicht als mehr oder weniger geharnischtes politisches Statement gegen eine ungerechte Welt positioniert.

Und auch sonst kommt die Kunst heute «engagiert» daher. Die riesigen Fahnen, Symbole der Macht und des Patriotismus, von der britischen Künstlerin Phyllida Barlow ohne Aufschrift und so dicht aufgestellt, dass sich die Gäste der «Unlimited»-Sektion der letzten Art Basel nur hindurchzwängen konnten, sind noch der übliche Tribut des Markts an den vermuteten politischen Zeitgeist.

Im Teufelskreis der Ohnmacht

Von der Aktion «Flüchtlinge fressen» des Berliner Zentrums für Politische Schönheit bis zu Olafur Eliassons von Asylsuchenden im Biennale-Pavillon in Venedig gebauter Solarlampe «Green Light» – an allen nichtkommerziellen Ecken und Enden spriesst die Kunst, die gern direkt politisch werden will.

Darin lässt sich unschwer ein Nachhall von Artur Zmijewskis Dogma vom «künstlerischen Pragmatismus» erkennen. Als Kurator der umstrittenen Berlin-Biennale 2012 hatte der polnische Videokünstler seine KollegInnen ebenso überraschend wie pauschal als HandlangerInnen des neoliberalen (Kunst-)Systems angegriffen. Kunst müsse endlich aus dem «Teufelskreis der kreativen Ohnmacht» ausbrechen. «Die eingeschränkte Vorstellungskraft» von Künstlern und Kuratorinnen schaffe es bis heute nicht, «die Schwelle hin zu echten Taten zu überschreiten».

Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera Fernández, eine der HauptakteurInnen dieser Bewegung, erklärt in ihrer «Introduction to Useful Art», ganz im Geist der Avantgarden, Leben und Kunst zu versöhnen: «Zu lange haben wir die Geste der Französischen Revolution zum Inbegriff der Demokratisierung der Kunst gemacht. Wir müssen nicht den Louvre betreten oder die Schlösser, sondern die Häuser der Menschen, ihr Leben. Dort muss nützliche Kunst sein.» Ins Visier der kubanischen Regierung war Bruguera geraten, als sie bei einer Kunstaktion im Rahmen der Havanna-Biennale die Leute in der Hauptstadt aufgefordert hatte, auf der Plaza de la Revolución ihre Hoffnungen zur Zukunft des Landes öffentlich ins Mikrofon zu sprechen. «Artivism» nennt sie programmatisch diese neue Fusion von Kunst und Aktion.

Arbeiter als Schoggiskulptur

Eines der spektakulärsten, aber umstrittensten Beispiele für das Praktischwerden von Ästhetik sind die Skulpturen aus Schokolade, die der niederländische Künstler Renzo Martens in seinem «Institute for Human Activities» auf einer ehemaligen Unilever-Plantage im kongolesischen Regenwald von Plantagenarbeitern herstellen lässt. Diese formen Selbstporträts aus Ton, die Skulpturen werden als 3D-Modell eingescannt, die entstandene Datei per E-Mail nach Europa geschickt, das Modell in Schokolade gegossen und in Europa ausgestellt und verkauft.

Eine gewisse Verwandtschaft zu diesem neuen «Pragmatismus» hatte auch Documenta-Chef Adam Szymczyk zu erkennen gegeben, als er den damaligen deutschen Aussenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier kritisierte, der von der Documenta als «künstlerischer Brücke zwischen Deutschland und Griechenland» sprach. Das war 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im griechischen Lager Idomeni, und Szymczyk entgegnete, die Documenta 14 möge «in der Tat dazu beitragen, eine Brücke zu bauen – und zwar die politische Brücke, über welche die Flüchtlinge, die ein sicheres Zuhause in Europa finden müssen, gehen können».

Diktatur, Ökozid, globale Armut, Flucht und Vertreibung – so wie uns der Globus derzeit um die Ohren fliegt, ist es natürlich wichtig, dass Peter Weiss’ «Ästhetik des Widerstands» wiederbelebt wird, dessen 100. Geburtstag im vergangenen Jahr eher lustlos gefeiert wurde. «Was, wenn Sie in einer Diktatur leben?» So fragte kürzlich Beral Madra, die nach einer Rufmordkampagne der regierenden AKP als Kuratorin der Canakkale-Biennale geschasste Grande Dame der türkischen Kunstszene, einen Kritiker, der das Diktum von der «Kunst als Waffe» als nicht mehr zeitgemäss abtat. Doch gerade weil der politische Druck auf die Kunst derart zunimmt, sollte stets neu gefragt werden: Was bewirkt diese Waffe wirklich? Und: Was bedeutet sie für die Kunst?

Der Geist des Widerstands

Denn es ist ja offensichtlich: Picassos «Guernica» im Vorraum des Uno-Sicherheitsrats in New York hat die Bombardierung Bagdads 2003 nicht verhindert, die Documenta in Athen nicht das neuerliche Spardiktat der internationalen Griechenlandgläubiger. Wie zum Hohn auf den Geist des Widerstands, den die Documenta mit ihrem «Parliament of Bodies» vor Ort ausbreitete, übernahm die Frankfurter Firma Fraport kurz nach der Eröffnung der Schau vierzehn griechische Regionalflughäfen von der Privatisierungsgesellschaft, über die der griechische Staat sein infrastrukturelles Tafelsilber verscherbeln muss.

Gegen Manöver dieser Dimension müssen die sechzig kostenlosen «Kunstmahlzeiten», die der pakistanisch-britische Künstler Rasheed Araeen täglich in einer Blockhütte auf Athens Kotzias-Platz verteilt, nachgerade sarkastisch wirken. Und vermutlich wird auch der graue Obelisk des ghanaischen Künstlers Olu Oguibe auf dem Kasseler Karlsplatz die deutsche Flüchtlingspolitik nicht ändern – auch wenn das in goldenen Lettern auf Deutsch, Türkisch, Englisch und Arabisch eingravierte Zitat aus dem Matthäusevangelium «Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt» den protestantischen NordhessInnen vertraut vorkommen dürfte und tägliche Hunderte zum Selfie einlädt.

«If art doesn’t do politics today, who does?», fragte kürzlich der niederländische Philosoph, Kunstpublizist und derzeitige Documenta-Ko-Kurator, Dieter Roelstraete, StudentInnen der Frankfurter Kunsthochschule Städel. Damit wiederholte er genau dieses vom grossen Schamanen Joseph Beuys inspirierte Missverständnis, das eine müsse im anderen aufgehen. Doch kann es der Kunst auf Dauer bekommen, die Leerstellen progressiver Politik zu füllen?

Maiskolben als Goodwillsignal

Noch dazu, wenn der ästhetische Ertrag oft dürftig ist. Wer auf dem Kasseler Friedrichsplatz vor Marta Minujíns riesigem Skelettgerüst, dem «Parthenon of Books», mit den eingeschweissten, einst oder aktuell verbotenen Büchern steht, spürt plötzlich, wie zwei Welten ineinanderfliessen, die sonst getrennt sind durch nationale Stereotype, wechselseitige Projektionen und politische Konflikte. Doch die ortsspezifische Neuauflage der Arbeit, mit der die argentinische Künstlerin 1983 in Buenos Aires an die Zensur unter der Militärjunta erinnert hatte, ist ähnlich plakativ wie ihre Performance in Athens Museum für zeitgenössische Kunst (EMST) wenige Monate zuvor.

Dort übergab Minujín einer Doppelgängerin Angela Merkels 400 Kilogramm Oliven und tilgte so symbolisch die Schulden Griechenlands an Deutschland. Eine schwache Reprise ihrer Arbeit von 1985, als sie ihrem Freund Andy Warhol die Schulden Lateinamerikas mit Maiskolben «zurückzahlte»: Zu sehr fotogenes Goodwillsignal, als dass sie die genormte Wahrnehmung aufbrechen konnte, wie das gute Kunst zuallererst leistet. Mehr als das Offensichtliche geben die Aktionen nicht her. Wäre es also nicht an der Zeit, sich auf die Kernkompetenzen der Kunst zu besinnen?

Auf der letzten Documenta liess der britische Künstler Ryan Gander einen unsichtbaren Luftzug durch die Eingangshalle des Fridericianum wehen, um die «Türen zu einer völlig neuen Welt» aufzustossen. Zur Eröffnung der Nachfolgeschau fünf Jahre später forderte nun Documenta-Chef Szymczyk überraschend vehement das «Unlearning» fester Glaubenssätze ein. Doch Kunst, die derart auf das Absichtslose, Offene, Nichtvorhersehbare setzt wie Gander mit seiner sanften Brise, muss man jetzt mit der Lupe suchen.

Revolution beginnt in der Form

Welche Wege «engagierte Kunst» heute gehen könnte, symbolisiert paradigmatisch Wolfgang Tillmans. Mit seiner Anti-Brexit-Plakatkampagne «No man is an island. No country for itself» wandelte der deutsche Fotograf, dem die Basler Fondation Beyeler gerade eine grosse Retrospektive widmet, vergangenes Jahr auf den Agitpropspuren von John Heartfield und Klaus Staeck. Näher kommt der Turner-Prize-Träger seinem Ziel des «offenen, angstfreien Blicks» womöglich aber mit dem Bild «Weak Signal» von 2014, das vor ein paar Jahren auch auf der Berlin-Biennale zu sehen war. Von weitem scheinbar schwarzweiss, wie ein flimmernder Bildschirm um Mitternacht, leuchtet das Digitalfoto aus der Nähe plötzlich wie ein intensiv farbiges Bild. Mit diesem schwer entzifferbaren Störbild gelingt, worum es auch Adam Szymczyk gegangen sein will: «Dinge sichtbar zu machen, die vorher weniger sichtbar waren.»

Was also ist politischer: die ästhetische Anklage wie etwa in Banksys Kitschgraffito des weinenden Mädchens in einer Gaswolke in London, das in der Musicalästhetik von «Les Misérables» auf die Schicksale in einem Flüchtlingslager anspielt, oder doch die Befähigung zum kritischen Sehen? Wenn Kunst es schafft, die Parameter der Wahrnehmung nachhaltig zu ändern, wäre das womöglich die grössere Revolution, als die Schlechtigkeit der Welt zu entlarven. Diese Revolution ist zuallererst eine Frage der ästhetischen Form und nicht der politischen Aussage von Kunst. Womöglich ist es auch ein Zeichen für unsere sich verfinsternden Zeiten, wenn das Beharren auf dem Kriterium der gelungenen Form gleich als Verrat an den kritischen Intentionen der Kunst aufgefasst wird.